Kardinal Königs Gedanken wiesen immer in die Zukunft. Das Thema "Europa" hatte ihn schon seit langem beschäftigt. 1983 hatte er gemeinsam mit Karl Rahner einen Sammelband unter dem Titel "Europa – Horizonte der Hoffnung" herausgegeben, der namhafte Autoren von Kardinal Ratzinger bis Leszek Kolakowski und Richard von Weizsäcker versammelte.
In seinen letzten Lebensjahren unterstützte er in vielen Reden und Beiträgen den Prozess der europäischen Einigung, immer unter Hinweis auf die christlichen Wurzeln, das christliche Erbe Europas und seine Verantwortung für die Zukunft der Menschen:
"Heute müssen wir uns fragen: 'Wie weit sind wir, als Europäer und als Christen bereit, nicht nur Verwalter der Vergangenheit, sondern auch Gestalter der Zukunft zu sein?' – Die Bauleute eines neuen Europas, eines neuen 'Hauses Europas', pochen bereits seit einiger Zeit auch an unsere Türen. Viele kommen und sagen uns: Man sollte, man müsste...; es gibt viel Interesse, viel Hoffnung, viel guten Willen, aber nur wenige sind es, die an sich selbst Hand anlegen wollen und nicht nur Appelle an andere richten. Es genügt nicht, die wichtigen Probleme eines gemeinsamen Marktes in Europa zu diskutieren; Europa braucht vielleicht mehr noch ein gemeinsames Konzept, um die Vielfalt in der Einheit zu erkennen, und in der Einheit die Vielfalt nicht zu unterdrücken, - mit anderen Worten: Europa braucht ein geistiges Antlitz."
Und weiter:
"Mit Nachdruck sei hingewiesen auf die elementare Bedeutung der Familie, auf den Schutz des menschlichen Lebens von seinem Beginn bis zum Ende, auf die Verantwortung der Lehrer in der Erziehung der Jugend; sei erinnert an die moralische Verantwortung einer sich überstürzenden Forschung; all das steht in Verbindung mit einem christlichen Welt- und Menschenbild, das an der geistigen Einheit Europas schon einmal so entscheidend mitgebaut hat. Die Geschichte Europas mit seinen christlichen Wurzeln legt immer noch den stärkeren Akzent auf das 'mehr sein', als auf des 'mehr haben'. - Die Realität einer einseitigen Wirtschaftsgemeinschaft bleibt nicht selten weit hinter der geistigen Dimension eines erhofften künftigen Europa zurück."
(Aus einem Beitrag Kardinal Königs aus Anlass der ersten EU-Präsidentschaft Österreichs im Jahre 1998)
Um Europa im weiteren Sinn ging es daher auch bei seinem letzten öffentlichen Auftritt, als er, knapp einen Monat vor seinem Tod, das Ehrendoktorat der rumänischen Universität Cluj/Klausenburg entgegennehmen sollte. Im Hinblick auf seinen bereits geschwächten Gesamtzustand überlegte man in seiner Umgebung, ob diese anstrengende Ehrung an der Universität – auch angesichts seiner bereits 12 Ehrendoktorate – unbedingt notwendig sei. Der Kardinal antwortete einfach: "Es ist eine Universität aus dem Osten und es geht um Europa". Und er formulierte, genau und sorgsam, wie immer, seine Dankesworte aus – es war seine letzte Ansprache am 18. Februar 2004:
"In dieser festlichen Stunde ist es mir ein besonderes Anliegen, auf einige Dinge hinzuweisen, die mir am Herzen liegen: Europa ist weit mehr als die Europäische Union. Die Länder Ost- und Südosteuropas in ihrer Vielfalt, von denen einige mehrheitlich orthodox sind, gehören wesentlich dazu … Das gemeinsame historische Schicksal, die grenzüberschreitende Anziehungskraft gemeinsamer Symbole, geistiger Kultur und Religion macht deutlich, dass Religion und christlicher Glaube das geistige Antlitz des ganzen Europas von Anfang an geprägt haben. Was Erhard Busek auf politischer Ebene später unternahm, versuchte ich mit meinen Mitarbeitern auf der kirchlichen Ebene schon früher zu erreichen: Beflügelt durch das II. Vatikanische Konzil (1962-65) habe ich als Präsident des Päpstlichen Sekretariats für die Nicht-Glaubenden begonnen, Kontakte mit den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang aufzunehmen. (Hier nenne ich auch dankbar Rumänien, wo ich 1967 erstmals Gast von Patriarch Justinian war.) Meine Besuche wurden von den dortigen Christen als Zeichen der Hoffnung verstanden, daß man sie in schwieriger Zeit nicht vergessen hatte. Heute, nach Wegfall der alles beherrschenden Ideologie des Kommunismus, ist es Aufgabe der Christen des Westens, wie des Ostens, grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten für den Neubau des ganzen Kontinentes Europa. ... Das Jahr 1989 brachte den Völkern und Kirchen des östlichen Europa Freiheit und Selbstbestimmung. Diese historische Wende und die im Gang befindliche Erweiterung der Europäischen Union sind eine historische Chance für die 'Europäisierung' des ganzen Kontinents, wie es Johannes Paul II. auszudrücken pflegt.“
Und mit Blick auf den manchmal etwas überheblichen Westen erinnerte Kardinal König auch daran:
"Abgesehen von einer notwendigen Solidarität des Westens in wirtschaftlicher Hinsicht, erscheint es mir wichtig, zu betonen, wie sehr mit der wiedererlangten Freiheit auch das nationale, kulturelle und religiöse Selbstbewusstsein der Völker und Kirchen des Ostens wiedererwacht ist. (Das macht den ökumenischen Dialog einerseits leichter, andererseits aber auch schwieriger.) Denn die Länder Ost- und Südosteuropas sind nicht nur unterstützungsbedürftig, sie bringen auch viel ein in das zusammenwachsende Europa. Sie bringen vor allem die Erfahrung ein, wie man unter den Bedingungen eines menschenverachtenden Regimes in Würde überleben kann. Sie bringen reiche kulturelle, geistige und religiöse Traditionen ein, insbesondere jene der mehrheitlich orthodoxen Länder und sind damit eine gewaltige Bereicherung des ganzen Europas. – In diesem Sinne möchte ich die heutige Ehrung durch die älteste Universität Rumäniens, - einem Land, das ich im Laufe vieler Jahre kennen und schätzen gelernt habe, - nicht nur auf meine Person bezogen verstehen. Ich möchte den akademischen Akt vielmehr hineinstellen in den großen Zusammenhang des Neubaues unseres Kontinentes mit seinem christlichen Erbe - heute gemeinsam zu verantworten von Ost und West."