Europa sucht seinen Weg
Europa ist kein eigener Kontinent aufgrund der geographischen Gegebenheiten wie Afrika, Amerika, Australien oder Asien. Europa ist durch seine Geschichte und Kultur zum selbständigen Kontinent geworden - rein geographisch ist Europa eine Halbinsel Asiens. Auf dem Kontinent Europa wohnt eine Fülle von Völkern in großer Dichte.
Christopher Dawson macht in seinem Buch Making of Europe aufmerksam, daß schon in der Zeit des Frankenreichs im nordalpinen Raum jene "Achsen-Drehung der Weltgeschichte" erfolgte - die vom Mittelmeerbecken der Römerzeit in nordöstliche Richtung führte.
Die Soldaten des Karl Martell, die im Jahr 732 in der Schlacht von Tours und Poitiers die Araber besiegten, hießen bereits "Europäer". Und als Fortsetzung des "Imperium Romanum" wuchs jene "Civitas Dei", die in der Kaiserkrönung Karls des Großen in Rom im Jahre 800 als "Pater Europae" ihren sichtbaren Höhepunkt erfuhr.
Das werdende und sich festigende Europa ruhte auf dem Erbe des Römerreiches durch die Kraft der romanischen, germanischen und slawischen Völker mit den Hauptsprachen Latein, Griechisch und Kirchenslawisch. Bereits damals wurden von den Missionaren, den Märtyrern aus der Zeit des zu Ende gehenden Römerreichs, die Rundamente des christlichen Europa gelegt. Aber auch die germanischen Lebensformen dieses jungen Europa reichten in die staatlichen und kirchlichen Lebensbereiche hinein.
Zu den Patronen des werdenden Europa gehören große christliche Vorbilder wie Martin von Tours, Benedikt von Nursia, irische, schottische und angelsächsische Missionare wie Kolumban und Bonifatius aus dem Westen, die Slawenapostel Cyrill und Method aus dem Osten, die mit ihren Klöstern und Kathedralschulen bis in die Gegend des heutigen Österreich kamen. Vor allem der hl. Benedikt, zur Zeit der Völkerwanderung lebend, hat zur christlichen Prägung Europas durch die Lebensordnung seiner Ordensregel, Ora et labora, und durch das formulierte Gleichgewicht von Person und Gesellschaft mehr beigesteuert, als man gewöhnlich annimmt.
Die christliche Zeitrechnung, christliche Feste mit ihrer römischen Liturgie prägten allmählich den europäischen Kulturraum. Schon damals wurde die geschichtliche und geographische Offenheit unseres Landes zwischen West und Ost deutlich.
Tausend Jahre lang gab es eine einheitliche christliche Welt als Gemeinschaft des Glaubens und der Kirche. Sie reichte von Byzanz bis Rom, als das Römische Reich schon lange in eine östliche und westliche Reichshälfte auseinandergebrochen war. Abgesehen von der Abspaltung kleinerer Gruppen im 4. und 5. Jahrhundert erlebte diese völkerumspannende Einheit der Christen zweimal einen tiefreichenden Einbruch. Aufgrund verschiedener kultureller und sprachlicher Spannungen kam es 1054 zu der großen Spaltung der Christenheit, die als Abendländisch-Morgenländisches Schisma in die Geschichte einging. Byzanz wurde das Zentrum einer byzantinischen Kirche, Rom blieb der Mittelpunkt der westlichen Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Im Bereich der byzantinischen Kirche entstanden die orthodoxen Kirchen, die durch nationale Zugehörigkeiten näher bestimmt wurden.
Der zweite Einbruch erfolgte zur Zeit der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In der Folgezeit entstanden vorallem in Westeuropa zahlreiche selbständige christliche Kirchen, die weitreichende Änderung des gesellschaftlichen und politischen Lebens zur Folge hatten. Die zentrifugalen Kräfte dieser Spaltungen wurden durch Aufklärung und Rationalismus verstärkt.
So wurde der Kontinent Europa durch die Trennung in Konfessionen gesellschaftlich und politisch verändert, ohne jedoch seine christliche Grundstruktur zu verlieren. Denn das wachsende geistig-intellektuelle Interesse und das technische Können, das in den Schulen und den neuen Universitäten der Scholastik genährt wurde, verdichtete sich zu einem christlichen Welt- und Menschenbild mit religiös fundierten Ethik und Rechtsordnung. Das, was wir heute unter "Europäischer Kultur" verstehen, ist aus vielen Wurzeln zusammengewachsen: neben den griechischen, römischen, germanischen und slawischen gehören dazu auch die Einflüsse des Judentums und des Islams.
Weder die politisch motivierten Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, noch ein in die Richtung der Säkularisierung weisender Humanismus im Gefolge der Aufklärung konnten die christlichen Züge Europas ganz verdunkeln. Die Ideen der französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schrieben zum Ende des 18. Jahrhunderts in das alte Antlitz Europas neue und zugleich alte Züge. Auch ein religions- und kirchenfeindlicher Liberalismus des 19. Jahrhunderts konnte die religiösen Grundideen nicht auszulöschen.
Und so entstand im Laufe der neueren Zeit durch die Dynamik Europas eine den ganzen Erdkreis umfassende Einflußspähre. Dazu gehörten zum einen die Ausbreitung europäischer Zivilisation durch den Kolonialismus mit all seinen positiven und negativen Auswirkungen; zum anderen die Missionsarbeit der christlichen Kirchen in weiten Gebieten der anderen Kontinente. Durch seine wissenschaftliche und technische Überlegenheit richtete sich Europa in den Vereinigten Staaten "häuslich" ein, blieb aber in Asien nur Gast. Seit der Neuzeit umfaßt der Begriff "der Westen" sowohl Europa als auch die Vereinigten Staaten von Amerika.
Bis zum ersten Weltkrieg blieb dieses Europa das Zentrum der Weltpolitik. S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, (1996, 58f.), berechnet, daß um 1914 Europa 84% der ganzen Welt kontrollierte und fügt dann an anderer Stelle (496) hinzu: "Der Westen (das heißt Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika sowie Südamerika) unterscheidet sich offensichtlich von allen anderen Kulturkreisen, die bisher existiert haben, durch seine überwältigende Auswirkung auf alle Kulturen, die es seit 1500 gegeben hat. Er hat damit die Prozesse der Modernisierung und Industrialisierung in Gang gesetzt."
Der amerikanische Historiker Paul Kennedy (Rise and Fall of Great Powers, 30) meinte, daß man aus amerikanischer Perspektive berechtigt wäre, von einem "Wunder Europa" ("a European miracle") in jener Zeit zu sprechen. Das heißt, dieses geschichtlich einzigartige "Wunder" müsse man sich erklären durch ein gegebenes Zusammenspiel von ökonomischem Liberalismus, politischer, militärischer und geistiger Vielfalt, die beständig aufeinander einwirkten und so jene geschichtliche Periode Europas nach 1500 einleiteten. Und weil ein solches Zusammenwirken ähnlicher Kräfte weder in China noch in muslimischen Reichen des mittleren Ostens, noch in Asien oder in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen erfolgte, deswegen bleibe das geschichtliche Werden Europas einzigartig und nur auf diesen Kontinent beschränkt. Das Christentum aber hat dem Fundament Europas einen besonderen Halt gegeben, so daß sich dieses "Wunder Europa" dadurch besser verstehen und erklären läßt.
Dies alles aber änderte sich im Jahr 1918 mit dem Ende des 1. Weltkriegs. Damals wurde die eindimensionale nationalistische Staatspolitik in Europa tief erschüttert. Das Vertrauen in Wissenschaft und Fortschritt verlor seine Überzeugungskraft. Die Staatsgrenzen mancher Länder änderten sich. Die Führungskräfte Europas verloren ihre Sicherheit eines übernationalen Prestiges.
Der zweite Weltkrieg hat in Verbindung mit Hitlers verbrecherischer Ideologie und einem sich festigenden, ähnlich menschenverachtenden Kommunismus das durch den ersten Weltkrieg bereits geschwächte Europa zur Gänze zerstört. Der Pessimismus jener Jahre wurde durch Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes, demzufolge Europa in seine Endphase eingetreten sei, verdeutlicht und verstärkt. Der englische Historiker Arnold Toynbee untermauerte in seiner großen Weltgeschichte (Study of History, 12 Bände) jene negative Einstellung in Europa. Er war der Meinung, nur das Entstehen einer neuen Weltreligion könne den Niedergang der Hochkulturen aufhalten.
Das Ende des Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkriegs führten zum erstenmal in der Geschichte zu einer Teilung Europas. In der Konferenz von Jalta vom Februar 1945 wurden jene Beschlüsse gefaßt, die Europa durch den Eisernen Vorhang in zwei Machtblöcke zerschnitten. Es entstand der Westen der NATO-Staaten und der Ostblock des Warschauer Paktes. Für Jahrzehnte wurde die Grenze Österreichs gegen die Tschechoslowakei, gegen Ungarn und Slowenien zum Eisernen Vorhang, der den Osten und Westen des Kontinents trennte.
Damals begannen Asien und Afrika, sich von der europäischen Vorherrschaft zu befreien, die Kolonialreiche lösten sich nach und nach auf.
Angesichts eines durch den Eisernen Vorhang geteilten Europas stellte sich immer drängender die Frage, ob diese Teilung des Kontinentes je wieder rückgängig gemacht werden könne; die Macht des sowjetischen Kommunismus, der sich durch den Eisernen Vorhang schützen wollte, schien das Antlitz Europas bleibend zu prägen. Nur Radio und Fernsehen konnten den Eisernen Vorhang überwinden und eine unsichtbare Verbindung von Diesseits und Jenseits der Grenze sicherstellen. Es bestand die Gefahr, daß der Eiserne Vorhang auch zu einer geistigen Mauer zwischen zwei entfremdeten Welten werden würde. Die Christen im östlichen Europa waren zum Schweigen verurteilt und wurden blutig verfolgt.
Als im Jahre 1976 dem damaligen belgischen Außenminister Leo Tindemanns in Aachen der Karlspreis verliehen wurde, sagte er in seiner Dankrede unter anderem: "... Nachdem Europa vier Jahrhunderte lang im Namen der ganzen Welt gesprochen hat, schweigt es jetzt." - Wollte er damit sagen, daß Europa nun am Ende seiner Geschichte angelangt sei?
Rückkehr nach Europa
Aber vierzehn Jahre später rückte Europa wieder in den Mittelpunkt der Weltgeschichte: Ende 1989/Anfang 1990 brach der Kommunismus lautlose und ohne Gewalt von außen zusammen. In diesen Tagen hielt die ganze Welt den Atem an - so unglaublich und unwahrscheinlich schien zunächst alles zu sein.
Nur kurz zuvor, am 1. Dezember 1989, hatte der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow den Papst im Vatikan besucht; drei Wochen später, zwei Tage vor Weihnachten, wurde das Brandenburger Tor geöffnet und die Berliner Mauer sank in sich zusammen. Am Weihnachtstag wurde der rumänische Diktator Ceaucescu und seine Gattin erschossen. Das war das einzige blutige Ereignis einer sonst unblutigen Revolution. Im Jahr darauf folgte schließlich auch Albanien mit seinem brutalen atheistischen Marxismus, er hinterließ im ärmsten Land Europas ein Trümmerfeld.
Vorangegangen waren gewaltlose Protestaktionen von Hunderttausenden in Leipzig, auf dem Wenzelsplatz in Prag, auf dem Roten Platz in Moskau. Die kommunistischen Partei- und Staatsführungen waren gelähmt und verloren den Boden unter den Füßen, mit ihnen der gewaltige Polizeiapparat, der bisher jeden Widerstand blutig niedergeschlagen hatte.
Der auf dem falschen Welt- und Menschenbild des Marxismus aufgebaute sogenannte wissenschaftliche Sozialismus war unerwartet und schnell in sich zusammengesunken. Wenn der einzelne Mensch nur als Instrument, als Baustein einer neuen Gesellschaft gesehen wird, löscht dies die Vorstellung von der menschlichen Person als eigenständigem Subjekt moralischer und freier Entscheidungen aus. Initiative und Verantwortung gehören nicht mehr in den Bereich des Einzelnen. - Ein Menschenbild ohne Freiheit und Würde aber verändert die Vorstellungen von der Gesellschaft und blockiert den Weg zum echten menschlichen Miteinander. Denn Individuum und Gemeinschaft bedingen einander. Wurzelgrund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen ist und muß die menschliche Person sein.
Der englische Schriftsteller Timothy C. Ash hat die erregenden Ereignisse der sogenannten "sanften Revolution" in Osteuropa, in Warschau, Budapest, Ostberlin und Prag selbst miterlebt. Im Schlußkapitel seines Buches We, the people, das er im Anschluß an jene Ereignisse geschrieben hat, meint er: "Die eigentliche Trennungslinie zwischen den beiden Teilen Europas verläuft im Grunde zwischen jenen, die Europa haben und jenen, die an Europa glauben." Anfang 1990 hat man im Osten die turbulenten Ereignisse dahingehend interpretiert: "Was jetzt vor sich geht, ist einfach die Rückkehr nach Europa".
Dazu ein anderes Beispiel: Die parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg hat in den letzten Jännertagen des Jahres 1990 bewegende Stunden erlebt. Der damalige polnische Regierungschef und der ungarische Ministerpräsident hatten am 29. und 30. Jänner ihre Gesuche um Aufnahme in den Europarat vorgelegt. Die Neue Zürcher Zeitung berichtete von der Rede des polnischen Premiers Mazowiecki: "... Mit vornehmer Zurückhaltung, aber mit sichtbarer Ergriffenheit hat er von Polens Rückkehr nach Europa, von der Renaissance Europas überhaupt, gesprochen; denn dieses, nämlich Europa, hat ohne seine mittel- und osteuropäischen Glieder während der vergangenen Jahrzehnte gar nicht mehr voll existiert; - der Neuanfang nach dem Zusammenbruch bedeutete daher für jenen Teil Europas die Rückkehr in das ganze Europa vom Atlantik bis zum Ural."
Nach Europa zurückkehren mußte aber auch heißen, das verschüttete christliche Antlitz dieses Kontinentes als seine Grundstruktur wieder zu entdecken. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte die Regierung im Kreml (Juni 1988) der russisch-orthodoxen Kirche das Recht eingeräumt, das Millenium der Einführung des Christentums in Rußland vor aller Welt zu begehen. Damit trat dort das orthodoxe Christentum erstmals, nach so vielen Jahren der blutigen Verfolgung, wieder in Erscheinung.
Vor 1.000 Jahren hatte Rußland und auch andere slawische Völker das Christentum, das aus Byzanz im byzantinischen Kleid kam, angenommen. Aus diesem Anlaß schrieb der lateinische Papst Johannes Paul II. an den Patriarchen von Moskau: Die beiden großen Traditionen der Kirchen - die westliche und die östliche - gehören zusammen, "so wie die beiden Lungen eines Organismus miteinander verbunden sind". In Zukunft sollte auch die ökumenische Bewegung in Europa - mit dem Blick auf das einst ungeteilte und gemeinsame Erbe des Christentums - neue Impulse erhalten.
Denn auch im westlichen Europa war in den Jahren der Trennung die Erinnerung an das größere Europa - auf eine ganz andere Weise - wieder lebendig geworden. Allerdings standen hier wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Es waren christliche Staatsmänner, die sich, inmitten der Skepsis der Nachkriegszeit, aus ihrer Tradition heraus verpflichtet fühlten, tätig zu werden, um den Glauben an das Europa der Vergangenheit auf eine neue Basis zu stellen. Eine Voraussetzung dafür war die deutsch-französische Aussöhnung. Mit einem zu Herzen gehenden Europabekenntnis hatte Schumann in seinem Buch Pour l’Europe damals für diese neue Hoffnung geworben. Im Jahr 1950 hatte er als französischer Außenminister - in Verbindung mit Jean Monnet - für die Gründung einer "hohen Behörde für Kohle und Stahl" geworben. Damit begann auch die Aussöhnung der alten Erbfeinde Deutschland und Frankreich. 1957 erfolgte auf der Grundlage der Verträge von Rom die Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Der Europarat in Strasbourg (Council of Europe) wählte zwei Jahre später, 1959, Robert Schumann zu seinem Präsidenten. Es waren christliche Staatsmänner wie Schumann, Adenauer und de Gasperi, die gemeinsam Hand anlegten, um die Zusammenarbeit auf politischer Ebene neu zu beleben.
In dem Maße aber, in dem die wirtschaftlichen und politischen Interessen alles beherrschend im Vordergrund standen, wurde der Ruf nach den geistigen und religiösen Kräften immer lauter. Die christlichen Kirchen schienen zunächst abseits zu stehen, erkannten aber nach und nach ihre Aufgaben und Chancen. Die Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils, in Verbindung mit der Ökumene, kamen zum Tragen. Für die Konzilsväter und Theologen aus den europäischen Diözesen bot das Konzil zum erstenmal die Möglichkeit, einander kennenzulernen und auf dieser Ebene Pläne für die Zukunft zu schmieden. Die europäischen Bischofskonferenzen nahmen in den Jahren 1977 und 1980 die Idee einer geistigen europäischen Zusammenarbeit auf und begannen für sie zu werben.
Die geistige Situation und Stimmung der nachkonziliaren Zeit hat Papst Johannes Paul II. während seiner Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela in einem bewegenden Bekenntnis zum Ausdruck gebracht: "Ich, Johannes Paul, Sohn der polnischen Nation, die sich immer aufgrund ihres Ursprunges, ihrer Tradition, ihrer Kultur und ihrer lebenswichtigen Beziehungen als europäisch betrachtet hat, - als slawisch unter den Lateinern und als lateinisch unter den Slawen, - ... ich rufe dir, altes Europa, voller Liebe zu: Finde wieder zu dir, sei wieder du selbst, besinne dich auf deinen Ursprung, belebe deine Wurzeln wieder! Beginne wieder jene echten Werte zu leben, die deine Geschichte ruhmreich gemacht haben ... baue deine geistige Einheit wieder auf, in einer Atmosphäre voller Achtung gegenüber den anderen Religionen und echten Freiheiten ... noch immer kannst du Leuchtturm der Zivilisation und Anreiz zum Fortschritt für die Welt sein. Die anderen Kontinente blicken zu dir hin und erhoffen von dir die Antwort des Jakobus zu hören, die er Christus gab: Ich kann es."
Damals wurde zum ersten Mal bewußt, was das Christentum dem europäischen Kontinent im Verlaufe der Zeit geschenkt, was auf der anderen Seite auch der europäische Kontinent für das Christentum bedeutet hat. Denn durch Jahrhunderte hindurch bestand zwischen Europa und der Christenheit eine wechselhafte, aber dauernde Verbindung. Es ist kein Zufall, daß Jahrhunderte hindurch Kirche und Europa und in der Folge auch die an sich weltweite katholische Kirche eine europäisch geprägte Kirche zu sein schien, ja beide als ident angesehen wurde. Die Missionare waren es, die das Bild der Kirche im europäischen Kleid in anderen Kontinenten bekannt machten. Es hat lange Zeit gedauert, bis sich in der katholischen Kirche die Erkenntnis durchsetzte, daß die Kirche Jesu Christi mit ihrem Auftrag "Geht hinaus in die ganze Welt!" mehr ist als nur eine europäische Kirche.
Heute muß es daher Aufgabe der Christen sein, zu erkennen, daß sie nicht nur Verwalter der Vergangenheit, sondern Mitgestalter einer gemeinsamen Zukunft sind. Und hier setzt das Interesse der Christen für ein zukünftiges gemeinsames Europa an.
Große Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen
Aber die Erwartungen und Hoffnungen auf ein neues gemeinsames Europa in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus - Gorbatschow sprach in jenen Monaten vom "gemeinsamen Haus Europa" - sanken bald in sich zusammen. An die Stelle der Euphorie traten Enttäuschung und neues Mißtrauen.
Die Menschen fragten sich: Wo ist der Triumph der Demokratie? - Denn die Tyrannei des neuen fanatischen und intoleranten Nationalismus schien den Kommunismus abzulösen. Nach dem Fall der Mauer wurde das Elend im Osten Deutchlands nicht geringer, sondern größer. Die Enttäuschungen des Alltags waren nicht viel anders als früher. Neu waren die Korruption und die Bildung von Banden, die vor allem in den Städten Angst und Unsicherheit verbreiteten.
Der Westen war verwirrt und schwieg. Er verstand nicht, daß ein langwieriger und sehr schwieriger Prozeß des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbaus begonnen hatte. Dieser bezog sich nicht nur auf den materiellen, sondern ebenso auf den menschlichen, den seelischen und den geistigen Bereich. Diese Situation beleuchtet das anschauliche Beispiel eines ostdeutschen Studentenseelsorgers: er verglich die psychische Verfassung und Situation der Menschen des ehemaligen Ostens mit einem Kranken, der 40 Jahre lang ans Bett gefesselt war und von dem man nun plötzlich erwartet, daß er einen raschen Lauf absolviert. Der Genesende versucht einige Schritte, versagt und sehnt sich dann wieder ins Bett zurück.
Ein anderes Beispiel: Im Sommer 1991 sagte mir ein Bekannter in Moskau: "Früher waren wir Kommunisten, jetzt sind wir es nicht mehr. Früher, als wir noch Kommunisten waren, hatten wir einigermaßen zu essen, jetzt, nachdem wir keine Kommunisten mehr sind, haben wir nichts mehr zu essen."
Die Notwendigkeit der materiellen und vor allem moralischen Unterstützung hat der Westen leider erst spät erkannt. Der Osten war enttäuscht, weil die vermeintlichen Segnungen des westlichen Wohlstands nicht sofort nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs konsumiert werden konnten. So war die Folge des Umbruchs im östlichen Europa ein lähmendes Vakuum mit Perplexität und Verwirrung. Wie sollte hier eine neue demokratische Ordnung entstehen? Sektenführer, Abenteurer, Scharlatane nützten bereits im ersten Jahr ihre Chance.
Die Hoffnung auf Demokratie, die in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine starke Kraft war, fand im westlichen Europa kaum Echo und Unterstützung. Vor allem in den ost-mitteleuropäischen Staaten bemerkte man bald, daß der Westen sich seiner Sache nicht so sicher war. Viele fragte sich daher, ob das alte Europa überhaupt noch etwas zu bieten hätte?
Dazu kam die weitverbreitete Grundstimmung des Mißtrauens. Auf wen kann ich mich verlassen? Ist dieser oder jene nicht Mitarbeiter des kommunistischen Systems gewesen? Auch konnte man den im Kommunismus geschulten mittleren und höheren Beamtenapparat nicht über Nacht auswechseln. Ebenso wenig konnte die Passivität gegenüber Freiheit und Verantwortung überwunden werden. So wartete der Westen weiter ab und der Osten verzweifelte. Der Zusammenbruch des Kommunismus schien sowohl den Osten wie auch den Westen in eine Sackgasse geführt zu haben. Die Kräfte des Gegeneinander schienen wieder stärker geworden zu sein als die Kräfte des Miteinander.
Auch die Kirchen des Ostens blieben von dieser Unsicherheit nicht unberührt. Der seinerzeitige Einbruch des marxistischen Atheismus in die von ihm beherrschten östlichen Staaten, in denen die christlichen Kirchen das öffentliche Leben geprägt hatten, hatte das Leben der Gläubigen einschneidend verändert. Mit dem Beginn der kommunistischen Herrschaft stieg die katholische Kirche, wie auch die anderen christlichen Kirchen, in den Untergrund, in die Katakomben, um auf bessere Zeiten zu warten. In dieser Zeit der Unterdrückung und Verfolgung jeder Religion, besonders des Christentums, ergab sich für die inhaftierten Priester und Gläubigen eine erste Gelegenheit zum ökumenischen Dialog. Das Ansehen der unterdrückten Kirchen wuchs in dieser Zeit außerordentlich, auch im Westen.
Die wiedererlangte Freiheit der Kirche mit all den damit verbundenen Hoffnungen wurde aber sofort mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Mißtrauen stellte sich ein. Wer gehört zu uns, zur Kirche, die im Kommunismus so sehr gelitten hat? Diese Frage war überall präsent. Warum waren die einen im Gefängnis, die anderen relativ ungeschoren in Freiheit? Verdächtigungen lähmten die Aufbauarbeit auch im kirchlichen Bereich. Innerhalb der katholischen Kirche gab es "Geheimkirchen" mit verschiedene Gruppierungen. Man wußte von eingeschleusten Spionen; aber wer war einer und wo waren sie jetzt? Dazu kam die Frage nach der Gültigkeit der Weihen. Denn in der Geheimkirche gab es Priester- und Bischofsweihen, die zum Teil nicht registriert werden konnten. Um diese Frage zu klären, war und wird noch viel Geduld und Fingerspitzengefühl notwendig sein. Auch die Sorge um die materielle Sicherung der Kirche ist nicht zu unterschätzen. (Den getrennten christlichen Kirchen gemeinsam war und ist noch immer die Sorge um zweckentfremdete Gebäude, die vom Staat zum Teil langsam und widerwillig zurückgegeben werden. Die notwendigen Restaurierungen bzw. Neubauten erfordern ungeheure Summen, die die Kirchen nicht haben. Gemeinsam ist allen die Sorge um die Ausbildungsstätten für den geistlichen Nachwuchs, für religiöse und kirchliche Presse und Literatur, sowie für den Aufbau der Gemeinden von Null an.)
Im Bereich der orthodoxen Kirchen Rußlands und der anderen Nationen gibt es nicht geringe Probleme für die offizielle Kirchenleitung. In Rußland muß sich die Kirchenleitung in zwei Richtungen verteidigen: Einmal sind es der extreme Nationalismus, die Ablehnung der Ökumene und das Mißtrauen gegen die katholische Kirche. Zum anderen ist es die Bewältigung der Vergangenheit. Manche kirchliche Personen in höheren Rängen sind durch die Zusammenarbeit mit dem KGB belastet. Das führt immer wieder zu heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit.
Die protestantischen Kirchen kämpfen mit dem Würgegriff der Sekten. Der innere und äußere Neuaufbau der Gemeinden ist schwierig. Große Teile der Bevölkerung haben die Verbindung mit ihren Kirchengemeinden, wie zum Beispiel in Ostdeutschland, überhaupt nicht mehr aufgenommen.
Weitere Probleme sind die Existenz der Unierten Kirchen und das immer noch bestehende Mißtrauen gegenüber einer, wie es heißt, zu laxen christlichen Kirche im Westen. Besorgte Beobachter befürchten, daß diese Mißtrauen sich wieder verbinden könnte mit der antiwestlichen Stimmung der Slawophilen. Schon vor 100 Jahren hatte Nikolai Danielovsky in seinem Buch Rußland und Europa (1869) dem russischen Volk geraten, sich vom Westen - das heißt, vom westlichen Europa - grundsätzlich abzuwenden, denn von dort könne man nichts Gutes erwarten, von dort sei noch nie etwas Gutes gekommen. Der lange isolierten Kirche des Ostens fehlt der schmerzliche innerkirchliche Reifungsprozeß, der Rezeptionsprozeß des Westens, der durch das Zweite Vatikanum eingeleitet wurde.
Hat also der Zusammenbruch des Kommunismus den Osten wie den Westen in ein Sackgasse geführt? Sind die Kräfte des Gegeneinander unter den neuen Verhältnissen stärker geworden als die Kräfte des Miteinander? Ich persönlich glaube das nicht. Es gibt verschüttete Zeichen der Hoffnung, die es zu erkennen und zu unterstützen gilt. Für die christlichen Kirchen Europas ist dies eine große Herausforderung.
Der ökumenische Dialog in Europa
Wenn das Christentum auch in der Gegenwart seine historische Infrastruktur wirksam machen will, um so an der geistigen Neuorientierung eines Europas im Wandel mitzuarbeiten, darf es auf Dauer nicht in sich uneins sein. Neue vertrauensbildende Maßnahmen von allen Seiten sind daher notwendig. Dazu zähle ich in erster Linie die Fortführung und den Ausbau des ökumenischen Dialogs in europäischer Sicht. Dadurch erst kommen die grenzüberschreitenden Möglichkeiten der christlichen Religion zum Tragen.
Und hier ist bereits einiges geschehen. Die ökumenische Bewegung, das Bemühen, die verlorene Einheit der Christen wiederherzustellen, ist auf westeuropäischem Boden entstanden; genauso gehört der zweimalige große Einbruch in die Einheit der Christen zur Geschichte Europas. Das fortgesetzte Bemühen der Christen um Zusammenarbeit seit dem Beginn dieses Jahrhunderts führte 1948 zur Gründung eines Ökumenischen Rates der Kirchen (World Council of Churches). Starke Impulse aus dem reformatorischen und dem anglikanischen Raum, sowie ein Schreiben des Ökumenischen Patriarchats in Konstantinopel hatten den Weg vorbereitet. In der gemeinsamen Erklärung dieser Gründung heißt es: "Eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus, gemäß der Heiligen Schrift, als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind: zur Ehre Gottes des Vaters, des Sohne und des Heiligen Geistes". Dem Weltrat der Kirchen haben sich damals die Anglikanischen, die Protestantischen und zum Teil die Orthodoxen Kirchen angeschlossen. Heute sind über 300 Mitglieder im Weltrat zusammengefaßt.
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil unterstützt die Katholische Kirche dieses ökumenische Bemühen. In einem eigenen "Dekret über den Ökumenismus" (am 21. Nov. 1964 mit 2137 Ja- und 11 Neinstimmen angenommen) wurden auf dem Konzil die Richtlinien für die Mitarbeit an der Ökumenischen Bewegung erstellt und die Gläubigen zur Mitarbeit ermuntert. In der Folge kam es zur Gründung des "Päpstlichen Rates zur Förderung der christlichen Einheit".
Wie weit der ökumenische Dialog heute in Europa Wurzel gefaßt hat, zeigt auf protestantischer Seite die 1959 ins Leben gerufene "Konferenz der Kirchen Europas" (KEK); sie arbeitet gut zusammen mit der im Jahr 1971 konstituierten katholischen "Konferenz der Europäischen Bischofskonferenzen" (CCEE). Als eine erste Frucht solcher gemeinsamer Bemühungen gilt heute immer noch die eindrucksvolle "Erste Europäische Ökumenische Versammlung", die im Frühjahr 1989 in Basel stattfand. Dieses bedeutende ökumenische Ereignis wurde in der letzten Juniwoche 1997 in Graz mit der "Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung" mit einer großen Zahl von jungen Teilnehmern aus ganz Europa, vor allem auch aus dem Osten, fortgesetzt. Die Bedeutung solcher Begegnungen und Gespräche für das Entstehen eines neuen Europa-Bewußtseins liegt auf der Hand.
Der interreligiöse Dialog in Europa
Wenn das Entstehen der Ökumenischen Bewegung mit der Vergangenheit Europas zu tun hat, so wird Europa in Zukunft ein besonderes Interesse auch dem interreligiösen Dialog, dem Gespräch mit den Juden und Moslems zuwenden müssen. Denn im zukünftigen Europa werden in steigendem Maße Christen mit Nichtchristen, vor allem mit Juden und Moslems, zusammenleben. Und immer wieder werden die Christen auf die leidvolle Vergangenheit der Juden und Moslems in Europa verwiesen.
Um das gegenseitige Mißtrauen zu zerstreuen, um Mißverständnisses abzubauen, um die Lasten der Geschichte abzutragen, braucht es den geduldigen, vorurteilsfreien Dialog.
1. Auf kaum einem anderen Gebiet muß immer noch so viel Schutt weggeräumt werden, wie auf dem der Beziehung zwischen Christen und Juden. Das Verhältnis zwischen Christen und Juden ist durch den Antijudaismus und den späteren Antisemitismus belastet. Die Spannungen und blutigen Konflikte gehören zur Geschichte Europas und wirken immer noch nach. Ich erinnere an die wechselvolle Geschichte der jüdischen Gemeinden in Europa, vor allem aber an die Ausschreitungen und Progrome zur Zeit des ersten Kreuzzuges 1096; an die Ausweisung der Juden aus Spanien und Portugal 1492 bzw. 1498. Ich erinnere an die wiederholten Einschränkungen jüdischen Lebens und jüdischer Kultur durch die verschiedenen Gastländer. Und schließlich entstand in einem Europa des Diesseitsglaubens der beginnenden Säkularisierung aus einem Bündel verschiedener Motive jener Wahn, der unzählige Menschen aus rassischen Gründen und um ihrer jüdischen Abstammung willen bekämpfte und vernichtete. Der schreckliche Höhepunkt dieser Entwicklung war der Holocaust in der Zeit des Nationalsozialismus. Dies alles belastet das Verhältnis der Juden und Christen besonders in Europa, denn die Spuren einer solchen Geschichte reichen durch Generationen zurück und es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis das Nebeneinander zu einem wirklichen Miteinander wird.
Eine entscheidende Wende brachte auch hier das Zweite Vatikanische Konzil mit dem Artikel 4 der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate). Das Konzil hielt es für angemessen, ein "Confiteor" miteinzubeziehen, wenn es heißt: "Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, ... alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben." Was im Zweiten Vatikanum grundgelegt wurde, hat Papst Johannes Paul II. konsequent fortgesetzt. Besonders eindrucksvoll war sein Besuch in der Synagoge von Rom am 13. April 1986. Bei diesem Besuch sagte der Papst: "Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas Äußerliches, sondern gehört ... zum Inneren unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder".
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gibt es im Vatikan, im "Päpstlichen Rat zur Förderung der christlichen Einheit", eine eigene Sektion für den Dialog mit Israel. Die zahlreichen Gespräche und Begegnungen führten am 30. Dezember 1993 zur Errichtung diplomatischer Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel.
Da es aber im Zusammenleben der Menschen weniger auf diplomatische Abmachungen, sondern vielmehr auf den täglichen, unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt ankommt, versucht die katholische Kirche seit dem Konzil, im Anschluß an die Judenerklärung, in kleinen Schritten, in Gesprächen und Arbeitskreisen, in gemeinsamen Aktionen und Gedenktagen, das Bewußtsein, vor allem der jungen Generation, zu bilden und zu schärfen.
Das Europa von gestern mit seinen Fehlern, mit seinen Religionskriegen, kann nicht das Europa von morgen sein. Im Interesse eines neuen Europas müssen wir daher gemeinsam aus der Geschichte lernen. "Historia magistra vitae", sagten die Römer. Lernen heißt also, nicht nur Vorurteile abzubauen und gegenseitige Vorwürfe zu überwinden, sondern aus der Vergangenheit die richtigen Schlüsse zu ziehen und zu versuchen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Christen haben aus ihrer Geschichte viel zu lernen. Dabei kommt es nicht nur auf die Geschichtsbücher, sondern mehr auf den einzelnen Menschen an. Die Verantwortung des Einzelnen für sich und für die Gemeinschaft rückt stärker in den Mittelpunkt. Aufgabe der Christen ist es daher, aus der leidvollen Geschichte des Judentums in Europa zu lernen und in Zukunft wachsam zu sein. Christen und Juden sind in Europa durch das gemeinsame religiöse Fundament des Monotheismus und das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, das im Alten wie im Neuen Testamentes formuliert ist, verbunden. Diese religiösen Wurzeln sollten im europäischen Humanismus der Zukunft mehr beheimatet sein, als im säkularisierten Humanismus der Vergangenheit.
Aus der Geschichte lernen heißt auch, die Bedeutung der Toleranz zu erkennen. Im zukünftigen Europa werden einander immer häufiger Menschen verschiedener Sprachen, Kulturen und Religionen begegnen. Ein Merkmal des neuen Europa wird deshalb der aus einer klaren Position erwachsene Dialog sein müssen, der zuhören kann und vom Dialogpartner zu lernen bereit ist.
2. Auch die Beziehungen zwischen dem Christentum und dem Islam sind - geschichtlich gesehen - schwer belastet. Auch der Islam ist nicht erst in jüngster Zeit in Europa heimisch geworden, sondern schon viele Generationen früher. Im Jahr 711 von der Dynamik des "Djihad" getrieben nach Spanien gekommen, kam sein Siegeszug erstmals in Poitiers (732) zum Stillstand. Spanien und Sizilien wurden zu Stätten islamischer Hochkultur. Im Hochmittelalter versuchten die christlichen Ritterheere ohne dauernden Erfolg, die heiligen Stätten in Palästina zurückzugewinnen. Während der Widerstand der Christen den Islam aus Spanien und Sizilien vertrieb, fiel im 15. Jahrhundert Konstantinopel in die Hände der Türken. Das Osmanische Reich breitete sich in der Folge über ganz Osteuropa aus und sandte seine Heere im 16. und 17. Jahrhundert zweimal bis vor Wien. Etwa dreizehn Jahrhunderte lang war also im Mittelmeerraum und in Osteuropa ein oft kriegerisches Ringen zwischen den Völkern des Islam und des Christentums im Gange.
Vom 7. bis zum 17. Jahrhundert sah die europäische Christenheit in der Umklammerung durch den Islam eine tödliche Bedrohung ihrer Existenz.
Daß aber eine so lange Geschichte kriegerischer Gegensätze und Auseinandersetzungen einen fast unüberwindlichen Berg von Vorurteilen und ererbten Aggressionen zurückgelassen hat, ist begreiflich.
Eine der Hauptursachen der Schwierigkeit des Dialogs zwischen Christen und Muslimen liegt im gegenseitigen unbestimmten Gefühl der Angst: Die Moslems haben Angst vor dem Westen. Das islamische Selbstbewußtsein leidet immer noch an den Wunden der Kreuzzüge. Später hat der Kolonialismus die Überlegenheit der westlichen säkularisierten Welt weiter ausgebaut und so die islamischen Völker in eine immer größere Abhängigkeit vom Westen gebracht; dies führte zu Minderwertigkeitskomplexen auf islamischer Seite; islamische Studenten an westeuropäischen Universitäten brachten bei ihrer Rückkehr in die Heimat areligiöses, aufgeklärtes Gedankengut mit. Dies führte zu einer Abwehrhaltung im Islam gegenüber einem - so hieß es - dekandenten und gottlosen Westen. Dadurch wuchs die Entfremdung zwischen Christentum und Islam. Unkenntnis und gegenseitiges Mißtrauen vertiefen die Angst.
Auch in Europa, in der westlichen Welt, empfinden Christen Unbehagen und haben Angst vor den Moslems. Das Mißtrauen der Christen hängt zusammen mit Erinnerungen an die Behandlung christlicher Minderheiten als "Schutzbefohlene", die sich nur durch eine Art Steuer vom Übertritt zum Islam befreien konnten. Für einen demokratisch empfindenden Europäer ist schwer verständlich, daß Religion und Staat im Islam eine unauflösbare Einheit bilden.
Eine ökumenische Weggemeinschaft wird daher Überlegungen anstellen, um in geeigneter Weise den interreligiösen Dialog auch mit den Moslems als eine europäische Aufgabe vorzubereiten. Nach heute vorliegenden statistischen Angaben leben in Europa etwa 2 Millionen Juden und an die 7 Millionen Moslems, die hier eine neue Heimat suchen oder gefunden haben.
Dabei werden die Religionen nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander bestehen können, sondern sie müssen ihre gemeinsame Aufgabe darin sehen, den gesellschaftlichen und kulturellen Formen Ziele und Wege zu zeigen, die der gegenseitigen Verständigung, der menschlichen Wertschätzung und damit letztlich dem Frieden dienen.
In Assisi hat im Jahr 1986 erstmals ein vom Papst initiiertes gemeinsames Gebet der Vertreter der großen Weltreligionen um den Frieden der Welt stattgefunden. Die zukunftsweisende Bedeutung dieses Ereignisses wird klar, wenn man erkennt, daß die katholische Kirche durch die Einladung des Papstes ein Zeichen gesetzt hat, in dem offenbar wird, wie sehr sie es als ihre Aufgabe ansieht, die Eintracht unter den Religionen und den Menschen zu fördern. Das Ereignis von Assisi hat eine Vielzahl religionsgeschichtlicher, rationalistischer und theoretischer Diskussionen, Interpretationen und Fragestellungen aus der 2. Hälfte des 19. wie aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts fast wortlos zur Seite geschoben und dafür die Kraft des Religiösen für die Zukunft der Menschen neu ins Bewußtsein gerückt.
Der Glaube der Menschen an der europäischen Schwelle des dritten Milleniums
Heute, an der Schwelle des dritten Jahrtausends, begegnen wir zwei verschiedenen, entgegengesetzten Vorstellungen von Religion und Gesellschaft in Europa.
Der englische Religionssoziologe David Martin, jahrelang Vorsitzender der "Internationalen Gesellschaft für Religionssoziologie" ist der Meinung, daß in Europa ein Prozeß der Säkularisierung, das heißt, der Befreiung von jeder Religion, besonders dem Christentum, ein Ausmaß erreicht habe, das in der modernen Welt einmalig ist. Es handle sich heute nicht um eine Art Kampf des Atheismus gegen Religion und Christentum im Allgemeinen, wie es im kommunistischen Einflußbereich der Fall war, sondern - so meinen die Soziologen - es handle sich vielmehr um eine Emanzipation aller weltlichen Bereiche vom Einfluß der Religion. Damit sei aber auch ein "Niedergang der religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen" zu verstehen. Daher ist er der Meinung, daß aufgrund der vorliegenden Untersuchungen und der statistischen Befragungen, "das Zerreißen eines über Jahrhunderte entstandenen Geflechtes von Religion und Gesellschaft" unausweichlich geworden sei. Der Prozeß der Entwicklung der modernen Gesellschaft habe zur Folge, daß ein "bruchloses Fortbestehen" der religiösen Institutionen in Europa unmöglich geworden sei. Und David Martin faßt die heutige Situation emotionslos zusammen: "Europa ist der einzig wirklich säkulare Kontinent der Erde geworden". Unter dem Einfluß der Aufklärung, die in Europa ihren Anfang nahm und heute die gesellschaftliche Basis voll erreicht hat, scheint Religion, vor allem das Christentum, in Europa bedeutungslos geworden zu sein.
Für Martin ist es allerdings nicht leicht zu erklären, warum in den Vereinigten Staaten - durch die gemeinsame Zivilisation mit Europa verbunden - religiöses Interesse und religiöse Praxis in den letzten Jahren verstärkt in Erscheinung treten.
Dieser These der Religionssoziologen steht die Auffassung gegenüber, daß heute weltweit eine "religiöse Renaissance" im Gange sei. Diese Meinung vertritt der Franzose Gilles Kepel in seinem Buch Die Rache Gottes (La Revanche de Dieu, 1994). Ihr schließen sich Historiker aus Amerika an, unter anderem George Weigel und Huntington (a.a.O., 143ff.). Nur Religion, so heißt es, biete auf die Frage nach dem Sinn des Lebens überzeugende Antworten. "In einem umfassenderen Sinn ist das Wiederaufblühen der Religion weltweit eine Reaktion auf Säkularismus, moralischen Relativismus und Hemmungslosigkeit; ist eine Bekräftigung von Werten wie Ordnung, Disziplin, Arbeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität" (a.a.O., 147ff.).
Aber ungeachtet solcher Feststellungen findet sich bei Huntington eine einschränkende Feststellung in bezug auf Europa (a.a.O., 501): "Immer weniger Europäer bekennen sich zu einer religiösen Überzeugung, beachten religiöse Gebote und beteiligen sich an religiösen Aktivitäten. Diese Tendenz spiegelt weniger eine Feindschaft gegen die Religion wider als die Gleichgültigkeit gegen sie. Und trotzdem ist die europäische Kultur durchdrungen von christlichen Begriffen, Werten und Praktiken." Und dies bedeute, daß Europa durch die "Schwächung seines zentralen Elementes des Christentums" in schwere Krisen geraten könne oder unterminiert werde.
Und was folgt aus den beiden, einander widersprechenden Thesen? - Im Europa von heute gibt es beides: Eine weit verbreitete religiöse Gleichgültigkeit im Spiegel der öffentlichen Meinung einerseits, andererseits aber, unabhängig davon, auch entgegengesetzte Zeichen: zum Beispiel die ökumenische Bewegung, besonders in der jungen Generation, die ihr Zentrum in Taizé hat. Das letzte Treffen Ende 1997 in Wien versammelte an die 80.000 junge Menschen aus dem westlichen wie aus dem östlichen Europa zu einer Begegnung - mit allen Zeichen einer religiösen Erneuerung unter dem Stichwort "Versöhnung". Und das bedeutet wohl: Versöhnung der getrennten Christen; aber auch Versöhnung zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa.
Auch das Weltjugendtreffen im Sommer 1997 in Paris mit Papst Johannes Paul II. an der Spitze wurde - trotz aller Komplexität der Motive - zu einem Weltereignis. Die zahlreichen Kommentare, die sich in jenen Tagen in der Weltpresse fanden, mußten feststellen: Auch dies deute in Richtung eines - schwer erklärlichen - religiösen Aufbruches.
Daraus läßt sich weiter folgern: Wenn es den Kirchen nicht gelingt, in einem zukünftigen Europa den Menschen zur geistigen Entfaltung zu verhelfen, dann wird jener entwurzelte Typus sich ausbreiten, den wir heute schon oft vor Augen haben: Der sinnlose Mensch, der in seinem Leben kaum noch Sinn sieht, - der gewissenlose Mensch, der keine innere Verpflichtung mehr spürt, - der wertfeindliche Mensch, der über Werte und Ideale nur mehr müde lächelt, - der besinnungslose Mensch, der um Stille und Besinnung nicht mehr weiß, - der apathische Mensch, dem das geistige Rückgrat gebrochen wurde, - der aggressive Mensch, der seine innere Spannung und geistige Not an anderen abreagiert, - der wahrheitsunfähige Mensch ohne Überzeugungen, denn die Überzeugungen stammen aus der Begegnung mit der letzten und absoluten Wirklichkeit. In dem Maß, in dem der Mensch geistig verkümmert, werden die Probleme des künftigen Europa unlösbar werden.
Europa muß sich seiner Verantwortung bewußt sein. Denn kein Kontinent, kein anderer Erdteil, hat so viel zur Entdeckung und zum Ausbau der Welt beigetragen, - mit allen positiven, aber auch mit allen negativen Konsequenzen. Kein Kontinent hat durch seine geistigen und geschichtsmächtigen Kräfte so viel Einfluß ausgeübt wie Europa. Kein anderer hat so viel zum Wachstum der Welt beigetragen: durch seine philosophischen Ideen, seine Wissenschaft und Technik, seine Erfindungen und Forschungen, und durch sein Christentum, aber auch durch seinen Atheismus, Rationalismus und Materialismus.
Im Jahr 1977 erklärten die katholischen Bischöfe Europas auf einer Synode im damals noch geteilten Kontinent: "Die Menschen in Europa haben erkannt, daß sie nicht nur Verwalter der Vergangenheit, sondern Gestalter einer gemeinsamen Zukunft sind." Solches ist aber nicht so sehr Aufgabe des Kollektivs, sondern die der einzelnen Bürger.
Und heute müssen wir uns fragen: Sind wir, als Europäer und als Christen bereit, nicht "nur Verwalter der Vergangenheit, sondern auch Gestalter der Zukunft zu sein?" Die Bauleute eines neuen Europas, eines neuen "Hauses Europa", pochen bereits seit einiger Zeit auch an unsere Türen. Viele kommen und sagen uns: Man sollte, man müßte ...; es gibt viel Interesse, viel Hoffnung, viel guten Willen, aber nur wenige sind es, die selbst Hand anlegen und nicht nur Appelle an andere richten. Es genügt nicht, die wichtigen Probleme des gemeinsamen Marktes in Europa zu diskutieren; Europa braucht mehr noch ein gemeinsames Konzept, um die Vielfalt in der Einheit zu erkennen und in der Einheit die Vielfalt nicht zu unterdrücken, - mit anderen Worten: Europa braucht ein geistiges Antlitz. - Mit Nachdruck sei hingewiesen auf die elementare Bedeutung der Familie, auf den Schutz des menschlichen Lebens von seinem Beginn bis zum Ende, auf die Verantwortung der Lehrer in der Erziehung der Jugend; sei erinnert an die moralische Verantwortung einer sich überstürzenden Forschung; all das steht in Verbindung mit einem christlichen Welt- und Menschenbild, das an der geistigen Einheit Europas schon einmal so entscheidend mitgebaut hat.
Europa mit seinen christlichen Wurzeln legt immer noch den stärkeren Akzent auf das "mehr sein", als auf des "mehr haben". Die Realität einer einseitigen Wirtschaftsgemeinschaft bleibt nicht selten weit hinter der geistigen Dimension eines erhofften künftigen Europas zurück.
Das Verschwinden des Eisernen Vorhanges stellte die Macht und den Einfluß der Medien uns allen drastisch vor Augen. In jenen aufregenden Stunden 1989/90 sind von den Medien Signale ausgegangen, die Hoffnung weckten und Europa in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellten. Die wachsende Macht der Medien, die Welt der Medien, die in einem neuen Europa immer mehr Kommunikation und Verbindung schaffen wollen, wird als sensibles Instrument der Meinungsbildung von allen ein großes Verantwortungsbewußtsein verlangen. Die "Gute Nachricht" der Christen steht hier vor der Möglichkeit neuer Kanzeln, für die sie noch nicht gerüstet sind.
Der Weg nach Europa führt über Mitteleuropa
Im größeren Europa wird es darum gehen, den Weg Mitteleuropas oder Zentraleuropas nach dem ganzen Europa zu überlegen und zu verstehen. Denn die Situation der neuen Nachbarn konnte sich der westliche Teil Europas nicht aussuchen. Nachbarschaft bedeutet aber nicht nur wohlwollendes Interesse, sondern wann immer es notwendig ist, praktische Hilfe und Unterstützung. Es wird aber auch darum gehen, das Verhältnis von Staat und Kirche neu zu überlegen. Denn der Gesprächspartner wird in Zukunft nicht mehr der Staat allein, sondern der Kontinent sein.
Europa, das alles daransetzt, um seinen Weg zu finden, steht vor der großen Herausforderung, seine politischen Konzepte zu überdenken, seine wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, um in einem raschen Prozeß der Globalisierung bestehen zu können. Dabei darf aber Europa nicht eine Festung werden, wie es der Vertrag von Schengen zu signalisieren scheint.
Dieses Europa muß aber auch bedenken, daß Politik und Wirtschaft letztlich im Dienste des Menschen, in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtung stehen; jeder Mensch besteht aus Leib und Seele. Der anspruchsvolle Bereich des materiellen Wohlbefindens kann nicht losgelöst werden von seinem seelisch-geistigen Lebensbereich.
Die christliche Botschaft in Verbindung mit der Gottesfrage wurde das Fundament der europäischen Geschichte, des europäischen Weges. Europa muß und wird aus seiner Geschichte lernen, um so seinen Weg noch besser zu finden und zu gehen.
Aus österreichischer Sicht ergeben sich seit dem offiziellen Beitritt zur EU neue Fragen. Österreich ist durch seine Geographie und seine Geschichte eng verbunden mit Zentral- oder Mitteleuropa. In Österreich kennt man besonders deutlich die Schwierigkeiten der Ost-West-Spannung und ist daher auf der Suche, Wege der Verbindung zu finden. Und das bedeutet:
Erstens: Bereits im Jahre 1964, im noch zweigeteilten Europa, ergab sich durch die Gründung der Stiftung Pro Oriente eine Möglichkeit, aus mitteleuropäischer Sicht Brücken nach dem Osten zu bauen. Diese Wiener Stiftung erfolgte ohne Auftrag des Vatikans, wohl aber in einer beständigen Verbindung mit ihm. Die geographische und geschichtliche Position Wiens, einer Stadt, deren Name noch immer reinen guten Klang im Osten Europas hat, sollte so genützt werden für das ökumenische Gespräch, für ökumenische Begegnungen mit der Orthodoxie. Später ergaben sich solche Möglichkeiten auch in Verbindung mit den altorientalischen orthodoxen Kirchen des Ostens (Kopten, Syrer, Armenier, Äthiopier, Syromalabaren). Der Name Pro Oriente war daher gut gewählt. Wenn kürzlich Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel darauf hingewiesen hat, daß durch Pro Oriente ein "Dienst der Versöhnung" geleistet werde, wenn der Patriarch von Moskau und ganz Rußland, Aleksij II. von "hundertfältiger Frucht" durch die Tätigkeit von Pro Oriente sprach, dann ist damit die Brückenfunktion von Pro Oriente aus östlicher Sicht sehr gewürdigt worden. Wenn Huntington (a.a.O., 251, 508) von einer "historischen Scheidelinine" spricht, die "seit Jahrhunderten die christlichen Völker des Westens" von den "muslimischen und orthodoxen Völkern" trennt, so hat die Stiftung Pro Oriente als eine der ersten durch ihre ökumenische Arbeit in Mitteleuropa Brücken für das größere Europa gebaut.
Zweitens: Westeuropa ist nicht Europa, sondern nur ein Teil und kann nicht durch Geld und wirtschaftliche Dominanz allein den Weg Europas bestimmen. Der Wunsch und Wille der osteuropäischen Staatengruppe, in die EU aufgenommen zu werden, ist für die Zukunft Europas von großer Wichtigkeit. Wenn daher in Westeuropa die Finanzminister allein entscheiden und die Bedingungen für die Aufnahme vorschreiben, so kann das eine tiefe Enttäuschung und Abkehr Osteuropas von Europa fördern. Drittens: Die Geschichte Zentraleuropas ist noch immer eine Kraft, die Staaten und Nationen in der Mitte Europas in besondere Weise verbindet. Was in der Zeit der Habsburgermonarchie in Mitteleuropa aufgebaut wurde, besteht immer noch als ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit, über alle geschichtlichen Ereignisse hinweg. Österreich hat hier eine große Aufgabe: alte europäische Brücken wieder aufzubauen.
Viertens: Für Österreich ergibt sich daher die Notwendigkeit, das Interesse an den slawischen Sprachen im mittleren Europa zu wecken und zu fördern; es liegt nahe, der jungen Generation in Österreich zu empfehlen, eine slawische Sprache zu lernen.
Fünftens: Aus diesen Gründen geht für Österreich der Weg nach Europa über Mitteleuropa. Denn hier an der östlichen und südlichen Grenze Österreichs begegnen sich Christen verschiedener Konfessionen und Sprachen, germanische, slawische und romanische, die für die Geschichte Europas von besonderer Bedeutung waren und bleiben. Dies ist ein kultureller Reichtum, der für das künftige Europa heute in Westeuropa noch nicht ausreichend gesehen wird.
Europa sucht Menschen und Christen
Damit schlage ich das Buch der Kirchengeschichte auf: Der Apostel Paulus schrieb an die Christengemeinde in Kleinasien (Galather 6,7): "Täuscht euch nicht, Gott läßt seiner nicht spotten. Was der Mensch sät, das wird er ernten". Was unsere Väter, unsere europäischen Vorfahren, im Verlaufe des 18. bis hinein in das 20. Jahrhundert gesät haben, aus dem Geiste eines oft nicht mehr christlichen Humanismus - ich denke an Rationalismus und Nationalismus, oft in extremen Formen, - mußten wir nicht das alles ernten in den schrecklichen Jahren der beiden Weltkriege, wie auch in den Gefängnissen und Konzentrationslagern des Kommunismus? Es war eine "civitas terrena", die sich zum Ziel gesetzt hatte, die "civitas christiana" umzubauen und abzubauen.
Das christliche Welt- und Menschenbild Europas verbindet große Zeiträume. Johannes Chrysostomus, Patriarch von Konstantinopel und Zeitgenosse des jungen Augustinus, spricht, erstaunlich aktuell, zu den jungen und frei gewordenen Christengemeinden des oströmischen Reiches, er tut es auch für uns heutige; ich zitiere aus einem seiner Kommentare zu den Paulusbriefen: "Leuchtet wie Licht in der dunklen Welt ... man brauchte so etwas nicht zu sagen, wenn unser Leben wirklich leuchtete. Es brauchte keine Belehrung, wenn wir Taten sprechen ließen. Es gäbe keine Heiden, wenn wir wahre Christen wären, wenn wir die Gebote Christi hielten ... aber: dem Geld huldigen wir genauso, wie sie (d. h., die Heiden), ja, noch mehr als sie. Vor dem Tod haben wir Angst wie sie. Armut fürchten wir wie sie. Krankheit ertragen wir schwerer als sie ... wie sollen sie vom Glauben überzeugt werden? Durch Wunderzeichen? Wunder geschehen nicht mehr. Durch unser Verhalten? Das aber ist schlecht. Durch Liebe? Keine Spur davon ist zu sehen. Darum werden wir auch einst nicht nur über unsere Sünden, sondern auch über den Schaden Rechenschaft ablegen müssen, den wir angerichtet haben." - soweit Chrysostomus. - Was dieser am Beginn eines christlichen Europa gesagt hat, gilt auch heute unverändert für unseren neuen Weg in ein Europa der Zukunft. Das Entscheidende ist letztlich immer der Mensch und das, was er tut. Schöne Worte allein genügen nicht.