Die Theologie - eine gefährliche Wissenschaft
Man hat die Universitäten oft die Seismografen der geistigen Bewegung genannt. Sie müssen, wenn sie mitten im Leben stehen, wenn sie die Verbindung zur Welt nicht verlieren wollen, zuerst und am empfindlichsten Veränderungen in der geistigen Tektonik spüren und verzeichnen, weil sich an ihnen geistige Erschütterungen am spürbarsten auswirken.
Davon sind die theologischen Fakultäten nicht ausgenommen. Ja, gerade die theologischen Fakultäten stehen heute in einem besonderen Spannungsverhältnis und sind darum mancher Kritik und mancher Verdächtigung ausgesetzt, sind Gegenstand manch berechtigter und manch unberechtigter Sorge. Die allgemeine Unruhe hat auch die theologischen Fakultäten ergriffen. Was sind sie, was wollen sie sein? Sind sie Stätten der Forschung oder Hüterin einer Tradition? Sollen sie auf neuen Wegen nach neuen Erkenntnissen suchen oder sollen sie bloß das Überkommene weitergeben? Gibt es bei den theologischen Fakultäten eine besondere Grenze in der freien wissenschaftlichen Forschung, und wo liegt sie? Manche fürchten in einem gelegentlich mahnenden Wort der Kirche schon eine Beschränkung der freien Forschung, für andere wieder sind die theologischen Fakultäten Brutstätten neuer Häresien, geistige Infektionsherde, von der die Unsicherheit, die Unruhe, die Verunsicherung und die Auflösung des Glaubens ausgehen.
Aufgabe einer Universität ist die freie Forschung, die freie Lehre. Wenn eine theologische Fakultät im Rahmen einer Universität einen Sinn haben soll, dann kann und darf sie sich nicht der allgemeinen Zielsetzung der Universität verschließen. Wenn die Theologie Wissenschaft sein will - und nur als solche hat sie Existenzberechtigung an einer Universität -, dann gelten auch für sie die allgemeinen Voraussetzungen wissenschaftlicher und akademischer Tätigkeit. Wenn sie aber eine Wissenschaft ist, dann wird sie auch die Grenzen der Wissenschaft erkennen. Das Risiko der politischen Freiheit ist ihr Missbrauch. Das Risiko der freien Forschung ist der Irrtum. Wir sind heute weit entfernt von der Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts. Mit der Wissenschaft lassen sich nicht alle Probleme des Lebens lösen. Die Wissenschaft selbst ist nicht unfehlbar. Neue Erkenntnisse heben oft alte wieder auf. Eine Tabuisierung, eine Verabsolutierung wissenschaftlicher Teilerkenntnisse wäre der Tod jeder Wissenschaft.
Das gilt im besonderen auch für die Theologie. Jede neue Erkenntnis ist ein Schritt in Neuland. Er kann aber auch ein Schritt in die Irre sein. Das muss gerade die theologische Wissenschaft wissen. Nun wäre es aber vollkommen falsch, den Schritt ins Neuland nicht zu wagen, weil damit das Risiko des Irrtums mit eingeschlossen ist. Aber die Relativität wissenschaftlicher Erkenntnisse und Ausblicke muss gerade in der Theologie immer bewusst bleiben. Die Theologie soll keine Geheimwissenschaft sein, aber gerade sie verträgt am wenigsten eine vorschnelle journalistische Aufmachung und Verbreitung, eine dem Boulevard angepasste Verflachung und Vergröberung ihrer Versuche, ihrer tastenden Suche nach neuen Wegen und nach neuen Ausblicken auf der Suche nach letzten Ursprüngen und dem tiefsten Sinn menschlichen Lebens. Ein sich progressiv gebender Journalismus, ein bloß verbaler Progressismus hat dem wahren Fortschritt theologischer Erkenntnis vielleicht mehr geschadet als echte Reaktion.
Wir glauben heute nicht mehr an eine voraussetzungslose Wissenschaft. Jede Wissenschaft hat ihre Voraussetzungen, baut auf gewissen Grundlagen und Grunderkenntnissen auf. Die Voraussetzung der Theologie ist die christliche Offenbarung, der Glaube. Theologie, die sich vom Glauben loslöst, die vom Glauben absieht, den Glauben leugnet, mag Soziologie, vergleichende Religionswissenschaft, mag vieles sein, sie ist aber keine Theologie mehr. Die Theologie soll den Glauben erklären, ihn besser verstehen lassen, unnötiges und manchmal verfälschendes Beiwerk ausräumen, aber sie kann den Glauben nicht ersetzen. Sie kann auch den Glauben nicht widerlegen. Der Glaube ist keine tiefere und keine höhere, sondern eine vollkommen andere Dimension der Erkenntnis, des Zugangs zur Wahrheit. Der Glaube kann die Wissenschaft, und Wissenschaft kann den Glauben nicht überflüssig machen.
Die Voraussetzung der theologischen Wissenschaft ist der Glaube im Rahmen der Tradition der kirchlichen Lehre. Hier müssen die Grenzen allerdings weit gesteckt werden. Kirchliche Lehre muss nicht immer die herrschende kirchliche Lehrmeinung sein. Niemand soll verunsichert, soll verdächtigt, niemand soll verfolgt werden, weil seine Meinung - wenn sie nicht im Gegensatz zu den Grundwahrheiten des Glaubens selber steht, wenn er sie nicht absolut setzt - vielleicht in Konflikt mit der sogenannten herrschenden Lehrmeinung gerät. Er kann sich dabei auf die Gesellschaft großer Theologen und großer Heiliger berufen, die auch in Gegensatz zur herrschenden kirchlichen Meinung ihrer Zeit gerieten und später doch zu Lehrern der Kirche und zu Heiligen wurden.
Er kann aber auch im Irrtum sein. Der Irrtum ist das Risiko der Freiheit. Die Theologie ist keine Wärmestube für müde Geister, die Theologie ist eine gefährliche Wissenschaft. Sich ihr zu verschreiben, bedarf es des Mutes freier Männer, eines Mutes, der sein Korrelat nicht im Übermut, sondern in der Demut hat. Die Theologie darf man nicht aussperren von der Zukunft der Kirche, sie ist eine ihrer Voraussetzungen - nicht die einzige, aber eine notwendige. Ihre äußere Voraussetzung ist die Freiheit, ihre innere der Glaube. Ihr Weg wird nicht leicht sein. Aber welcher Weg ist heute leicht?