Das Kreuz hat zwei Balken
Die menschliche Entwicklung vollzieht sich in Wellen oder Pendelschlägen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Jede Zeit aber und jede Generation muss sich diese Erkenntnis zu eigen machen, sie immer wieder neu entdecken, um so der Gefahr zu entgehen, die Gegenwart für etwas ganz Besonderes, noch nie Dagewesenes zu halten, und die eigene Entwicklung für etwas entscheidend Neues anzusehen. Dass es nicht zur Wiederkehr des ewig Gleichen kommt, ist die Hoffnung, die der Christ hat, der im Ausschlag und Rückschlag, im Ausrollen und Einrollen keine sinnlose Wiederholung sieht, sondern eine notwendige Bewegung zu einem Ziel hin, in dem alles einmal seinen Sinn und seine Erfüllung finden wird.
Geistige, gesellschaftliche und politische Bewegungen laufen nicht so exakt ab, dass man ihre Phasen klar trennen kann. Sie überschneiden sich vielfach. Während wir noch in den Spätausläufern einer vergangenen Epoche leben und uns mit den Problemen der Gegenwart beschäftigen, die in eine andere, entgegengesetzte Richtung weisen, spüren wir bereits in der Zukunft jenen Wellenschlag, der uns Altes wieder als Neues bringen wird.
Was die Beziehungen zwischen Kirche und Politik, Kirche und Staat betrifft, so lebten wir - in verschiedenen Ländern zumindest - in der Spätphase einer engen Kooperation zwischen geistlicher und politischer Macht. Dieses Bündnis, diese Kooperation, diese Symbiose beginnt sich heute überall aufzulösen. Die Ereignisse in Spanien sind symptomatisch dafür. Auch manche Auseinandersetzung in Italien deutet ebenfalls auf eine Ablösung gewisser staatskirchlicher Tendenzen hin. Am Rande sei vermerkt, dass sich in kommunistischen Ländern des Ostens ein Neo-Josephinismus mit antikirchlichen Vorzeichen entwickelt. Er stellt die Kirche unter ein staatliches Reglement und versucht die Religion der Staatsräson unterzuordnen.
Ich möchte hier auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen Kirche und Politik in Österreich Bezug nehmen und auf die daraus sich ergebenen Tendenzen der jüngsten Zeit. Sie reichen über den engeren politischen Rahmen weit hinaus und scheinen in mancher Hinsicht symptomatisch zu sein für ähnlich gelagerte Entwicklungen in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern. Nach den leidvollen Wechselfällen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit dem besonderen Nahverhältnis der christlich-sozialen Partei Österreichs zur katholischen Kirche haben die Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit dann zu jenem inneren Wandlungsprozess geführt, den vorausblickende Männer - wie Prälat Michael Pfliegler - eingeleitet haben und der zum Rückzug der Kirche aus der Parteipolitik führte. Es gibt keine Partei, die in ihrem Namen das Wort christlich trägt. Es gibt keine Wahlhirtenbriefe, keine politischen Empfehlungen und keine politischen Verurteilungen von der Kanzel.
Diese Haltung der katholischen Kirche in Österreich hat im allgemeinen Zustimmung gefunden, sowohl in der Öffentlichkeit wie bei den politischen Parteien. Diese Haltung wird auch von der Österreichischen Volkspartei verstanden, die weitgehend das Erbe der Christlich-sozialen Partei übernommen hat und deren ältere Funktionäre nicht immer zwischen Partei und Kirche unterscheiden wollten.
Man hat diese Haltung der Kirche anerkannt, aber man hat zum Teil ganz falsche Schlüsse daraus gezogen. Um nur ja die Distanzierung von der Parteipolitik unter Beweis zu stellen, wurde es in der katholischen Laienbewegung nach dem Kriege Mode, Parteipolitik als etwas Unfeines, Unpassendes abzutun. Die Beschäftigung mit der Politik, vor allem mit der Tagespolitik, galt als eines Katholiken unwürdig. Wenn schon Politik, dann konnte sich ein Katholik eigentlich nur mit "Staatspolitik" befassen. So wurde "hochgestochen" und unbeholfen "Staatspolitik" im luftleeren Raum betrieben. Die praktische Tagespolitik aber als "politisch Lied - garstig Lied" beiseite geschoben. Die Katholiken waren im politischen Raum als Katholiken kaum mehr vorhanden. Die notwendige und heilsame Zurückhaltung der Kirchenführung bzw. der Bischöfe in Fragen der Tagespolitik wurde als politische Abstinenz der Katholiken missverstanden. Die Frage der christlichen Politik als spezifischer Auftrag an christliche Laien, das heißt: christliches Denken im politischen Raum zur Geltung zu bringen, wurde nicht verstanden.
Seit einigen Jahren setzt nun von anderer Seite eine rückläufige Bewegung ein. Die politische Abstinenz, die a-politische Haltung schlug in eine neue politische Ideologisierung der Religion um. In gewissen Teilen der katholischen Jugend wurde es modern, sich als "superlinks" zu geben. -
Flüchtete man früher vor den praktischen politischen Aufgaben des Tags in eine Art mystische Spiritualität, so hat es heute den Anschein, als ob man vor einer religiösen Besinnung und Einkehr in eine politische Aktivität flüchten wollte. Es gibt keine Protestresolutionen wegen irgendwelcher Missstände in der Welt, die nicht von manchen katholischen Organisationen mitunterzeichnet werden. Es gibt keine Demonstration, an der nicht auch katholische Jugendliche teilnehmen, keine linken Komitees, an denen nicht auch junge Katholiken mitarbeiten - wobei bedenkenlos, ja oft gedankenlos das ganze pseudorevolutionäre Vokabular, der verbale Progressismus von gestern übernommen wird. Für ein erträumtes anerkennendes Lächeln vom Stammvater Marx ist man bereit, der Mutter Kirche, der alten, verkalkten, dummen Mutter Kirche eine lange Nase zu drehen, sie herumzukommandieren und ihr mit Gewalt neue Kleider zu verpassen, am liebsten im Mao-Look.
Die Kirche ist nicht mehr die Gemeinschaft der Gläubigen, gebunden an das Wort Gottes, Verkünderin einer verpflichtenden Lehre, Anstalt des Heiles, Hüterin der Gnade - Religion ist nicht mehr "religio", das heißt, Bindung des Menschen an Gott. Die Frohe Botschaft ist nur mehr eine soziale Botschaft. Die Kirche hat, wenn überhaupt, nur dann einen Sinn, wenn sie Anstalt, Vorbereitung und Durchführung der Revolution ist. Die Theologie hat das Rüstzeug dazu zu liefern. Aus der Theologie der Erlösung wird eine Theologie der Befreiung. Der Glaube verflüchtigt sich, ist nur mehr persönliches Gefühl, nach Belieben interpretierbar als Motivation persönlicher Freiheit mit Ablehnung jeglicher Norm. Selbstverwirklichung soll zur Selbstbefreiung und zur Selbsterlösung werden. Die Religion hat die Schlagworte, die plakativen Forderungen für eine soziale Revolution zu liefern. Gleichzeitig aber wird sie für den einzelnen zur vollkommenen Privatsache. Mit der Distanzierung von der Institution Kirche geht Hand in Hand eine Distanzierung, eine Ablehnung der verpflichtenden Lehre und jeder bindenden Ethik. Die Sprengkraft des christlichen Liebesgebotes wird exerzierende Sprengung aller überkommenen gesellschaftlichen und moralischen Bindungen.
Ich habe hier bewusst überzeichnet. Aber das Pendel schlägt unverkennbar in diese Richtung aus. Ich verkenne nicht die ehrliche Überzeugung, die ehrliche Begeisterung, das ehrliche Wollen so vieler junger Menschen. Ich verkenne auch nicht, dass diese Entwicklung bis zu einem gewissen Ausmaß notwendig. ist. Aber ich fürchte, dass der Pendelschlag weit darüber hinausgeht. Jahrhundertelang hat sich die Kirche als Hort der bestehenden Ordnung - die ja immer in einem gewissen Maß auch eine bestehende Unordnung war - verstanden. Sollte sie sich heute nicht als Motor der Befreiung sehen? Lange Zeit stand das Leitwort "Rette deine Seele" im Vordergrund. Von der Seele, vom Leben des anderen war dabei kaum die Rede. Ist es da nicht notwendig, dass wir heute erkennen, man könne Christ nicht allein sein, sondern immer nur in der Gemeinschaft? Ich kann meine Seele nicht retten, wenn die Seele meines Mitbruders und sein Leib verloren gehen. Die Frage beim Gericht lautet ja nicht: Was hast du für dich, sondern: Was hast du für den anderen getan? Ja, der Nachholbedarf war groß, das Pendel musste in die andere Richtung ausschlagen! Aber wie weit und wohin? Es ist ein heroischer, aber auch ein tragischer Versuch, der hier unternommen wird, das Christentum zu retten, indem man den überkommenen Glauben, die überkommene Lehre, die überkommene christliche Ethik als nicht zeitgemäß aufgibt. War sie jemals - wann waren diese Dinge jemals zeitgemäß?
Sie wollen einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, aus sich selbst heraus. Wir wollen einen neuen Menschen bilden, der Sünde und Schuld nicht erkennt. Weil sie selbst Sünde und Schuld nicht kennen wollen, kennen sie auch nicht das, was letztlich den Menschen zum Menschen macht: die Geduld, die Einsicht, das Erbarmen, das Mitleid, den Zweifel. Sie wollen den Menschen befreien, aber der Mensch kann nur erlöst werden.
Das Kreuz ist nicht aus der Welt zu schaffen. Das Kreuz besteht aus einem waagrechten und einem senkrechten Balken. Wer das Christentum nur waagrecht, nur horizontal sieht, nur als soziale, revolutionäre Botschaft, als Aufruf zur Änderung der Welt, der sieht nur eine Seite, nur einen Balken. Ebenso wie derjenige, der nur den vertikalen, den senkrechten Balken sieht, das heißt: die Verbindung des einzelnen zu Gott. Wir haben vielleicht seit langer Zeit nur den senkrechten Balken gesehen. Viele wollen heute nur den waagrechten sehen. Beide aber und nur beide zusammen ergeben das Kreuz, an dem am Karfreitag der Erlöser gehangen ist und an dem für uns für alle Zeit die Erlösung hängt.
Das Kreuz abzuschaffen, das Kreuz wegzuschaffen, ist eine uralte Versuchung. Auch an Jesus ist sie herangetreten: "Stürze dich hinab vom Tempel, die Engel werden dich auf Händen tragen", sagte der Versucher zu Jesus. "Wann wirst du das Reich Israel wieder in Macht und Herrlichkeit aufrichten?" - so fragten die Jünger. Jesus hat beide Versuchungen von sich gewiesen: die Versuchung der überirdischen und die Versuchung der irdischen Macht. Das Reich Gottes kommt nicht mit Schaugepränge und nicht mit Partisanenkämpfen. Das Reich Gottes beginnt mit dem Scheitern, mit dem Zusammenbruch, mit der Verlassenheit, mit dem Kreuz. Vor dem Ostermorgen steht immer noch der Karfreitag.
Vor dem Kreuz Angst zu haben, vor dem Kreuz zu flüchten, ist menschlich. Auch Jesus hatte Angst. Aber jede Flucht kommt zu einem Punkt, wo sie sinnlos wird. Auch das soziale Engagement, der revolutionäre Elan kann zu einer Flucht werden - zur Flucht vor der Verantwortung für das persönliche Leben, zur Flucht vor der Verantwortung für dieses Leben vor Gott. So wie das "Rette deine Seele" zur Flucht werden kann vor der Verantwortung für den Mitmenschen.
Wer flüchtet, lässt ein leeres Haus zurück. Und in dieses leere Haus ziehen andere Geister ein. Die Flucht der Christen vor ihrer sozialen Verantwortung hat den Boden für den Marxismus bereitet. Die Flucht der Christen vor ihrer übernatürlichen Bestimmung lässt pseudoreligiöse Phänomene sich einnisten: vor der Astrologie über die Parapsychologie bis zu östlichen Heilslehren. Der Mensch hat ein religiöses Bedürfnis, einen religiösen Durst, der gestillt werden will. Eine religionslose Religion, ein religionsloses Christentum, ein total des Geheimnisses entkleideter Glaube kann das nicht. Eine pluralistisch aufgefächerte, ethisch unverbindliche Religion, die sich in sozialen Aktivitäten erschöpft und jeden Geheimnisses entkleidet ist, ist nicht gefragt, wird nicht gebraucht und hat keine Chancen.
Der Versuch, das wesentliche Christentum aus einer Zeit des vermeintlichen Verfalles der Religion heraus- und hinüberzuretten, der Versuch, ein religionsloses Christentum zu schaffen, ist ein tragischer, aber auch ein sinnloser Versuch. Das Christentum ist sicher nicht eine Religion wie jede andere. Das Einmalige am Christentum ist es, dass es Kunde gibt von einem unmittelbaren Eingreifen Gottes in die Welt und in die Geschichte - durch Jesus Christus. Das unterscheidet das Christentum grundsätzlich von anderen Religionen. Und doch ist das Christentum auch eine Religion mit Wundern, mit Erscheinungen, mit Geboten, mit Normen, mit Sünde, mit Schuld und Vergebung. Die verschiedenen Formen menschlichen religiösen Ausdrucks decken sich zum Teil mit den Ausdrucksformen auch bei anderen Religionen. Denn die menschliche Natur ist überall dieselbe. Das Christentum ist sicher mehr als irgendeine Religion. Es ist aber doch auch eine Religion. Eine Religion ohne Geheimnisse ist keine Religion. Eine Religion - und das gilt vor allem vom Christentum -, die die Möglichkeit des Wunders, also des direkten Eingreifens Gottes, prinzipiell als unmöglich ablehnt, ist keine Religion, kein Christentum. Das soziale Pathos allein ist kein Ersatz dafür.
Das Pendel schlägt aus: einmal nach links, einmal nach rechts. Die Welle rollt vor und rollt zurück. Manchmal fürchten wir, das Pendel könnte zu weit ausschlagen, die Welle zu viel aufwühlen. Das Pendel wird wieder zurückschlagen, die Welle wieder zurückrollen. Nach einer Zeit der Freizügigkeit wird wieder eine Zeit der Ordnung, nach einer Zeit der Selbstbestimmung eine Zeit der gesatzten Ordnung kommen. Dem Rationalismus wird die Mystik folgen, der Eigengesetzlichkeit die Norm. Auch sie werden ihre Gefahren haben. Jede eindimensionale Übertreibung kann den Menschen gefährden.
Sinnbild des Menschen - auch in seiner außermenschlichen und übermenschliche Bestimmung - ist das Kreuz: wo die Waagrechte und die Senkrechte, das Mitmenschliche und das Mitgöttliche im rechten Winkel zueinander stehen und sich gegenseitig überkreuzen. Aber erst in ihrer Verbindung wird das Kreuz, das Kreuz mit seinen zwei Balken.
zitiert nach: Franz Kardinal König, Der Mensch ist für die Zukunft angelegt. Analysen. Reflexionen. Stellungnahmen, Herder, 1975