Europäische Perspektiven am Beginn des dritten Jahrtausends
Zum ersten Mal - so höre ich - sind hier in St. Virgil die Vertreter der deutschsprachigen Kirchenpresse aus dem gesamten deutschen Sprachgebiet versammelt, um in der Vielfalt ihrer Aufgaben die Einheit zu überlegen, durch die sie miteinander verbunden sind. Ich freue mich aber, zu hören, dass auch Kollegen aus dem ehemaligen Osten hier anwesend sind: alle hier Anwesenden verbindet die Aufgabe als Journalisten, mit ihren nicht geringen beruflichen Anforderungen; zudem aber sind sie auch durch das Engagement im Laienapostolat der Kirche verbunden.
Das letzte Konzil hat in seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche ein etwas schief geratenes Bild der Kirche aus der Vergangenheit - ich meine, die Unterscheidung zwischen einer lehrenden und einer hörenden Kirche - durch den Hinweis auf das Laienapostolat korrigiert. Ich wiederhole daher aus dem 4. Kapitel dieser Kirchenkonstitution einen von mir schon öfters zitierten, wichtigen Satz (Nr. 33): "Die Laien sind besonders dazu berufen, die Kirche an jenen Stellen und in den Verhältnissen anwesend und wirksam zu machen, wo die Kirche nur durch sie Salz der Erde werden kann. So ist jeder Laie kraft der ihm geschenkten Gaben zugleich Zeuge und lebendiges Werkzeug der Sendung der Kirche selbst". Mit solchen Worten sind katholische Journalisten ohne Zweifel besonders angesprochen. - Der heute besonders zu beachtende ökumenische Aspekt findet sich dazu in dem beachtlichen Rundschreiben "Ut unum sint" Johannes Pauls II. (Nr. 3), wo es heißt: "Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche unumkehrbar dazu verpflichtet, den Weg der Suche nach der Ökumene einzuschlagen und damit auf den Geist des Herrn zu hören, der uns lehrt, aufmerksam die Zeichen der Zeit zu lesen."
Diese Zeichen der Zeit, die Sie bei Ihrem Treffen wohl nicht übersehen wollen, sind auch in der vor wenigen Tagen in Heiligenkreuz und Klein-Mariazell abgehaltenen Konferenz der österreichischen Bischöfe zu erkennen. In einer Schlusserklärung der österreichischen und der aus zehn östlichen Nachbarstaaten anwesenden Bischöfe heißt es da: Das Symposium sei zu Ende gegangen mit einem "uneingeschränkten Bekenntnis zur Integration Europas, diesseits und jenseits der sogenannten Schengen-Grenze". Die europäische Wiedervereinigung dürfe "weder in Frage gestellt, noch endlos verzögert wer-den".
Auffallend waren in diesen Tagen Wortmeldungen von Bischöfen aus den östlichen Nachbarstaaten. So hat zum Beispiel der ungarische Bischof Erdö von Stuhlweißenburg - er ist auch Rektor der neuen, erfolgreichen katholischen Universität in Budapest - in seiner Wortmeldung aufmerksam gemacht, dass man sich in der Zeit des Kommunismus in seiner Heimat wohl bewusst war, europäische Bürger zweiter Klasse zu sein. Schmerzlich, so fügte er hinzu, sei aber die Tatsache, dass solche Überlegungen nach wie vor im westlichen Europa Gültigkeit zu haben scheinen. Der polnische Erzbischof Muszynski aus Gnesen machte aufmerksam: Wir haben erwartet, dass man mit uns Polen darüber spricht, wie wir in die Europäische Gemeinschaft zurückkehren können, nicht, ob wir überhaupt das Recht hätten, uns dieser Gemeinschaft, aus der wir stammen, anzuschließen; das heißt mit anderen Worten: Es ist merkwürdig, wenn das westliche Europa sich so gebärdet, als ob es allein Herr über Europa und eine Europäische Gemeinschaft sei. - Und der griechisch-orthodoxe Metropolit Michael Staikos hat mit Nachdruck wieder darauf hingewiesen: Das orthodoxe Erbe, die orthodoxen Kirchen gehörten doch seit eh und je zu Europa. Die Geschichte Europas beginne nicht mit Kaiser Karl dem Großen, sondern bestand schon Jahrhunderte zuvor in Byzanz und im östlichen Europa.
Gewiss sind die wirtschaftlichen Aspekte und Sorgen rund um die Einigung Europas von großer Wichtigkeit, aber: Solche Stimmen aus dem Osten Europas, verletzte und gekränkte Stimmen, sagen uns im westlichen und nördlichen Europa: Der Eiserne Vorhang hat den Europa-Gedanken im Osten nicht zerstört, sondern gerade dort besonders bewusst gemacht. - Daraus folgt: Es gibt sehr wohl eine östliche und eine westliche Tradition auf dem europäischen Kontinent. Diese beiden widersprechen sich aber nicht, sondern sie sollen sich verbinden, wie zwei Lungen in dem einen Körper. Und Johannes Paul II. stellte aus seiner Sicht bei seinem letzten Besuch in Österreich fest: Österreich sei durch den Zusammenbruch des Kommunismus aus einem Grenzland zu einem Brückenland geworden. Und aus diesem Grund sei es nicht angezeigt, nur von Osterweiterung zu sprechen, sondern vielmehr von der "Europäisierung" des Kontinents.
In diesem Zusammenhang lassen Sie mich nun im Folgenden meine Überzeugung darlegen, in Form einer These: Der Weg nach Europa führt über Mitteleuropa. Dieser Weg aber ist nicht einfach; das sagen uns Namen wie Westeuropäische Union oder Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; das sagen uns Namen wie Europäische Gemeinschaft (EU), das sagt uns auch der 1993 abgeschlossene Vertrag von Maastricht zur Europäischen Union; das zeigen uns die Spannungen im Gefolge der Wiedervereinigung Deutschlands. Europa ist eben mehr als die Sorge um eine wirtschaftliche und politische Einheit des Kontinents, obwohl Fragen des Marktes und der Wirtschaft ohne Zweifel auch sehr wichtig sind. Die Zukunft des einen Europas aber hat die Vielfalt der Völker, Sprachen, Kulturen und Religionen in ihrer kontinentalen Verbundenheit besonders zu berücksichtigen. Und die grenzüberschreitende Verbundenheit der Christen ist gegen ein nationales Denken mit den damit verbundenen Spannungen gerichtet.
Der Eiserne Vorhang war gleichzeitig österreichische Staatsgrenze gegenüber den Tschechen, den Slowaken, den Ungarn, den Kroaten und den Slowenen. Die geschichtliche und menschliche Verbindung zu diesen Nachbarn wurde auf der anderen Seite besonders bewusst. Nur Radio und Fernsehen konnten diesen Eisernen Vorhang praktisch ohne Kontrolle überwinden und eine unsichtbare Verbindung von Diesseits und Jenseits der Grenze sicherstellen. Dies wurde für Österreich in Zentraleuropa von besonderer Wichtigkeit; denn ansonst bestand die Gefahr, dass der Eiserne Vorhang zu einer geistigen Mauer werde zwischen zwei gänzlich fremden Welten. Die Christen im östlichen Europa waren zum Schweigen verurteilt und wurden blutig verfolgt. – Der lautlose Zusammenbruch des Kommunismus, ganz ohne Gewalt von außen, hielt damals, zu Ende 1989/Anfang 1990 die ganze Welt in Atem. Denn so unglaublich und unwahrscheinlich schien das alles zunächst zu sein.
Der englische Historiker und Journalist Timothy C. Ash hat die erregenden Ereignisse der sogenannten "sanften Revolution" in Osteuropa, in Warschau, Budapest, Ostberlin und Prag, selber miterlebt. Im Schlusskapitel seines Büchleins: "We, the people", das er im Anschluss an jene Ereignisse geschrieben hatte, meinte er: „Die eigentliche Trennungslinie zwischen den beiden Teilen Europas verlaufe im Grunde zwischen jenen, die Europa haben und jenen, die an Europa glauben.“ – Ein Gegensatz, so füge ich hinzu, der bis heute noch immer nicht ganz überwunden ist. Und der allgemeine Eindruck war damals im Osten: „Was jetzt vor sich geht, ist einfach die Rückkehr nach Europa“. - Es wurde verstanden als eine Rückkehr der Sehnsucht und der Geschichte. Wirtschaftliche und politische Fragen spielten damals praktisch keine Rolle.
Der damalige polnische Regierungschef Mazowiecki, sowie der ungarische Ministerpräsident hatten am 29.,30.Jänner des Jahres 1990 ein Gesuch um eine formale Aufnahme in den Europarat vorgelegt. Vor der Straßbourger Versammlung erklärte damals der polnische Premier - ich zitiere den damaligen Bericht der Züricher Zeitung: "...Mit vornehmer Zurückhaltung, aber mit sichtbarer Ergriffenheit hat er von Polens Rückkehr nach Europa, von der Renaissance Europas überhaupt, gesprochen; denn dieses, nämlich Europa, hat ohne seine mittel- und osteuropäischen Glieder während der vergangenen Jahrzehnte gar nicht mehr voll existiert; - der Neuanfang nach dem Zusammenbruch bedeutete daher für jenen Teil Europas Rückkehr in das ganze Europa vom Atlantik bis zum Ural." – Damit kam aber auch die Sorge zum Ausdruck, dass der Westen in den vergangenen Jahrzehnten sich zu wenig um den Osten gekümmert hatte.
Nach Europa zurückkehren, musste aber auch heißen, das verschüttete christliche Antlitz dieses Kontinentes als seine Grundstruktur wieder zu entdecken. Denn der europäische Kontinent ist durch das Christentum tief geprägt. - Unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte die Regierung im Kreml (Juni 1988) der russisch-orthodoxen Kirche das Recht eingeräumt, das Millennium der Einführung des Christentums in Russland vor aller Welt zu begehen. Damit trat dort das orthodoxe Christentum und damit auch das slawische Element, erstmals, nach so vielen Jahren der blutigen Verfolgung, wieder in Erscheinung. Das heißt, vor 1000 Jahren hatte Russland, und in der Folge auch andere slawische Völker, das Christentum, das aus Byzanz im byzantinischen Kleid kam, angenommen. Aus diesem Anlass schrieb damals, im Jahr 1988, der lateinische Papst Johannes Paul II., - selbst ein Slawe unter Lateinern und ein Lateiner unter Slawen, - an den Patriarchen von Moskau: Die beiden großen Traditionen der christlichen Kirchen - die westliche und die östliche - gehören zusammen, und er fügte hinzu: "...so wie die beiden Lungen eines Organismus miteinander verbunden sind". Damit wollte er einerseits auf die Bedeutung des orthodoxen Christentums für die Geschichte Europas aufmerksam machen, andererseits darin neue Impulse sehen für das einst ungeteilte und gemeinsame Erbe der Christen.
In diesem Sinn hat auch der Prager Erzbischof, Kardinal Vlk, in einer seiner Publikationen festgestellt: angesichts der Tatsache, dass der größte Teil der Slawen zur orthodoxen Tradition gehöre, sei das slawische Element in Europa zu sehr an den Rand gedrängt gegenüber dem romanischen und germanischen Beitrag. Eine Eigenschaft der slawischen Seele sei, so der Kardinal, mehr in die Tiefe zu dringen, um spirituelle Werte zu erkennen. Auch das ist ein Gesichtspunkt, den man im Europa der Zukunft nicht übersehen darf. Denn das im Verlauf der Geschichte Europas gespaltene Christentum wird in Zukunft nur ökumenisch auf kontinentaler Ebene in Erscheinung treten. Damit werden wir aufmerksam gemacht, was das Christentum, vor allem auch das östliche Christentum, dem europäischen Kontinent, im Verlaufe der Zeit geschenkt hatte. Damit soll uns aber auch bewusst sein, was auf der anderen Seite der europäische Kontinent für das Christentum, sowohl im Westen, wie auch im Osten, bedeutet hat. Denn durch Jahrhunderte hindurch bestand zwischen Europa und der Christenheit eine wechselhafte, aber dauernde Verbindung. Es war kein Zufall, dass Jahrhunderte hindurch Kirche und Europa und in der Folge auch die an sich weltweite katholische Kirche eine europäisch geprägte Kirche zu sein schien, ja, als ident angesehen wurde. Die Missionare waren es, die das Bild der Kirche im europäischen Kleide in anderen Kontinenten bekannt machten. Es hatte wohl lange Zeit gedauert, bis sich in der katholischen Kirche selbst die Erkenntnis durchsetzte, dass die Kirche Jesu Christi mit ihrem Auftrag: „Geht hinaus in die ganze Welt!“ mehr sei als nur eine europäische Kirche.
Heute muss es daher Aufgabe der Christen sein, zu erkennen, dass sie nicht nur Verwalter der Vergangenheit, sondern auch Mitgestalter einer gemeinsamen Zukunft sein sollen. Und hier setzte das Interesse der Christen im ökumenischen, wie im interreligiösen Sinne, für ein zukünftiges gemeinsames Europa an. Aber aus den großen Erwartungen nach dem lautlosen wurden damals rasch enttäuschte Hoffnungen. An die Stelle der Euphorie trat Ernüchterung. Ein Vorhang des Misstrauens schien den Eisernen Vorhang zu ersetzen. Bald nach dem Zusammenbruch fragten sich die Menschen: Wo ist der Triumph der Demokratie? - Denn eine neue Tyrannei schien den Kommunismus abzulösen: Ein neuer Nationalismus mit Fanatismus und Intoleranz erhoben das Haupt. Nach dem Fall der Mauer wurde das Elend im Osten in den darauf folgenden Monaten nicht geringer, sondern größer. Die Enttäuschung im Alltag war nicht viel anders als früher unter den Kommunisten. Dazu kam Korruption und die Bildung von Banden, die in den Nachfolgestaaten, vor allem in den städtischen Gebieten, Angst und Unsicherheit vergrößerten.
Der Westen war verwirrt und schwieg. Er verstand nicht, dass in den nicht mehr kommunistischen Staaten jetzt ein langwieriger und sehr schwieriger Prozess eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbaues begonnen hatte. Dies bezog sich nicht nur auf den materiellen, sondern ebenso auf den menschlichen, den seelischen und geistigen Bereich. Diese Situation beleuchtet ein anschauliches Beispiel eines ostdeutschen Seelsorgers: er verglich die menschliche Verfassung und Situation der Menschen des ehemaligen Ostens mit einem Kranken, der 40 Jahre ans Bett gefesselt war und von dem man nun plötzlich erwartete, dass er einen raschen Lauf absolviere. Der Genesende versucht einige Schritte, versagt und sehnt sich dann wieder ins Bett zurück.
Auf eine materielle und vor allem moralische Unterstützung des Ostens hat sich der Westen leider erst spät besonnen – und manchmal habe ich den Eindruck, er ist sich heute noch nicht ganz im Klaren. - Der Osten war enttäuscht, dass er die vermeintlichen Segnungen des westlichen Wohlstandes nicht einfach mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhanges erreichen konnte. Und so schuf der Zusammenbruch im östlichen Europa jenes große Vakuum, schuf jene Perplexität und Verwirrung, die alles lähmte. Wie sollte man eine neue demokratische Ordnung aus dem Boden stampfen? Sektenführer, Abenteurer, Scharlatane nützten bereits im ersten Jahre ihre Chance.
Die Rückkehr nach Europa, die Geburt eines neuen, gemeinsamen Europas, war und ist ein schmerzlicher und langwieriger Prozess. Und dies fordert vom Westen des Kontinents ein besonderes Maß an Solidarität. Österreich ist hier, im Herzen Europas, nicht nur durch seine Geschichte, sondern auch durch seine geografische Verbundenheit besonders herausgefordert und sollte seine Brückenfunktion mehr als bisher erkennen.
Zwei Erlebnisse haben mir persönlich dafür die Augen geöffnet und mein besonderes Interesse für die Probleme der Menschen im europäischen Osten geweckt. Es war dies zum einen meine Fahrt zum Begräbnis des verstorbenen Kardinal Stepinac nach Zagreb in Kroatien im Jahr 1960. Ein schwerer Autounfall bei Varazdin brachte mich damals in ein kroatisches kommunistisches Krankenhaus. Der dortige Aufenthalt in einem kahlen Krankenzimmer mit einem Bild Titos an der Wand stellte mich vor die Frage, was dies für den Wiener Erzbischof wohl zu bedeuten habe. Nach meiner Genesung war es dann Papst Johannes XXIII., der mich Anfangs der 60er Jahre ermutigte, den in der amerikanischen Botschaft in Budapest verschanzten Kardinal Mindszenty zu besuchen. Dieser Besuch, an den sich viele andere Reisen in fast alle Staaten des Ostens anschlossen, öffneten mir die Augen für die damals kaum bekannte Situation der Kirche, sowie der Menschen im kommunistischen Machtbereich. Der Ausspruch eines Bischofs bleibt mir bis heute unvergessen, der sagte: „Gott sei Dank, dass Sie uns besuchen. Wir waren schon in Sorge, dass ihr, bzw. der Westen samt dem Vatikan, uns bereits abgeschrieben hättet.“ In diesem Moment wurde mir bewusst, - und ich habe das bis heute nicht vergessen, - welche Bedeutung das Interesse, die moralische Unterstützung aus dem Westen für den Osten hat.
Als dann die Stunde der Befreiung kam, als der Vorhang fiel, war mir klar, dass Österreich eine besondere Aufgabe zufallen würde, um im Westen um Verständnis für den Osten zu werben. Ich bin allerdings heute, nach gut zehn Jahren, nicht überzeugt, dass Österreich diese Chance wirklich wahrgenommen hat. Eine Chance, die für beide Teile von Nutzen wäre. Und ich darf hier erinnern: Österreich gehört nicht nur durch seine geografische Lage, sondern vor allem auch durch seine Geschichte zum Kern Mitteleuropas.
Und in einem größeren Europa wird es darum gehen, den Weg Mitteleuropas oder Zentraleuropas mit dem östlichen Europa, nach dem ganzen Europa zu überlegen und zu verstehen. – Europa, das alles daransetzt, um seinen Weg zu finden, steht vor der großen Herausforderung, seine politischen Konzepte zu überdenken, seine wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, um in einem raschen Prozess der Globalisierung bestehen zu können. – Ob der Vertrag von Schengen, ohne seine Bedeutung verringern zu wollen, für unsere östlichen Nachbarn sehr ermutigend und anspornend ist, möchte ich offen lassen. Bei allem Verständnis für den Schutz der Grenzen, darf das westliche Europa nicht den Eindruck erwecken, vor allem eine Festung zu sein.
Europa muss bedenken, dass Politik und Wirtschaft letztlich im Dienste des Menschen, in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen stehen; jeder Mensch besteht aus Leib und Seele. Der anspruchsvolle Bereich des materiellen Wohlbefindens kann nicht losgelöst werden von seinem seelisch-geistigen Lebensbereich. Hier sind die christlichen Kirchen in Europa angesprochen: Die christliche Botschaft, in Verbindung mit der Gottesfrage wurde das Fundament der europäischen Geschichte, des europäischen Weges. Und diese christliche Botschaft wird auch am Beginn des neuen Millenniums unverzichtbar sein.
Österreich ist nun seit einiger Zeit vollwertiges Mitglied der Europäischen Union. Daraus ergeben sich für unser Land einige, bisher zu wenig beachtete Folgerungen. Hier, an der ehemaligen Grenze zweier Welten sozusagen, ist man deutlicher konfrontiert mit östlichen, das heißt, vor allem slawischen Sprachen, mit den Folgen des Abendländischen Schismas von 1054, aus dem die Orthodoxen Kirchen hervorgegangen sind, mit der historischen Begegnung zwischen Rom und Byzanz, wie es uns der Balkan der Serben und Kroaten lebendig vor Augen führt, und wo in Bosnien und Herzegowina der Islam in der Vergangenheit eine Brückenfunktion zur westlichen Christenheit darstellte. Hier, in Österreich sollte man mehr als anderswo, die Schwierigkeiten einer östlich-westlichen Spannung erkennen und sich daher auch, mehr als anderswo, auf die Suche nach Wegen der Verständigung machen. Wer sollte besser um Verständnis für einen zweifellos schwierigen Prozess werben können, als Österreich, dessen Menschen durch die Last der Geschichte, aber auch durch ähnliche Mentalität, ja durch Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen die Grenzen nach dem Osten im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder überschritten haben. Und das bedeutet heute:
Erstens: Die Geschichte Zentraleuropas, durch Jahrhunderte die Geschichte des Habsburgerreiches, ist noch immer eine Kraft, die Staat und Nationen in der Mitte Europas in besondere Weise verbindet. Was in der Zeit der Habsburgermonarchie in Mitteleuropa aufgebaut wurde, besteht immer noch als ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit, über alle geschichtlichen Ereignisse hinweg. Österreich hat hier eine große Aufgabe: alte europäische Brücken wieder aufzubauen.
Zweitens: Mit dem Blick auf die Zukunft Europas und der jungen Generation auf diesem Kontinent ergibt sich daher die Notwendigkeit, bei unserer Jugend das Interesse an den slawischen Sprachen im mittleren Europa zu wecken und zu fördern; es liegt nahe, der jungen Generation in Österreich zu empfehlen, eine slawische Sprache zu lernen.
Drittens: Westeuropa ist nicht Europa, sondern nur ein Teil und kann nicht durch Geld und wirtschaftliche Dominanz allein den Weg Europas bestimmen. Der Wunsch und Wille der osteuropäischen Staatengruppe, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, ist für die Zukunft Europas von großer Wichtigkeit. Wenn daher in Westeuropa die Finanzminister allein entscheiden und die Bedingungen für die Aufnahme vorschreiben so kann das eine tiefe Enttäuschung und Abkehr Osteuropas von Europa fördern. Wer je persönlich im Osten erlebt hat, mit wie viel gutem Willen Menschen nach dem Gang durch die kommunistische Wüste ihren Staat und ihre Wirtschaft wieder aufbauen wollen, um das sogenannte „Europa-Niveau“ zu erreichen, der fühlt sich beschämt durch den Eindruck, dass der Weg nach Europa in erster Linie von den Finanzen abzuhängen scheint. Bei allem Verständnis für die Erfordernisse einer gesicherten Wirtschaft als Grundlage einer sozialen Ordnung in unserem Lande wäre, so glaube ich, ein wenig mehr Großmut und Bereitschaft zu direkter und moralischer Unterstützung ein Gebot der Stunde.
Viertens: Die christlichen Kirchen können hier viel mithelfen, durch ihre lebendige, grenzüberschreitende Glaubensgemeinschaft. In Österreich haben wir ein praktisches Beispiel: Bereits im Jahre 1964, im noch zweigeteilten Europa, ergab sich durch die Gründung der Stiftung Pro Oriente eine Möglichkeit, aus mitteleuropäischer Sicht Brücken nach dem Osten zu bauen. Diese Wiener Stiftung erfolgte ohne Auftrag des Vatikans, wohl aber in einer beständigen Verbindung mit ihm. Die geografische und geschichtliche Position Wiens, - einer Stadt, deren Name noch immer reinen guten Klang im Osten Europas hat, - sollte so genützt werden für das ökumenische Gespräch, für ökumenische Begegnungen mit der Orthodoxie. Später ergaben sich solche Möglichkeiten auch in Verbindung mit den altorientalischen orthodoxen Kirchen des Ostens (Kopten, Syrer, Armenier, Äthiopier, Syromalabaren). Der Name Pro Oriente war daher gut gewählt. Wenn Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel darauf hingewiesen hat, dass durch Pro Oriente ein „Dienst der Versöhnung“ geleistet werde, wenn der Patriarch von Moskau und ganz Russland, Aleksij II. von „hundertfältiger Frucht“ durch die Tätigkeit von Pro Oriente sprach, dann ist damit die Brückenfunktion von Pro Oriente aus östlicher Sicht sehr gewürdigt worden. Wenn Huntington in seinem bekannten Opus „The clash of Civilization“ (251, 508) von einer „historischen Scheidelinie“ spricht, die „seit Jahrhunderten die christlichen Völker des Westens“ von den „muslimischen und orthodoxen Völkern“ trennt, so hat die Stiftung Pro Oriente als eine der ersten durch ihre ökumenische Arbeit in Mitteleuropa Brücken für das größere Europa gebaut.
Fünftens: Aus diesen genannten Gründen geht der Weg nach Europa über Mittel- oder Zentraleuropa. Denn hier, an der östlichen und südlichen Grenze Österreichs begegnen sich Christen verschiedener Konfessionen und Sprachen, germanische, slawische und romanische, die für die Geschichte Europas von besonderer Bedeutung waren und bleiben. Dies ist ein kultureller Reichtum, der für das künftige Europa heute in Westeuropa noch nicht ausreichend gesehen wird.
An der Schwelle eines neuen Millenniums stellen wir fest: Das alte Europa ruht auf dem Erbe des Römerreiches, verbunden durch die Lebenskraft der römisch-germanisch-slawischen Völker, geprägt durch christliche Missionare aus Ost und West; unter ihnen ragt zur Zeit der Völkerwanderung der hl. Benedikt hervor. Er hat zu einer christlichen Prägung Europas durch seine Ordensregel, seine Lebensordnung eines „Ora et labora“, durch das damit bedingte Gleichgewicht zwischen Person und Gesellschaft, mehr beigesteuert, als man gewöhnlich annimmt. Weder der Glaube an Wissenschaft und Technik, noch Rationalismus und Aufklärung, weder der Furor des Nationalismus noch der Atheismus eines Nationalsozialismus und marxistischen Kommunismus, mit den Folgen der religiösen Gleichgültigkeit und Säkularisierung konnten das Fundament und die Wurzeln des alten Europas wirklich zerstören.
Heute haben wir, wie zur Zeit eines Benedikt, die Last und die Chance eines neuen Anfangs. Das Schicksal dieses neuen Europas liegt in unseren Händen.