Die gemeinsame Basis ist der Mensch
Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für die Einladung und ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, dass Sie mir Gelegenheit geben, heute kurz zu Ihnen zu sprechen.
Ein solches Gespräch zwischen Kirche und Gewerkschaftsbewegung - mein Vortrag ist ja nur ein Teil dieses Gesprächs - hat aber nur dann einen Sinn, wenn es in aller Offenheit geführt wird. Es hätte wenig Sinn, wenn die Gesprächspartner sich nur das sagen würden, was jeweils der eine vom anderen hören möchte, wenn man sich gegenseitig zum Zeugen für die eigenen Bestrebungen anrufen würde, eine durchgehende Gleichheit der Interessen und Zielrichtungen postulieren möchte, die es zwischen zwei so eigenständigen Institutionen wie Kirche und Gewerkschaftsbewegung nie geben kann. Wohl aber hat so ein Gespräch dann einen Sinn, wenn es den jeweiligen Standpunkt, den eigenen Aufgabenkreis und die besonderen Ziele klar herausstellt und herauszufinden versucht, wo Gemeinsamkeiten sind, wo Interessen parallel laufen und ob und wie weit Wege gemeinsam beschritten werden können. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass es bei Anerkennung der jeweils verschiedenen Aufgaben manche gemeinsamen Interessen zwischen Kirche und Gewerkschaftsbewegung gibt, dass wir auch dort, wo wir von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen, oft das gleiche Ziel anstreben. Nur müssen wir an diese Frage in aller Nüchternheit und in vollem Verantwortungsbewusstsein herangehen. Gerade die österreichische Arbeiterschaft und die österreichische Gewerkschaftsbewegung haben immer Verantwortungsbewusstsein und Nüchternheit ausgezeichnet. Gerade mit ihrem nüchternen Sinn für die Realitäten haben sich die österreichischen Arbeiter von Schwärmern distanziert. Auch die Kirche ist aus leidvoller Erfahrung heraus Schwarmgeistern immer sehr kritisch gegenübergestanden.
Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren, hier das Wesen der Kirche nicht erklären. Ich brauche es wohl auch nicht. Ich möchte aber zuerst, wenn Sie gestatten, auf ein immer wieder auftauchendes Missverständnis hinweisen und es zu klären versuchen, ein Missverständnis, das viel Verwirrung gestiftet hat. Es ist das Schlagwort von der politisierenden Kirche. Die Kirche ist nach ihrem Selbstverständnis von Jesus Christus gestiftet worden, um den Menschen die frohe Botschaft vom Reiche Gottes zu verkünden, das, wie er selbst gesagt hat, nicht von dieser Welt ist. Das ist die vertikale, über die Erscheinungswelt hinausreichende Zielsetzung der Kirche. Die Kirche als Institution, als Einrichtung, lebt in dieser Welt und sie muss in dieser Welt wirken. Jedes Handeln und Wirken in der Öffentlichkeit, in der Welt, ist Politik. In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne, handelt die Kirche politisch. Eine unpolitische Kirche wäre ebenso ein Unding wie ein unpolitischer Gewerkschaftsbund. Die Kirche solle sich um die Seele kümmern, sagen manche. Aber der Mensch ist immer eine Einheit von Leib und Seele. Seelsorge heißt daher immer auch Sorge um den ganzen Menschen. Der Kirche kann es nicht gleichgültig sein, wie die Welt aussieht, in der die Menschen leben, sie kann nicht die Augen verschließen vor dem Elend in der Welt, vor dem Hunger, vor dem Hass, vor dem Krieg, auch nicht vor der Ausbeutung in ihren vielfältigen Formen. Es ist ein alter christlicher Grundsatz: Die Gnade setzt die Natur voraus. Dort, wo den Menschen ihr natürliches Recht nicht [zugestanden] wird, können sie sich auch nur schwer auf ihre übernatürliche Aufgabe konzentrieren. In diesem Sinne, um es nochmals zu sagen, muss die Kirche immer auch politisch handeln. Es kommt nur darauf an, wie sie es tut.
Wenn der Erzbischof von Wien eingeladen wird, vor dem Vorstand des ÖGB zu sprechen, so ist das im Grunde auch ein politischer Akt. Wenn - rein äußerlich betrachtet - zwei so große Organisationen wie Kirche und ÖGB, deren Angehörige ja zu einem großen Teil dieselben Menschen sind, die aber sehr verschiedene Zielsetzungen haben, wenn diese beiden Organisationen versuchen, einen besseren Kontakt zueinander zu finden, versuchen einander besser kennenzulernen, immer im Interesse derselben Menschen, so ist das auch Politik. Sie wissen, dass diese Versuche einer Kontaktaufnahme nicht von heute und nicht von gestern sind, dass ich schon verschiedene Male bei Ihnen war und Sie auch bei mir. Sie können sich denken, dass dies mit Aufmerksamkeit und nicht immer und überall mit wohlwollender Aufmerksamkeit registriert wurde. Aber ich habe mich stets dazu bekannt und werde mich stets dazu bekennen. In diesem Sinne muss auch ein Bischof Politik machen. In diesem Sinne bin ich ein politischer Bischof. Aber ich bin kein politisierender Bischof! Ich bin kein Bischof der ÖVP und kein Bischof der SPÖ, kein Bischof der Unternehmer und keiner der Gewerkschafter, nicht ein Bischof der Bauern und nicht einer der Städter. Ich bin der Bischof aller Katholiken. Die Kirche ist für alle da, sie fühlt sich verantwortlich für alle Menschen, auch für jene, die ihr formell nicht zugehören.
Die Kirche, sagte ich, muss politisch handeln, sie darf aber nicht politisieren. Das politische Freund-Feind-Verhältnis kommt für die Kirche nicht in Betracht, da sie grundsätzlich für alle Menschen da sein muss und ihr Blick muss immer so klar sein, dass sie im vermeintlichen Gegner von heute den möglichen Verbündeten von morgen sehen kann. Von Otto Bauer stammt das Wort, dass es das Schicksal oder das Geschick der Kirche sei, immer gemeinsam mit dem Gegner von gestern sich dem Gegner von heute oder morgen zu stellen.
Dort, wo die Kirche Politik macht - ich brauche nicht zu betonen, dass ich hier unter Politik öffentliches Wirken und nicht Parteipolitik verstehe - wird sie sehr vorsichtig sein. Nicht aus taktischen Gründen, nicht um politisch zu lavieren, sondern aus dem einfachen Grund, weil ihr im Konkreten meist die Kompetenz dazu fehlt. Sie maßt sich nicht den Sachverstand an zu entscheiden, was ein Christ in jeder konkreten Situation und in jeder Frage tun soll oder tun darf. Der Einzelne kann und soll sogar sehr bestimmte politische Meinungen vertreten, aber er darf sich dabei nicht immer auf die Kirche und nicht auf die Gesamtheit der Gläubigen berufen. Man kann als Christ politisch sehr wohl verschiedener Meinung sein und kann als Christ seiner politischen Überzeugung in verschiedenen politischen Gruppierungen Ausdruck geben.
Sie werden vielleicht sagen, die Kirche habe nicht immer danach gehandelt. Das will ich nicht bestreiten. Wenn sie es nicht getan hat, wo sie sich zu sehr in Parteipolitik verstricken ließ, wo sie politisierte, hat sie auch schwer an den Folgen getragen. Man muss der Kirche zugestehen, aus eigenen Fehlern zu lernen. Auch sie ist einem Lernprozess unterworfen und sie weiß, dass sie in ihrem irdischen Handeln nicht unfehlbar ist.
Die Erste Republik und die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung waren ein solcher Lernprozess. Und ich hoffe, Sie werden mir zugeben, dass die Kirche einiges gelernt hat. Dass die österreichischen Bischöfe 1945 einen Beschluss aus dem Jahre 1934 erneuerten, ihren Priestern die Annahme eines politischen Mandates zu untersagen, war eine der Lehren, die aus der Vergangenheit gezogen wurden. Niemals mehr sollte es so sein, dass man in einem Priester den politischen Gegner sehen kann. Dass uns diese Tatsache heute als selbstverständlich vorkommt, ist ein Beweis dafür, dass wir heute in manchen Dingen anders denken als früher. Auch die Arbeiterschaft hat Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Ich meine zum Beispiel die Tatsache der Bildung einer einheitlichen österreichischen Gewerkschaftsbewegung. So wie die Einheit der österreichischen Gewerkschaftsbewegung im ÖGB wesentlich zu einer Stärkung der Position der Arbeiter und Angestellten in diesem Staate beigetragen hat, so glaube ich auch, hat der Rückzug der Kirche aus der unmittelbaren Parteipolitik zu einer Verbreiterung ihres Zugangs zu allen Menschen in diesem Land, gleich welcher politischen Überzeugung sie sind, geführt. Damit, so hoffe ich, ist deutlich geworden, dass es der Kirche um den Menschen und seine Probleme in erster Linie geht. Dabei wird die Kirche darauf achten, dass ihre Amtsträger immer so handeln, dass niemand ihre über den Parteien stehende Haltung anzuzweifeln vermag. Und Sie verstehen, dass sie auch keinen politischen Klerus mit umgekehrten Vorzeichen haben will.
Ich sagte vorhin, dass die Kirche in konkreten politischen Fragen kein Rezept anzubieten vermag, weil ihr dazu vielfach die nötige Sachkenntnis fehle. Sie wird daher in politischen Sachfragen eher zurückhaltend sein.
Nicht schweigen aber darf die Kirche, reden muss die Kirche, wenn es um die Grundfragen des menschlichen Lebens geht. Hier muss ihre Seelsorge auch Menschensorge sein. Ich bitte, mich zu verstehen, wenn ich vor Ihnen und gerade vor Ihnen, nicht schweigen darf zu einer Angelegenheit, in der viele von Ihnen wahrscheinlich anderer Meinung sind. Sie wissen, was ich meine, die in Gang befindliche Diskussion über die Frage der Abtreibung.
Sie kennen den Brief, den die Bischöfe an den Herrn Bundeskanzler geschrieben haben. Hier ist es die Pflicht der Kirche, mit aller Entschiedenheit darauf hinzuweisen, dass niemand das Recht habe, schuldloses Leben zu vernichten, dass das Leben allen heilig sein muss. Das klingt wie eine Phrase. Aber ich bitte Sie zu bedenken, wenn einmal der Grundsatz fällt, dass kein Mensch das Recht hat, über das Leben eines anderen Menschen zu verfügen, wie dieses Leben auch aussieht, dann schützt uns nichts mehr vor der totalen Verfügbarkeit, vor der totalen Manipulation des Menschen. Dann ist der Mensch Material, das nur nach seinem Nützlichkeitswert gemessen wird. Dann man kann mit uns alles machen. Das ist keine religiöse Frage, sondern eine menschliche, die uns alle angeht, wie sie uns vielleicht alle einmal persönlich betreffen kann. Es wäre sehr traurig, wenn das Prinzip der Unverletzbarkeit menschlichen Lebens nur eine Marotte religiös gläubiger Menschen wäre, wenn es die anderen gar nicht mehr als Problem sähen.
Darum geht es der Kirche: um den Schutz des Menschen, nicht um Strafbestimmungen, nicht um Paragrafen. Dies ist Sache des Staates, Sache der Volksvertretung. Die Kirche, oder die Bischöfe, wenn Sie wollen, machen keine Gesetze, sie haben sie auch nicht auszuführen. Die Kirche kann nur ihre Stimme erheben, bitten, beschwören, mahnen, warnen. Nicht aus eigenen eigensüchtigen, egoistischen Motiven, sondern als Stimme des Menschen. Sie kann sich prinzipiell nur an die Katholiken wenden, an jene, die sie hören wollen. Sie kann an ihr Gewissen appellieren, sie kann und sie muss dieses Gewissen auch schärfen, sie muss aufmerksam machen auf das, was auf dem Spiel steht. Sie muss das aber auch allen Menschen sagen, sie ist hier nicht nur die Vertretung ihrer Glaubensgemeinschaft, sondern das Gewissen der Menschen. Ist das hart, ist das doktrinär, ist das unmenschlich? Den armen Frauen gegenüber, die in schwerste Konflikte gestürzt werden und oft keinen Ausweg sehen; sollen sie angeklagt, bestraft, eingesperrt werden? Nicht strafen, helfen muss man hier. Aber nicht allein mit Worten, nicht mit frommen Sprüchen, nicht mit unverbindlichen Hinweisen. Helfen kann man nur durch die Tat. Das gilt auch für die Kirche und gerade für die Kirche. Wenn sie nicht imstande ist, ein großzügiges Hilfsprogramm in die Wege zu leiten, wenn sie nicht versucht, soweit sie kann, alle Fälle auswegloser Not und Verzweiflung aufzufangen, dann wird ihr bloßes Wort auch nicht mehr viel Kredit haben. Und ein solches großzügiges Hilfsprogramm ist in Vorbereitung.
In der Diskussion ist das Wort gefallen, die Kirche werde es sich wohl überlegen, wegen dieser Frage ihre guten Beziehungen zu Staat und Regierung aufs Spiel zu setzen. Dahinter steht die Meinung, die Kirche werde es sich schon arrangieren, mit der Kirche werde man auch hier auf gleich kommen. Das ist ein großes Missverständnis. Weil ich hier über Kirche und Gesellschaft zu Ihnen spreche, glaube ich, dass es meine Pflicht ist, auch darüber offen zu reden. Natürlich ist die Kirche an guten Beziehungen zu Regierung, Staat und Gesellschaft interessiert. Natürlich anerkennt sie dankbar, dass sie in Österreich in Frieden und Freiheit arbeiten kann, dass der Staat ihr in vielen Fällen Hilfe und Unterstützung gewährt.
Aber in grundsätzlichen Fragen kann sich die Kirche nicht arrangieren, auch nicht um des guten Einvernehmens, auch nicht um des lieben Geldes willen, das dahintersteckt. Auch dann nicht, wenn es ihr leid tun sollte, dass deswegen ein gutes Einvernehmen getrübt werde. Die Kirche ist nicht in allen Fragen Herr ihrer eigenen Entscheidungen, sie ist gebunden an ein Gesetz, das sie nicht ändern kann und das sie auch nicht mit Taktik überspielen kann. Als "Geschäftspartner" in Grundsatzfragen, die die natürliche und übernatürliche Bestimmung des Menschen betreffen, ist die Kirche ungeeignet, weil sie sich immer auf eine höhere Instanz berufen muss, die letztlich doch nicht zu umgehen ist, die außerhalb ihrer Einflusssphäre liegt und mit der man auch nicht paktieren kann: nämlich auf Gott.
Entschuldigen Sie, wenn ich auf diese Frage ausführlicher eingegangen bin, aber es wäre mir unehrlich erschienen, sie gerade vor diesem Forum zu umgehen. Denn sie ist nicht nur derzeit sehr aktuell, sondern sie berührt auch im Grundsätzlichen die Möglichkeiten und die Grenzen, die der Kirche im Verständnis der Gesellschaft gesetzt sind. Die Kirche kann im Grundsätzlichen keine Arrangements treffen, keine Geschäfte machen.
Aber die Kirche will Partnerin sein in vielen praktischen Fragen, sie sucht diese Partnerschaft auch mit einer so bewährten und verantwortungsbewussten Institution wie dem Gewerkschaftsbund. Die gemeinsame Basis, wo wir uns treffen können, ist der Mensch. Wir kommen auf verschiedenen Wegen her, aber uns beiden geht es um den ganzen Menschen. Gewiss ist die Gewerkschaftsbewegung in erster Linie dazu da, die sozialen und materiellen Rechte der Arbeiter zu schützen und auszubauen. Aber Sie als Gewerkschafter wissen, dass es mit Lohnerhöhungen allein nicht getan ist, oder wie es in der Bibel heißt: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein." Sie haben sich daher auch um viele andere Fragen angenommen, um Fragen der Bildung, der Freizeitgestaltung, der Mitbestimmung im Betrieb. Die Frage der Erwachsenenbildung ist etwas, das uns beide interessiert. Die Fortbildung des Menschen hört mit dem Ende der Schulpflicht nicht auf. Nicht für das berufliche, nicht für das religiöse Leben. Jede Möglichkeit einer Vertiefung und Erweiterung, eines zweiten Bildungsganges, kann von der Kirche und der Gewerkschaftsbewegung nur begrüßt und unterstützt werden. Was die Freizeit betrifft, so sehen wir uns heute der Gefahr gegenüber, dass sie zu einem bevorzugten Gebiet moderner Ausbeutung zu werden droht. Hier geht es um den Schutz der Freiheit vor einer gewissenlosen Manipulation. Um die Freiheit und nicht gegen die Freiheit geht es uns, wenn sich die Kirche wehrt gegen die raffinierte Ausbeutung durch eine gewissenlose Porno-Industrie, die Entwertung jeder echten Erotik durch einen kommerzialisierten Sex. Wenn ein erwachsener Mensch daran Freude findet, so mag das seine Sache sein. Aber die Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo sie den anderen belästigt, wo sie Kindern und Jugendlichen, die nicht unterscheiden können, ein falsches, weil wertverkehrtes Menschenbild vermittelt.
Ohne den Versuch, seinem Leben Sinn zu geben, ohne Verantwortung zu tragen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben, kann der Mensch auf die Dauer nicht leben. Es war und bleibt das große Verdienst auch der österreichischen Sozialdemokratie, ein verzweifeltes, ohne Hoffnung dahinvegetierendes Proletariat zu Selbstbewusstsein, Verantwortung, gesellschaftlicher und politischer Reife geführt zu haben, den Arbeitern wieder ein Ziel gezeigt zu haben, für das es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. Soll diese große Erziehungsaufgabe heute zunichte gemacht werden durch eine neue, raffinierte und vielleicht noch gefährlichere Ausbeutung? Soll der Sinn des Lebens nur mehr darin liegen, mehr zu produzieren, um mehr konsumieren zu können? Es soll hier nicht einem Konsumverzicht das Wort geredet werden, aber dass das nicht alles sein kann, das mehr Haben und mehr Genießen, das ist uns allen bewusst. Es ist uns allen bewusst, dass es noch etwas geben muss, was darüber hinaus liegt. Die Kirche will hier nicht auf Seelenfang ausgehen. Sie kann auch hier nur anbieten: nachdenken muss der Mensch selbst.
Die Gewerkschaftsbewegung hat die österreichische Arbeiterschaft zur Verantwortung erzogen. Der ÖGB ist nicht nur eine sehr mächtige, sondern stets eine sehr verantwortungsbewusste Institution gewesen. Wenn unsere Verhältnisse stabil erscheinen, unser sozialer Friede nicht gestört, wenn Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden, wenn wir in den Augen vieler - auch der Papst sagte es kürzlich - ein glückliches Land sind, dann ist es nicht zuletzt der verantwortungsbewussten Politik des ÖGB zu verdanken. Wer sich in der Verantwortung bewährt hat, der kann auch mit Recht verlangen, mitzubestimmen. Der ÖGB macht das im großen Rahmen der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter haben auch in den einzelnen Betrieben bewiesen, dass sie fähig sind, Verantwortung zu tragen. Es ist daher verständlich, wenn sie erwarten, dass man sie auch in den Fragen, die sie unmittelbar betreffen - organisatorisch und sachlich abgestuft - mitbestimmen lässt.
Aber wir leben nicht allein in der Welt. Österreich ist keine Insel der Glückseligen. Solange es Not, Hunger und Unterdrückung in der Welt gibt, können wir uns nicht in unser Schneckenhaus zurückziehen. Gewerkschaft und Kirche könnten in vielen Dingen, wo es sich um geistige und materielle Entwicklungshilfe handelt, zusammenarbeiten. Aber wir brauchen gar nicht in andere Kontinente zu gehen. Die Art, wie manchmal Gastarbeiter bei uns behandelt werden, spricht nicht für die vielgerühmte österreichische Gastfreundschaft. Ich bitte Sie, auch hier die vielbewährte Solidarität der österreichischen Arbeiter einzusetzen, um manchen argen Übelständen abzuhelfen. Helfen wir beide zusammen. Auch hier ist es der Mensch, um den es geht, der Arbeiter, der Christ, der Bruder.
Der Mensch will seinem Leben einen Sinn geben, will Verantwortung tragen, will mitbestimmen, er will in Freiheit leben. Vor über 20 Jahren haben sich die österreichischen Katholiken im sogenannten Mariazeller Manifest ein Programm gegeben, das seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat. Es trägt den Titel "Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft". Die Kirche kann nur frei sein, wenn die Gesellschaft frei ist. Die Demokratie ist der Mutterboden, aus dem wir leben. Hüten wir sie gegen alle Versuche, sie umzufunktionieren, sie auszuhöhlen, sie zu untergraben. Die Gewerkschaftsbewegung ist eine der Säulen dieses Staates. Sie wird auch ein Wächter der Demokratie sein. In dem erwähnten Mariazeller Manifest heißt es von der Kirche: "Die Brücken in die Vergangenheit sind abgebrochen, die Fundamente für die Rückkehr in die Zukunft werden heute gelegt. So geht die Kirche aus einem versinkenden Zeitalter einer Epoche neuer sozialer Entwicklung entgegen." Das klingt etwas pathetisch. Wir würden es heute vielleicht etwas nüchterner sagen. Wir alle sind auf dem Weg in die Zukunft. Wie diese Zukunft aussieht, wird von uns abhängen. Das Ziel ist eine höhere Stufe des bewussten Lebens, eine neue Lebensqualität, ein Lebenssinn, Würde und Freiheit, ein menschlicheres Leben. Sollten wir da nicht zusammen gehen, ein gutes Stück zumindest? Sie, die Gewerkschaft, wir, die Kirche. Es geht um den Menschen, dem wir beide dienen wollen.
Denn, um mit einem Text aus dem II. Vatikanischen Konzil, aus der Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, abzuschließen: "Der Wert des Menschen liegt mehr in ihm selbst als in seinem Besitz. Ebenso ist alles, was die Menschen zur Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtung tun, wertvoller als der technische Fortschritt. Dieser technische Fortschritt kann nämlich gewissermaßen die Basis für den menschlichen Aufstieg bieten; den Aufstieg selbst wird er von sich allein aus keineswegs verwirklichen."