Über das Unbehagen in unserer Gesellschaft - Hoffnung auf seine Überwindung
Zunächst möchte ich Ihnen herzlich danken für die Einladung, vor einem so prominenten Kreis wirtschaftlicher Fachleute, die einen tiefen Einblick in die wirtschaftlichen und auch in die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Landes haben, das Wort zu ergreifen. Mein Anliegen ist es, zu Ihnen über das Unbehagen in unserer Gesellschaft, seine Ursachen und seine mögliche Überwindung zu sprechen. Es ist dies ein Thema, das für jeden Wirtschaftsfachmann von Bedeutung ist und das jeden Christen, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist, angeht.
Das Unbehagen in der Gesellschaft ist Ausdruck der Krise unserer Zeit. Mit dem Worte Krise verstehe ich nicht so sehr - im politischen Sinne - einen ausweglosen Zustand aus einer Pattstellung. Ich fasse das Wort hier, wie üblich, allgemeiner, als Störung, Rückschlag, als eine Zeit der Unsicherheit, aber auch Zeit der möglichen Genesung auf.
Der Elan der Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist brüchig geworden. Es gibt daher ein unbestimmtes Gefühl, dass nichts mehr richtig läuft. Pessimismus und Zukunftsangst breiten sich aus. Unsere Literatur ist der beste Spiegel dieser Stimmung. Eine Zeit der Krise, das zu betonen scheint mir wichtig, ist immer auch offen für Entwicklungen zum Guten wie für Entwicklungen zum Schlechten, Negativen. Die Entscheidung, in welche Richtung es weitergeht, liegt in unser aller Hände. Wir können uns zum Guten oder zum Bösen entscheiden. Es sind also keine unerbittlichen Gesetze historischer Entwicklung, keine ausweglosen Zusammenhänge, die uns in die Krise geführt haben. Unzählige Entscheidungen, mit Willen und Vernunft begabter Menschen, haben diese Entwicklung mitbestimmt und bestimmen sie nach wie vor.
Die Symptome des Unbehagens in unserer Gesellschaft haben ihre Wurzel nicht zuletzt in einer Krise des Vertrauens und damit auch in der rechten Rangordnung der Werte. Ich meine damit vor allem die Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden und demokratische Toleranz. Der Begriff Solidarität schließt auch das Gebot der christlichen Nächstenliebe wesentlich ein. Wenn solche Werte nicht außer Streit gesetzt sind, einem vordergründigen Nützlichkeitsdenken weichen müssen, so gerät vieles ins Wanken, das Unbehagen wächst. Eine rechte Rangordnung der Werte, Abbau des Misstrauens, setzt rechtes Erkennen und rechtes Handeln voraus. Recht handeln, nicht nur sachlich richtig handeln, heißt, sich nach ethischen Grundsätzen orientieren. Ethik hängt wiederum mit dem Gewissen zusammen und dem daraus fließenden Wissen um Gut und Böse. Dieses Wissen um die menschliche Möglichkeit, gut oder böse zu handeln, ist ein Urphänomen des Menschen und seiner Geschichte in allen Kulturbereichen. Das rechte Menschenbild ist weiter die Entscheidungsnorm, nach der ich mich richte, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Aus dem christlichen Menschenbild leiten wir Würde und Grundrechte des Menschen ab. Das rechte Menschenbild, entweder im Sinne des Humanismus oder eines christlichen Menschenbildes, steht mir dabei als Ziel vor Augen, wenn ich trachte, mit meinem Handeln und Entscheiden das zu erreichen, was sein soll - die richtige Sollordnung. Ethisch richtig handeln - dazu zähle ich auch das Ringen und das Sich-Bemühen, nicht immer der Erfolg, ist wertvoll, schafft Werte und bedingt das sogenannte menschliche Ethos.
In der richtigen Ordnung des Wollens und Handelns des einzelnen wie der menschlichen Gemeinschaft ergibt sich daher eine Seins- und Sollordnung, die der Leib- und Geistnatur des Menschen entspricht.
Österreich hat in den vergangenen Jahrzehnten eine großartige materielle Aufbauleistung vollbracht, auf die unser Land stolz sein kann. Dass diese Aufgabe so glänzend gelöst werden konnte, ist nicht zuletzt dem Einsatz der österreichischen Kreditwirtschaft zu danken. Ich darf das als Nichtfachmann sagen. Wenn Österreich in internationalen Statistiken in Bezug auf Inflationsbekämpfung, Arbeitslosigkeit usw. zu den Ländern mit positiven Fakten zählt - noch immer zählt -, dann erfüllt uns das mit Genugtuung. Dies ist das Ergebnis der Leistungen aller Menschen in diesem Lande; der Politiker wie der Wirtschaftstreibenden, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, der Bauern und Angehörigen der freien Berufe. Doch auch wirtschaftliche Kennzahlen, die sich in Zeiten internationaler Krisen vergleichsweise immer noch recht positiv ausnehmen, sagen nichts darüber aus, ob es uns zudem gelungen ist, eine wahrhaft menschenwürdige Gesellschaft zu schaffen. Die Zahl der Einfamilienhäuser, der Autos, der TV-Apparate ist ein Indiz für den materiellen Wohlstand des Landes, aber nicht dafür, wieweit dieses materiell abgesicherte Leben die Menschen erfüllt und glücklich macht. Das besagt nichts gegen die materiellen Werte, sondern es geht, wie es sich zeigen wird, um die rechte Einordnung dieser Werte. Das Wort des Evangeliums: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, hat noch nie seine Wahrheit so unter Beweis gestellt wie gerade heute - nicht zuletzt auch in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft, in der das Brot des Menschen gesichert erscheint.
Es wird niemand leugnen, dass frei sein von materieller Not allein noch kein menschenwürdiges Dasein ausmacht. Aber die Konsequenz daraus wird in der Praxis viel zu selten gezogen. Das gilt sowohl für die Gestaltung des persönlichen Lebens als auch für den Aufbau der Gesellschaft. Das Unbehagen der Jugend, der Ruf nach Alternativen in der jungen Generation, ist ja nicht zu übersehen und nicht zu überhören, hat hier eine seiner Wurzeln. Das Unbehagen an einer Gesellschaft, die dem materiellen Wert mitunter in krasser Weise den Vorrang eingeräumt hat, macht sich in der jungen Generation stark bemerkbar. Ohne mich mit der Zielsetzung dieser verschiedenen Proteste identifizieren zu wollen, meine ich doch, dass darin ein menschliches Grundbedürfnis sich ausdrückt: nämlich das Bedürfnis nach einem Leben und nach einer menschlichen Gemeinschaft, in der die rechte Rangordnung der Werte wieder hergestellt ist. Dass die Protestierer aller Art gegen das Diktat des praktischen Materialismus ihrerseits von dieser wichtigen Ordnung der Werte oft selber weit entfernt sind, gehört mit zum Bild des Unbehagens in unserer Gesellschaft.
Es gilt, im Leben des einzelnen und im Leben der Gesellschaft die Akzente anders zu setzen, als wir es lange Zeit hindurch gewohnt waren. Das Dasein des Menschen verarmt, wenn es auf Anhäufung von materiellem Besitz allein reduziert wird. Das menschliche Dasein verarmt, wenn das Streben nach materiellem Erfolg zur alleinigen Triebfeder des Handelns wird, der alle anderen Werte und Lebensinhalte untergeordnet werden.
So kommt es, dass wir die Explosion eines ungezügelten Egoismus der Einzelnen und der Gruppen erleben. Der Gedanke des Gemeinwohls verblasst, die Nächstenliebe überlässt man gern den dazu besonders Berufenen. Es geht fast ausschließlich um die Erringung von Vorteilen für die eigene Person, für die eigene Gruppe. Es ist selten geworden, dass in der Öffentlichkeit von Opfer und Verzicht geredet wird. Und doch funktioniert unsere Gesellschaft nur deshalb, weil viele Menschen in allen Bereichen das Wort Opfer nicht, oder noch nicht, aus ihrem Wortschatz gestrichen haben.
Wir erleben aber auch eine Krise der Verantwortung. Die Verantwortung wird auf anonyme Gruppen, auf "die Gesellschaft" abgeschoben. Es ist so, als ob die Gesellschaft eine mythische Größe wäre. Weil der Erfolg zum Götzen wurde, hat sich die Formel eingebürgert: Gut ist, was Erfolg bringt. Inzwischen haben viele eingesehen, dass auf die Dauer ein Erfolg, der ohne Beachtung der Grundregeln ethischen Handelns errungen wurde, sich leicht als Scheinerfolg herausstellt.
Die allgemeine Unsicherheit hat auch vor dem innersten Lebensbereich des Menschen, vor dem Zusammenleben der Geschlechter und Generationen in der Familie nicht Halt gemacht. Die Familie beginnt unter dem Druck der spätindustriellen Entwicklung Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Das gilt auch für Österreich. Ich freue mich, dass es trotz aller sogenannter spektakulärer Verfallserscheinungen, noch so viele gute Familien gibt. Die Familie ist die unersetzbare Schule der Einübung in die grundlegenden Werte des menschlichen Zusammenlebens: Das ist Liebe, Toleranz, Verzichtenkönnen, Zusammenarbeit, Opfer, Überwindung des Egoismus, aber auch Freude und Bereitschaft zum Teilen. All das lernt man am besten und leichtesten in der Familie. Die Familie ist der wichtigste Ort der Erziehung für die nachwachsenden Generationen. Wenn die Familien funktionieren, wird ein ungeheures Kapital an Wertbewusstsein aufgehäuft, von dessen Zinsen auch die Menschen in schwierigen Zeiten profitieren können.
In dieser Sicht unterstützt die Kirche die recht verstandene, ich wiederhole, die recht verstandene Emanzipation der Frau; so wie sie auch die Emanzipation aller Menschen unterstützt, die unterprivilegiert, diskriminiert und in ihren Rechten verletzt sind. Die Kirche begrüßt es daher, wenn die Gleichberechtigung von Mann und Frau verwirklicht wird, wenn die Frau uneingeschränkt Zugang zu Bildung, Beruf, Karriere und politischen Funktionen erhält. Sie begrüßt es, wenn sie vor allem auch gleichen Lohn für gleiche Leistung erhält. Die Kirche macht sich auch zum Anwalt jener Frauen, die ihre Aufgabe und ihre Selbstverwirklichung nicht im Beruf außer Haus, sondern im Dienst an der Familie und besonders an ihren Kindern sehen. Auch diese Leistung gilt es, gerecht zu bewerten. Auch diese Leistung muss anerkannt werden. Sie darf nicht durch drastische Senkung des Lebensstandards der betroffenen Familie sozusagen bestraft werden.
Die Arbeit der Hausfrau und Mutter ist ein Hinweis darauf, dass unser Arbeitsbegriff vielleicht revidiert werden muss, wenn wir das Unbehagen in der Gesellschaft überwinden wollen. Zu lange galt nur das als Arbeit, was wirtschaftlich messbar ist. Papst Johannes Paul II. hat in seinem Sozialrundschreiben Laborem exercens für einen Arbeitsbegriff plädiert, der jede Tätigkeit des Menschen einbezieht, und es scheint mir für unsere Zeit und Gesellschaft sehr wichtig zu sein, dass man von einem einseitigen Arbeitsbegriff abgeht und jede Tätigkeit des Menschen als Arbeit bezeichnet, weil das ja Mitarbeit an der Ausgestaltung der Schöpfung ist.
Zu den Werten der Familie, die im Nützlichkeitsdenken unserer Zeit unter die Räder zu kommen scheint, gehört auch das Zusammenleben der Generationen. Wenn es heute weithin üblich geworden ist, dass die Jungen neue Wohnungen in den Stadtrandsiedlungen beziehen und die Alten in ihren Althauswohnungen bleiben oder in Heime abgeschoben werden, dann ist die Folge, dass die Generationen nicht nur räumlich auseinandergerissen werden. Diese Trennung, diese künstlich herbeigeführte Distanz, bringt auch eine menschliche Verarmung mit sich. Das gilt sowohl für die Alten wie für die Jungen. Die Stadtrandsiedlungen, in den Großmütter und Großväter fehlen, und die von den Jungen entvölkerten Althäuser, in denen Kinderlachen nur mehr bei gelegentlichen Besuchen zu hören ist, haben beide etwas Trostloses an sich. Darauf wieder Bedacht zu nehmen, wird auch Aufgabe einer Stadtplanung sein. Es ist für mich interessant, dass in verschiedenen Kreisen, wo man es gar nicht erwartet, gerade diese Feststellung wieder zu hören ist, dass die Großeltern, die junge Familie, mehr Kontakt haben müssten. Sie müssten nicht zusammen wohnen, aber sie sollen räumlich nicht vollständig getrennt sein.
Im Bereich der Arbeitswelt weist der Papst in seinem genannten Schreiben noch auf eine andere mögliche, ungesunde Fehlentwicklung hin: Der arbeitende Mensch ist zerrissen. An seinem Arbeitsplatz erfährt er sich zumeist nur als austauschbares Rädchen einer undurchschaubaren Maschinerie. Volles Menschsein wird ihm nur für die Freizeit versprochen. Der Mensch ist aber ein und derselbe, ob er im Beruf arbeitet oder seine Freizeit verbringt. Wenn der Mensch in seinem Dasein Sinn finden, die große Entfremdung und Entwurzelung überwinden soll, dann muss sein Leben in der Freizeit und am Arbeitsplatz sinnerfüllt sein. Es ist nicht uninteressant, dass die Gespräche, die im Zusammenhang stehen mit den sogenannten Mikroprozessoren, aufmerksam machen, dass hier vieles für uns in Zukunft zu überlegen sein wird, was Arbeit bedeutet, was Freizeit bedeutet und wie der Mensch in der rechten Weise Befriedigung in seiner Arbeit, oder besser gesagt, in seiner Beschäftigung, finden kann.
Ein anderes Motiv des Unbehagens in der Arbeitswelt ist das Problem der Arbeitsplätze. Menschenwürdige Arbeitsbedingungen werden durch bloße Einhaltung der Vorschriften des Arbeitsinspektorates, durch gerechte Entlohnung, soziale Benefizien noch nicht gewährleistet. Dazu gehört auch, dass der Beschäftigte in seiner Tätigkeit einen Sinn sieht, Befriedigung erfährt, Freude erlebt, dass er auch als Mensch und Mitarbeiter ernst genommen wird, dass er mitgestaltend tätig sein kann. Bei meinen zahlreichen Betriebsbesuchen konnte ich oft im Gespräch mit Arbeitern, die schon lange im Betrieb tätig sind, feststellen, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz zu Hause fühlen; sie geben besonders zu verstehen, dass sie gehört werden, dass sie informiert werden und dass sie sich ein wenig mitverantwortlich und mit eingeschlossen in das große Ganze fühlen.
Durch die Solidarität der Gesellschaft ist zwar für arbeitslose Mitbürger die materielle Hilfe sichergestellt. Aber das Schicksal der Arbeitslosigkeit bleibt für jeden, der arbeiten will und arbeitsfähig ist, bedrückend und verletzend. Daher haben auch in unserem Lande Menschen ein Anrecht darauf, dass alles getan wird, um die Arbeitslosigkeit von ihnen abzuwenden. Neben den in der Enzyklika genannten indirekten Arbeitgebern sind politische Parteien, Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgerufen, die Arbeitslosigkeit als eine Herausforderung an die Kreativität der Unternehmer und aller im Wirtschaftsleben engagierten Menschen dieses Landes zu sehen. Die Gefahr der Arbeitslosigkeit ist in gleicher Weise auch eine Herausforderung für alle arbeitenden Menschen, wo immer ihr Platz ist. Es geht darum, neue Wege zu gehen, die ausgetretenen Pfade zu verlassen.
Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang der Arbeitsplatz für die Jugend. Ich glaube, dass alle verantwortlichen Kräfte in Österreich zusammenstehen müssen, damit uns eine Jugendarbeitslosigkeit in größerem Ausmaß, mit all ihren negativen Folgen, erspart bleibt.
Schließlich haben gerade auch jene Mitbürger, deren Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr voll gegeben ist, ein Anrecht darauf, dass man sie in ihrem Bemühen um Arbeit besonders unterstützt. Es geht um die Arbeitsplätze für die älteren Menschen, die bei einer vordergründigen Kosten-Nutzen-Rechnung so leicht unter die Räder kommen. Es geht um Arbeitsplätze für behinderte Menschen, ja, es geht auch um die Arbeitsplätze für die Gastarbeiter. Sie haben zum österreichischen Wirtschaftsaufschwung beigetragen, sie verdienen auch jetzt unsere Solidarität. "Arbeitsplätze haben wir gerufen, Menschen aber sind gekommen." Menschen mit ihrer Würde, mit ihren Problemen, aber auch mit ihrem Fleiß, ihrem Können und ihrer Einsatzbereitschaft.
Ich wende mich einem anderen Problem zu. Wir erleben in Österreich, wie in allen westlichen Industriegesellschaften, eine Auseinanderentwicklung zwischen Bevölkerung und Institutionen. Viele Mitbürger, jung und alt, haben in unserer Demokratie den Eindruck, einem anonymen, undurchschaubaren Machtapparat gegenüberzustehen. Viele fühlen sich diesem Machtapparat gegenüber ausgeliefert und hilflos. Sie erleben aber auch das Versagen des Apparates. Es entwickelt sich der gefährliche Zustand, dass die Bürger beginnen, ihr Gemeinwesen zu ignorieren. Sie gehen ihre eigenen Wege, ohne einen Blick auf die Erfordernisse des Ganzen zu werfen. Das Misstrauen gegen die Politiker breitet sich aus. Wenn dieser Vertrauensschwund der politischen Krise in der Öffentlichkeit den "point of no return" erreicht, könnte es zu einer wirklichen Gefährdung der demokratischen Grundordnung kommen. Auch die Demokratie ist für den Virus des Radikalismus anfällig. Das hat die Geschichte dieses Jahrhunderts mit ihren bitteren Erfahrungen zur Genüge gezeigt.
Es ist kein Zufall, dass sich das Unbehagen in der Gesellschaft am deutlichsten im Bereich der Politik manifestiert. Die an der Nahtstelle von Politik und Wirtschaft angesiedelten Skandale, die in der letzten Zeit aufgedeckt wurden, mögen dazu beigetragen haben. Ich bin aber überzeugt, dass diese Erscheinungen - so sehr sie auch die öffentliche Diskussion beherrschen - seltene Ausnahmen sind. Doch das Wissen, dass es sich um Ausnahmen handelt, entbindet nicht von der Verpflichtung, alles daranzusetzen, solchen bedenklichen Erscheinungen entgegenzuwirken. Einer Koalition der Anständigen - und das ist die übergroße Mehrheit der Bürger in diesem Lande - müsste es gelingen, die "Sümpfe und sauren Wiesen", von denen das Staatsoberhaupt sprach, trockenzulegen.
Die Ursache des Unbehagens liegt allerdings tiefer. Viele stoßen sich am politischen Stil, der sich der Medienwirksamkeit zuliebe auch in unserem Lande eingebürgert hat. Allzu oft wird der politische Gegner grundsätzlich diskreditiert. Jede Initiative, die von ihm kommt, wird grundsätzlich abgetan. Gleichzeitig reklamiert man alle positiven Entwicklungen im Lande wie selbstverständlich für die eigene Gruppe. Ebenso weigert man sich beharrlich, eigene Irrtümer und Fehlleistungen einzugestehen. Ein solcher Stil politischer Auseinandersetzungen in der Demokratie trägt nicht zur Glaubwürdigkeit des politischen Lebens bei. Eng mit diesem Problem hängt auch die Frage des Einsatzes politischer Macht zusammen. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Das ist gut und richtig so. Doch die Reife einer demokratischen Gesellschaft zeigt sich auch darin, in welchem Maß in ihr auch die berechtigten Anliegen der Minderheit zur Geltung kommen. Das Ziel einer guten Politik sollte es stets sein, zu einem möglichst breiten Konsens zu gelangen, in dem man neben den eigenen legitimen Anliegen auch jenen des anderen Rechnung zu tragen sucht. Erst wenn man sich loyal um einen solchen Konsens bemüht hat und eine Einigung trotzdem ausbleibt, muss die Mehrheit im Parlament entscheiden. Dasselbe gilt für den Landtag oder den Gemeinderat. Aber selbst bei solchen Mehrheitsbeschlüssen sollte noch auf die gerechtfertigten Anliegen der Minderheit Bedacht genommen werden. Ein weiterer Grund für das Unbehagen vieler in unserem Lande gegenüber dem Bereich der Politik ist das Empfinden, nicht mehr Subjekt, sondern nur mehr Objekt des politischen Handelns zu sein. Es sind vor allem junge Menschen, die ihre politische Mitbestimmung nicht auf das Recht reduziert sehen wollen, alle vier Jahre wählen zu gehen. Sie haben ein waches Bewusstsein dafür, dass der eigentliche Souverän der Republik das Volk ist und dass die Aufgabe der politischen Parteien in der Demokratie vor allem in der Meinungsbildung besteht, nicht aber im Aufbau eines allzu umfassenden Machtapparates. Viele Staatsbürger wünschen sich mehr Möglichkeiten der politischen Partizipation, vor allem in ihrem eigenen, überschaubaren Lebensbereich. Man muss dem Bürger die Gewissheit geben, dass seine Meinung und seine Anliegen von den politischen Entscheidungsträgern auch - soweit das realistisch ist - ernst genommen werden. Der Bürger muss die Gelegenheit haben, in richtigem Ausmaß mit den Instrumenten der direkten Demokratie unmittelbaren Einfluss auf politische Willensbildung nehmen zu können. Die politischen Entscheidungsträger sollten ihrerseits sorgfältig ihre Motive und Gründe prüfen, wann sie politische Willenskundgebungen der Bevölkerung, etwa bei Bürgerinitiativen oder Volksbegehren, mit Mehrheit zurückweisen können. Ich habe es seinerzeit nicht nur der Sache nach, sondern auch aus demokratischen und politischen Gründen für einen schweren Fehler gehalten, dass das bisher größte Volksbegehren der Zweiten Republik - das von fast einer Million Bürgern unterstützte Volksbegehren zum Schutz des Lebens - so leichthin behandelt wurde, zumal das Für und Wider quer durch die Parteien ging und geht. Es ist klar, dass eine politische Mehrheit nicht jeder Willensäußerung einer Minderheit Rechnung tragen kann. Doch auch hier müsste die moralische Verpflichtung zum Tragen kommen, sich zu bemühen, wenigstens einem Teil der vorgebrachten Anliegen zu entsprechen, besonders dann, um es noch einmal zu sagen, wenn solche Anliegen und Wünsche quer durch die Parteien gehen.
Der Wert der Toleranz ist für eine demokratische Gesellschaft unersetzlich. Es gehört sicher zu den Aufgaben und Entwicklungen der Zweiten Republik, dass es im Bereich der Toleranz einen erfreulichen Fortschritt gegeben hat. Nach den bitteren Erfahrungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts kam ein Prozess der Versöhnung in Gang, der allerdings stets gefährdet ist. Wer auf Zwischentöne hört, gewinnt den Eindruck, dass das Gemeinsame in den letzten Jahren zu stark in den Hintergrund getreten ist. Er gewinnt den Eindruck, dass mitunter wieder geistige Barrieren aufgerichtet werden.
Auch in Österreich kann man einen Trend feststellen, den man in allen westlichen Industriegesellschaften beobachten kann. Das heißt, wir steuern auf eine durchorganisierte Gesellschaft zu, die mit einem Minimum an Konsens und ethischem Verhalten auszukommen trachtet. Man verhält sich so, als ob Organisationen mit ihrer steuernden Kraft ein ethisches Verhalten und die Beachtung der richtigen Rangordnung der Werte ersetzen können. Organisation vermag gewiss die große Maschine unserer Gesellschaft in Gang zu halten. Aber wenn das ethische Fundament brüchig wird, werden sehr bald die Risse in einem nach außen imposanten Gebäude unserer Gesellschaft sichtbar.
Diese Risse verbreitern sich:
- Wir leben in einem prekären Frieden. Das Damoklesschwert des nuklearen Untergangs hängt ständig über uns. Angesichts des in Ost und West aufgehäuften Vernichtungspotentials stellt sich mit besonderer Schärfe die Frage: Darf der Mensch alles, was er kann? Darf er alle Entdeckungen seines Forschens unbekümmert um die Folgen in die Praxis umsetzen? Die Naturwissenschaftler sagen uns heute, dass eine Beantwortung dieser Frage ohne Mithilfe der Ethik, ja sogar ohne ständigen Dialog zwischen Wissenschaft und Religion nicht möglich ist. Wenn heute mehr als die Hälfte der Naturwissenschaftler und Techniker im Dienste der militärischen Rüstung steht, dann ist das ein Hinweis darauf, dass die Gefahr wächst.
- Unabhängig von der nuklearen Bedrohung erleben wir ständig kriegerische Auseinandersetzungen - wie jetzt im Falkland-Konflikt - vor allem in der Dritten Welt. Sie sind gleichzeitig Folge und Ausdruck des fundamentalen Ungleichgewichts zwischen Nord und Süd. Sie sind vor allem aber Folge und Auswirkung eines ständig wachsenden Misstrauens zwischen den Völkern und Nationen. Auf der einen Seite, im Norden, werden Milliarden in die Rüstung und in den Luxus investiert, auf der anderen Seite, im Süden, herrscht in weiten Gebieten nackter Hunger. Dieses Ärgernis des 20. Jahrhunderts kann eine Zeitbombe sein, die früher oder später explodieren wird.
- Überall in der Welt zeigt der Raubbau an der Natur seine negativen Folgen. Und wieder stellt sich mit aller Schärfe die Frage: Darf der Mensch alles, was er kann? - In dieser labilen Welt sind wir täglich Zeugen der Missachtung der Menschenrechte, wir erleben Terrorismus, Mord und Totschlag, die gewissermaßen zu ordentlichen Mitteln zwischenstaatlicher Politik gehören.
- Es ist verlockend sich damit zu trösten, dass alle diese Probleme Österreich zur Zeit nur am Rande berühren. Aber die internationale und weltweite Verflechtung von Wirtschaft, Politik nimmt täglich zu. Die Probleme in fernen Ländern wirken sich auch bei uns aus. Die nächsten Jahrzehnte werden uns weder einen nationalen noch einen europäischen Egoismus gestatten.
Die Krise der Zeit ist umfassend. Sie betrifft alle Lebensbereiche. Politik im herkömmlichen Sinn sieht sich angesichts der Ausdehnung und Verzweigung der kritischen Situation in allen Ländern an der Grenze ihrer Möglichkeit. In Italien spricht man bereits von der "non governabilità del popolo" - man kann das Volk überhaupt nicht mehr regieren. Das alles soll uns aber auch zu einem Ausweg führen.
Worauf es heute ankommt, ist die Wiedergewinnung einer rechten Rangordnung der Werte. Damit geht es im Grunde um eine Bekehrung des Herzens, um eine innere Umkehr. Das Überleben der Menschheit hängt von dieser Bekehrung ab, wie es der Psychologe und Psychotherapeut Erich Fromm, ein Marxist, in seinem letzten Buch Sein und Haben formuliert hat.
Die Entwicklung ist offen. Krise kann immer auch Umkehr und Heilung bedeuten. Es wäre verhängnisvoll, sich in Pessimismus und in der Hoffnungslosigkeit zu verlieren.
Das Unbehagen in der Gesellschaft kann überwunden werden und einen Heilungsprozess einleiten. Angst und Sorge können auch die öffentliche Meinung sensibilisieren und mobilisieren, um die Bedeutung der Grundwerte für die Familie, für die Gesellschaft und Volksgemeinschaft zu erkennen. Es geht um Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität (Nächstenliebe), Frieden im kleinen wie im großen, es geht um Toleranz in der Demokratie, es geht um den Vorrang der Ethik vor der Technik, es geht um den Primat der Person über die Dinge, es geht um die Überordnung des Geistes über die Materie. Neben der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaftler gibt es auch eine Gemeinschaft derer, die den geistigen und religiösen Werten einen besonderen Primat zuerkennen. Das heißt, Christen und die Vertreter der großen Weltreligionen können zusammengehen, nehmen bereits Kontakt auf, um den Weg der Besinnung ein gutes Stück weiterzubetreiben - im ständigen Dialog, im offenen Austausch über Grundwerte und ihre Verwirklichung im Leben der Gesellschaft. Wir haben in Rom ein Sekretariat für nichtchristliche Religionen, wo diese Begegnungen mit den religiösen Führern der großen nichtchristlichen Religionen ständig stattfinden.
Es geht darum, den notwendigen Schritt vom Haben zum Sein zu tun. Das ist keine Absage an die Wissenschaft, denn die Wissenschaft brauchen wir zur Bewältigung unserer materiellen Probleme. Und das Misstrauen gegen die Wissenschaft in der jungen Generation halte ich für sehr gefährlich. Zivilisation und die materiellen Güter sind nicht an sich schlecht, sondern ihr Wert hängt davon ab, welchen Gebrauch Menschen - wir - davon machen. In der richtigen Ordnung der Werte haben sie ihren Platz. Zivilisationsflucht und Kulturfeindschaft führen an kein Ziel. Nicht der Besitz oder Nichtbesitz von materiellen Gütern ist das Entscheidende, sondern die innere Einstellung zu diesen Gütern. Man kann als Armer vom "Haben-Wollen" verzehrt und als Reicher vom Besitz vollkommen losgelöst sein.
Im Grunde wissen alle Menschen kraft ihres Gewissens um Gut und Böse. Aber wir müssen den Menschen in der Öffentlichkeit wieder mehr Mut machen, zu ihrem Gewissen und seinen Entscheidungen zu stehen. Die Unterscheidung zwischen sittlich gut und sittlich schlecht in der Öffentlichkeit zu vertreten, dazu gehört Mut, und zu diesem Mut aufzurufen ist unsere gemeinsame Aufgabe. Allzu lange hat man Gewissen, Moral und Ethik als überflüssig zur Seite geschoben. Man meinte, ethische Überlegungen seien bloß eine Sache gelehrter Abhandlungen. Die Praxis dagegen sei das Reich der Sachzwänge. Die große Maschine lief ja so gut. Heute, da die Symptome des Unbehagens anzeigen, dass der Mechanismus durcheinandergeraten ist, erkennen wir schmerzlich, dass ohne ethisches Fundament das Zusammenleben in der Gesellschaft immer schwieriger wird. Mit einer solchen Feststellung kommen wir in die unmittelbare Nähe des Neuen Testamentes und der Botschaft Christi: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selber verliert und Schaden nimmt." (Lukas 9,25)
Durch Ausschaltung einer religiös-ethischen Ordnung ist der Mensch auch in seiner materiellen Existenz gefährdet und bedroht.
Wir brauchen nicht nur eine Reform der Zustände, sondern vor allem auch eine Reform der Gesinnung. Sich dem immer mehr zu öffnen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.