Kirche und Staat: Über das Gemeinwohl
Für Christen, denen ihre Religion eine gelebte Wirklichkeit ist, ist es ein feststehender Brauch, dass sie für jede schwere Arbeit, die ihrer wartet, sich des Segens Gottes versichern. Kaum eine andere Arbeit ist heute schwieriger als die der Politik. Damit verstehe ich hier die über alle Parteipolitik hinausgreifende Sorge für das staatliche Gemeinwesen. In diesem Sinne wurde seit der Antike bis in die neuste Zeit von großen Denkern der Politik stets der höchste Rang unter jenen menschlichen Tätigkeiten zuerkannt, die sich an den großen Zielen ausrichten.
Wir wollen nicht verschweigen, dass im heutigen Sprachgebrauch das Wort "Politik" keine besondere Achtung abnötigt. Es sei mir daher gestattet, bei dieser festlichen Gelegenheit wieder an die rechte Bedeutung des Wortes "Politik" zu erinnern. In vielen sozialwissenschaftlichen Erörterungen ist man dieser Frage nachgegangen. Die einen vertreten die Ansicht, dass Politik es einzig und allein mit Macht zu tun habe. Aber gerade die jüngsten Erfahrungen machen es deutlich, dass damit nicht das Wesen der Politik ausgedrückt sein kann.
Mir scheint, dass wir dem Wort "Politik" dann seinen Sinn wieder geben, wenn wir damit den Dienst am Volke meinen. Durch die Politik dem Volke zu dienen, dass muss für den Begriff maßgebend sein. Ich denke dabei an das bekannte Wort von Abraham Lincoln, dass nämlich Demokratie die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk sei. Das Ziel einer jeden Politik hat daher im Gemeinwohl zu bestehen, und das Gemeinwohl muss ein Grundelement in jeder Politik bilden. Es ist das Element, welches über jedes bloße Parteiinteresse hinausweist. Daran schließt sich die Frage, was wir unter "Gemeinwohl" genauer zu verstehen haben. Ich werde kaum auf Widerspruch stoßen, wenn ich sage, dass es in der verhältnismäßigen Anteilnahme aller Gruppen der Gesellschaft am Ertrag besteht, am Ertrag, der sich aus der Zusammenarbeit aller in den verschieden Wirtschafts- und Kulturbereichen ergibt.
Eine realistische Politik im Interesse des Gemeinwohls, das ja immer nur annäherungsweise verwirklicht werden kann, verlangt neben dem Grundsatz der Verantwortung und Sachlichkeit ein gutes Maß an Verständigungsbereitschaft. Die Verständigungsbereitschaft ist das Um und Auf einer lebendigen Demokratie. Verständigungsbereitschaft sucht das Gemeinsame trotz alles Trennenden. Verständigungsbereitschaft zielt auf echten Kompromiss, durch den dem Interesse der Parteien und Gruppen, vor allem aber dem Gemeinwohl auf das beste Rechnung getragen wird. Und noch etwas ist die Frucht echter Verständigungsbereitschaft: Sie sichert den Frieden im Gemeinwesen.
Jede Gemeinschaft unter Christen muss eine brüderliche Gemeinschaft sein. Der Glaube an Christus unseren Herrn soll Ausdruck finden in unserem Verhalten untereinander. Den Bruder beschimpfen, verleumden oder hassen ist gegen das Gesetz der Bergpredigt Christi. Was immer in diesem Wahlkampf an unguten Dingen geschehen ist, wir wollen heute des Wortes Christi eingedenk sein: "Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar, geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. Verständige dich ohne Verzug mit deinem Gegner, solange du noch unterwegs bist. "- So lesen wir in der Bergpredigt.
Die Versöhnung politischer Gegner, die Brüderlichkeit unter Christen soll Gegensätze politischer Anschauungen nicht auslöschen, sie soll und wird auch nicht die politischen Meinungen aufheben. Sie soll aber die Grundlage sein für ein gemeinsames Wirken.
Immer muss im politischen Leben die Mehrheit Rücksicht nehmen auf die Minderheit, der Stärkere darf den Schwächeren nicht unterdrücken, muss auch seine Ansichten und Meinungen gelten lassen, muss auch manches von ihm übernehmen. Aber so wie der Starke den Schwächeren nicht ausschließen darf, so soll auch der Schwächere sich nicht von selbst ausschließen, sich nicht selbst zurückziehen von einer gemeinsamen Verantwortung tragen alle in diesem Staate.
Jede Ihrer Entscheidungen werden Sie als Christen auch vor Ihrem Gewissen und vor Gott zu verantworten haben. Bei allen harten politischen Auseinandersetzungen vergessen Sie bitte eines nicht: So wie Sie hier vor dem Altar eine Gemeinschaft bilden, eine Gemeinschaft untereinander, so sollen Sie auch in Ihrer Tätigkeit und in Ihrem Leben eine Gemeinschaft bilden. Sie sollen sich untereinander stets so verhalten, dass Sie immer wieder als Brüder vor diesen Altar treten können.
Man kann sich als Christ ausweisen, der in den Auseinandersetzungen des täglichen Lebens, auch in den wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, nicht den Hass steigert, sondern den Hass abbaut, der nicht Unfrieden sät, sondern für Frieden und Verständigung eintritt.
Für Frieden und Verständigung, für das gemeinsame Wirken am gemeinsamen Vaterland wollen wir in dieser Stunde beten.
Messe für Abgeordnete, Votivkirche, 30. März 1996