Die Zukunft der Religion
Es gibt Zeiten, denen die Gegenwart selbstverständlich erscheint, Zeiten, die sich in ihr sicher und geborgen fühlen und die gar keine Frage an die Zukunft haben. Das hat nichts mit äußerer Sicherheit, mit einem ruhigen und bequemen Leben zu tun. Auch in Epochen äußerster Drangsal, bittersten Elends und furchtbarsten Greuls nahmen die Menschen ihr Schicksal als etwas Unabwendbares auf sich, als Prüfung oder als Strafe Gottes. Die Zukunft galt ebenso als unerforschlich im Ratschluss Gottes ruhend wie die Gegenwart. Es schien solchen Menschen absurd, sich mit den Möglichkeiten der Zukunft auseinanderzusetzen. Ja, man kann fast sagen, dass die Menschen in Zeiten materieller, politischer und menschlicher Unsicherheit viel zu sehr mit dem Kampf um das Überleben und mit der Bewältigung der Gegenwart beschäftigt waren, um sich über die Zukunft die Köpfe zu zerbrechen.
Heute scheinen die Dinge anders zu liegen. Fast überall wird von der Zukunft gesprochen. Es gibt sogar eine eigene Wissenschaft, die Futurologie, die sich mit Zukunftsfragen beschäftigt. Das kann verschiedene Ursachen haben. Bei uns in Westeuropa und in den USA ist vielleicht nicht zuletzt eine gewisse Übersättigung mit der Gegenwart ausschschlaggebend, ein Gefühl der Unlust in und mit der Überflussgesellschaft, vielleicht das schlechte Gewissen im Wohlstand. Nach einem Wort Goethes ist bekanntlich nichts schwerer zu ertragen als eine Reihe schöner und guter Tage. Dabei spielt gewiss auch das Gefühl der Verantwortung mit, der Verantwortung des Menschen nicht nur für seine Gegenwart, sondern auch für seine Zukunft. Denn die Zukunft wird - in gewissem Maße zumindest - durch unser heutiges Tun und Planen mitbestimmt. Die Wissenschaft hat uns Mittel an die Hand gegeben, mit deren Hilfe wir aus bestimmten Komponenten der Gegenwart Entwicklungstendenzen für die Zukunft ablesen können. Wir alle kennen die Hochrechnung bei politischen Wahlen. Während man früher viele Stunden und Tage warten musste, um das Ergebnis einer Wahl zu erfahren, vermögen heute die Mathematiker schon kurze Zeit nach Schließung der Wahllokale aufgrund der Ergebnisse kleiner, ausgesuchter Sprengel mittels einer Hochrechnung nicht nur den Trend der Wahl festzustellen, sondern meist auch schon das voraussichtliche Ergebnis in Mandatszahlen. In vielen Fällen wird das Ergebnis der Hochrechnung vom Endergebnis bestätigt.
Was hier bei den Wahlen möglich ist, sollte doch auch anderswo möglich sein. Die Zukunft ist nicht überall und in jedem Fall ein Buch mit sieben Siegeln; sie kann, so sagen Fachleute, vorausgesehen werden, sie ist berechenbar, sie ist planbar und daher auch machbar.
Aber auch die Sorge um die Zukunft beschäftigt heute immer mehr Menschen. Der materielle Fortschrittsglaube, wie er von der Wissenschaft und Technik bisher ohne Bedenken propagiert wurde, ist problematisch geworden, und viele Menschen blicken sorgenvoll in die Zukunft. Nicht nur der Fortschrittsglaube, sondern das künftige Schicksal der Menschen scheint bedroht zu sein. Der Zukunftsschock erfüllt heute viele mit Schrecken. Bücher wie Die Grenzen des Wachstums von D. Meadows, World Dynamics von Jay Forrester oder der Bericht des Generalsekretärs der UNO-Weltschutzkonferenz Wie retten wir die Welt? - Bücher diese Art tragen mit ihrem Ausblick auf die Zukunft viel zur Beunruhigung der Menschheit bei. Man entdeckt heute, dass wir in einer begrenzten Welt leben und dass wir diese Grenzen noch in unserer Generation erreichen werden. Dieser Ausblick auf die Zukunft verlangt daher auf vielen Gebieten ein Umdenken.
Auf andere Weise beschäftigt sich die Sozialwissenschaft, die Philosophie, die Geschichte mit der geistigen Entwicklung des Menschen, mit dem Verhalten des Menschen in der Zukunft. Die verschiedenen Zweige der sogenannten Humanwissenschaften haben eines gemeinsam: Sie gehen von der Voraussetzung "rebus sic stantibus" und den erkennbaren Trends aus. Sie gehen von den jetzt bestehenden Verhältnissen aus und nehmen an, dass die heute vorhandenen Tendenzen eine Aussage über die Zukunft und das zukünftige Verhalten des Menschen ermöglichen. Der Ausgangspunkt "rebus sic stantibus" bzw. die in der Gegenwart erkennbaren Trends sind die einzige reale Voraussetzung und gleichzeitig auch der schwächste Punkt. Denn die kleinste, vorerst wissenschaftlich kaum wahrnehmbare, weder erklärbare noch voraussehbare Veränderung im geistigen und materiellen Klima kann alle Zukunftsberechnungen umstürzen. Ein kleines Beispiel dafür haben wir gerade in jüngster Zeit erlebt. Schon die ersten Auswirkungen der Ölkrise haben alle Voraussagen über ein neues petrochemisches Zeitalter illusorisch gemacht.
Jedes menschliche Tun ist eben mit einem Risiko verbunden. Das Risiko der Freiheit ist ihr Missbrauch, das Risiko des Denkens der Irrtum, das Risiko des Sprechens das Missverständnis, das Risiko des Glaubens ein Scheitern, das Risiko der Hoffnung die Verzweiflung. Das Risiko des Lebens ist der Tod. Der Mensch ist nur dadurch Mensch, dass er das Risiko der Zukunft auf sich nimmt.
Wenn man solche Überlegungen über die Zukunft des Menschen und seine künftige Geschichte anstellt, liegt es nahe, dass man sich nicht zuletzt auch mit der Zukunft der Religion beschäftigt.
In Schloss Kleßheim bei Salzburg finden jedes Jahr die sogenannten Humanismusgespräche statt; bei diesen Gesprächen diskutieren hervorragende Fachleute verschiedener Weltanschauungen über bestimmte Themen. Der Name "Humanismusgespräche" wurde wohl deshalb gewählt, weil das Menschliche, das Humane, Basis und Zielrichtung der Gespräche ist. Vielleicht werden sie auch von der Erinnerung an den großen, in Salzburg begrabenen Naturforscher Paracelsus mitbestimmt. Das fünfte dieser Humanismusgespräche - im September 1970 - befasste sich nun mit dem Thema "Die Zukunft der Religion" (Der Initiator dieses Gesprächs, Dr. Oskar Schatz, hat die dabei gehaltenen Vorträge 1971 beim Verlag Styria in Graz veröffentlicht). Ich werde im Verlaufe meiner Ausführungen noch einmal auf diese Humanismusgespräche zurückkommen.
Ebenfalls im Jahre 1970 hat übrigens auch ein internationaler Theologenkongress in Brüssel dasselbe Thema behandelt.
Wer sich mit der Zukunft der Religion beschäftigt, kann dies aus verschiedenen Motiven tun: entweder aus ehrlicher Sorge über eine gesellschaftliche und geistige Entwicklung, die die Religion - wohl die größte kulturelle Leistung der Menschheit - immer mehr in ihrem Lebensraum einengt. Er kann solches aber auch tun in der kaum verborgenen Freude, zeigen zu können, dass die Religion als Hindernis des menschlichen Fortschrittes zum Absterben verurteilt ist. Damit soll der Weg frei werden für die volle Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des Menschen. Er kann sich aber auch mit der Zukunft der Religion in der Haltung des unvoreingenommenen Wissenschaftler beschäftigen, der Fakten zur Kenntnis nimmt und daraus - sine ira et sine studio - seine Schlüsse zieht. Diese verschiedenen Motivationen kamen beim Salzburger Humanismusgespräch mehr oder weniger klar zum Ausdruck.
Hinter allen Erörterungen und Spekulationen, ob Religion eine Zukunft habe, stehen zwei entgegengesetzte Auffassungen.
Da ist zunächst die Auffassung, Religion gehöre als notwendiges Attribut zum Menschen, so wie der aufrechte Gang, die Sprache, das Denken; die Fähigkeit, in irgendeiner Weise wenigstens ein religiöser Mensch zu sein, ein gläubiger Mensch , sei Ausdruck des Menschseins schlechthin, und der Mensch sei nur insofern Mensch, als er ein religiöser und gläubiger Mensch sei. Dabei ist festzuhalten, dass die menschlichen Ausdrucksformen der Religiosität, die Art und Weise, in der ein Mensch seine Sehnsucht nach dem ewigen und unvergänglichen Werten der Religion manifestiert, wechseln können; die äußeren Formen der Religion können entstehen und vergehen. Aber in allen Kontinenten, Zonen und Zeiten hat der Mensch, wie uns die Geschichte bestätigt, immer im Gebet bittend und bebend, dankend und sühnend vor der Gottheit oder den Göttern seine Knie gebeugt. Er hat uns Formen des Gebetes hinterlassen, durch die wir heute noch einen Einblick tun können in das Innerste des Menschen längst vergangener Zeiten. Das schlichte Dankgebet der Yamanas, das Bittgebet in den ägyptischen Grabkammern, die auf kleine Tontäfelchen in Keilschrift verewigten Klagerufe, die Anrufung des Himmels in China, die Bittgebete der Griechen und Römer um Sieg und Erfolg, die Ausdrücke der Ergebenheit in den Büchern des buddhistischen Kanons, die Lobrufe an die Götter des Pantheons: sie alle sind ein vielstimmiges, nicht verstummendes Gloria, auf Ton geschrieben, in Stein gemeißelt. Sie sind ein ergreifendes Miserere und De profundis einer immer um Erlösung zu den "Superi" rufenden, um Hilfe von oben flehenden Menschheit aller Jahrtausende. So wie wir imstande sind, den Weg der Kultur durch die menschliche Geschichte zu studieren, so begleiten uns die Stimmen längst vergangener religiöser Menschen und Beter, wo immer wir den Spuren des Menschen begegnen.
Andere hingegen sagen - weniger auf die Fakten der Geschichte bezugnehmend -, Religion sei nur eine Begleiterscheinung einer bestimmten menschlichen Entwicklungsstufe, des sogenannten vorwissenschaftlichen Stadiums der Menschheit, sei ein Erklärungsversuch für jene Bereiche, in die die Wissenschaft noch nicht eingedrungen ist und die von der Wissenschaft noch nicht erforscht sind. Es handle sich also hier um Denk- und Lebenshypothesen zur Bewältigung einer nicht durchschaubaren Welt, die daher überflüssig werden, sobald die Gesetze der Natur und der Welt erkannt, erforscht und nachprüfbar geworden sind. Religion sei daher nur das Attribut eines primitiven Zustandes des Menschen und verschwinde auf natürliche Weise, sobald er sich in die lichten Höhen des Geistes erhebe.
Für beide Auffassungen werden Argumente für und wider angeführt. Dafür, dass Religion als entscheidendes Attribut dem menschlichen Leben zugeordnet ist, spricht zur Genüge die Geschichte der Menschheit. Alle großen Kulturen der Vergangenheit waren im wesentlichen auch religiös geprägte Kulturen. Sobald der Mensch in der Frühgeschichte als Mensch in Erscheinung tritt, ist er ein religiöser Mensch, ein Mensch mit einer wohl einfachen, aber deutlich ausgeprägten religiösen Vorstellung, wie uns die Urgeschichte zeigt. Gewiss hat es in der Geschichte auch Zeiten eines religiösen Verfalls gegeben, doch handelte es sich da gleichzeitig auch um Epochen kulturellen Niedergangs oder um Zeiten des Übergangs.
Als in der antiken Welt des römischen Imperiums der Glaube an die Wirklichkeit und Wirksamkeit des griechisch-römischen Götterhimmels verblasste, da verbreitete sich eine Vielfalt von Kultformen, von mystischen, ekstatischen und synkretistischen Kulten. Das Christentum, das in eine Welt der Mysterienkulte eintrat, trat damit ein in eine Welt, die sich nach tiefer religiöser Kenntnis, nach Erlösung, nach Heil ohne Unterlass sehnte. Der von uns gemachten Behauptung kann man allerdings eine andere entgegenstellen: Die Welt war eben damals noch nicht reif für die Überwindung des Glaubens, und auch die Wissenschaft bot ihr keine Hilfe für die Erklärung der dem Menschen unverständlichen Erscheinungen. Das Christentum konnte somit rasch Fuß fassen und die Mysterienkulte und andere heidnischen Religionen ablösen. Die Menschheit hat in ihrer vieltausendjährigen Entwicklung schon so vieles überwunden - sagt man -: den Kannibalismus, die Menschenopfer, die Sklaverei. Warum sollte sie auf dem Wege zur ihrer endgültigen Befreiung und Selbstverwirklichung nicht auch zuletzt die Fesseln des religiösen Glaubens abstreifen? Hier steht nicht eine eigentliche wissenschaftliche Ansicht gegen eine andere wissenschaftliche Ansicht, sondern gläubiges Vertrauen der einen gegen gläubiges Hoffen der anderen. Die Frage nach der Zukunft der Religion und des Glaubens ist daher nicht eine Frage der Wissenschaft, sondern ein Frage der eigenen Wünsche und Hoffnungen.
In den letzten Jahren arbeitet man mit der Hypothese der Säkularisation, um eine Begründung für jene Auffassung zu finden, wonach religiöser Glaube nur ein Epiphänomen einer begrenzten Entwicklungsphase der Menschheit ist und die Religion in der Zukunft langsam absterben wird. Die Gesellschaft, so sagt man, ist heute nicht mehr religiös geprägt oder nicht mehr in dem Maße religiös geprägt, wie es in den vergangenen Jahrhunderten der Fall war. Der Glaube, die religiöse Weltanschauung und die Kirche haben heute keinerlei Monopolstellung mehr. Religion und Kirche genießen zwar aus traditionellen Gründen noch eine gewisse Vorrangstellung, aber im Grunde ist die religiöse Weltanschauung eine Weltsicht wie jede andere auch. Der neutrale Staat und die pluralistische Gesellschaft räumen der Religion und der Kirche keinen Vorzug, sondern nur mehr Toleranz ein. Nachdem ein gewisser gesellschaftlicher Zwang zum religiösen Bekenntnis weggefallen ist und in Zukunft noch stärker wegfallen wird, hat man mit einer weitgehenden Verringerung der Zahl der gläubigen Menschen zu rechnen. Die Vertreter dieser Ansicht können sich dabei auf den Rückgang verschiedener religiöser Verhaltensweisen berufen, z. B. auf den Rückgang des sonntäglichen Messbesuchs, vor allem in den Städten (und unsere Kultur wird in Zukunft immer stärker eine städtische Kultur sein). Sie verweisen auf den Rückgang des Sakramentenempfangs, insbesondere auf den Rückgang der persönlichen Beichte. In den katholischen Ländern kann man auch einen Rückgang der kirchlichen Eheschließungen registrieren. Man weist auf steigende Scheidungsziffern hin. In verschiedenen Ländern besteht die Möglichkeit, sich vom Religionsunterricht an den höheren Schulen abzumelden - sofern es diesen Unterricht an staatlichen Schulen überhaupt noch gibt! Nicht zuletzt will man auf die wachsende, wenn auch je nach Ländern verschiedene Zahl derer verweisen, die auch die letzte Verbindung mit der Kirche abbrechen, indem sie offiziell aus ihr austreten. All das lässt sich heute statistisch erheben und durch Umfragen bestätigen. Mit Hilfe repräsentativer Meinungsbefragungen versucht man festzustellen, was die Menschen wirklich glauben. Meist wird dann mit einem Gefühl der Genugtuung oder der Schadenfreude behauptet, dass auch jene Menschen, die sich selbst noch als gläubig bezeichnen, die noch die Kirche besuchen und mit der Kirche leben, verschiedenes nicht mehr glauben oder nicht so glauben, wie es die Kirche vorschreibt. Triumphierend wird verkündet, dass der Glaube im Begriffe sei, abzusterben, weil die einen Zweifel hegen gegenüber der Lehre von der Auferstehung von den Toten; andere wieder Zweifel haben bezüglich der Jungfrauengeburt; andere wieder nicht an alle Wundererzählungen der Evangelien glauben.
Mit der Statistik kann man aber bekanntlich alles beweisen - auch das Gegenteil. Und mit der Soziologie kann man, so scheint es, alles auflösen. Der Einbruch der Soziologie in die Theologie hat eine andere und neue Wundergläubigkeit geschaffen: den naiven Glauben an die Unfehlbarkeit von Fragebögen, Repräsentativumfragen, Querschnittanalysen und dergleichen. Der Einbruch einer ihrer Grenzen nicht bewussten Soziologie in die Theologie und in die Kirche konnte sich deshalb so verheerend auswirken. Nicht ganz zu Unrecht hat man eine solche Soziologie als die Gnosis unserer Zeit bezeichnet, weil nicht zuletzt manche katholische Apologeten die Meinung verbreitet haben, dass früher nicht nur alles besser gewesen sei, sondern dass es einmal eine vollkommen ideale und umfassende Religiosität bzw. Katholizität gegeben hätte. Es ist zweifellos unrichtig, anzunehmen, zu allen Zeiten hätten alle Menschen all das mit gleicher Intensität geglaubt, von dem man wusste, dass es zum Glauben gehörte. Der religiöse Glaube war zu allen Zeiten durchsetzt von Ganz-, Halb- und Viertelglauben, von Überzeugungen und Zweifeln, vom Wunschdenken, von Aberglauben und Unglauben. Die ehrlichste Aussage, die ein Mensch über seinen Glauben machen kann, ist die des Evangeliums: "Herr, ich will glauben. Hilf meinem Unglauben." Wir waren uns dessen nicht immer bewusst, weil es früher niemand statistisch und soziologisch erhoben hat. Niemand hat unter den Kreuzfahrern Umfragen veranstaltet, um herauszufinden, aus welchen Motiven sie an einem Kreuzzug teilnahmen. Wir wissen nicht, was die Menschen im 10., im 15., im 18. Jahrhundert geglaubt oder gezweifelt haben, weil sie niemand mit Fragebögen belästigte. Und was den Gottesdienstbesuch betrifft, so können wir einen Rückgang erst feststellen, seit wir ihn sehen; das heißt aber nicht, dass der Gottesdienstbesuch vorher wesentlich besser oder vielleicht gar vollkommen gewesen sei. In Wien gab es um 1900 eine Pfarre mit 100 000 Seelen. Auch bei einer größeren Anzahl von Sonntagsmessen konnte nur ein geringer Prozentsatz der Gläubigen - ein sicher geringerer als heute - an der Messfeier teilgenommen haben, doch machte sich damals kaum jemand Gedanken darüber. Dass wir uns heute darüber Gedanken machen, kann ich nur als positives Zeichen werten, auch wenn wir dabei nicht immer zu sehr erfreulichen Resultaten gelangen.
Die Frage der Säkularisation war auch ein Zentralthema des bereits erwähnten Salzburger Humanismusgespräches über die Zukunft der Religion. Man hat dabei dieses Problem nach allen Seiten hin untersucht und ist zu manchen interessanten Feststellungen gekommen. Man sagte, die Säkularisation sei ein Phänomen unserer Zeit, das sich immer weiter ausbreite. Diese Annahme ist heute allgemein verbreitet.
Aber ist die Säkularisation wirklich nur ein Phänomen unserer Zeit? War nicht das ausgehende Mittelalter eine Epoche einer noch größeren Säkularisation, einer sehr starken Verweltlichung der Kirche? Weltliches und geistliches Regime waren in manchen Teilen der europäischen Welt unlösbar miteinander verstrickt. Manche Bischöfe waren Landesherren. Nicht alle Päpste waren Heilige, und eine weltliche Machtpolitik hat oft zu unchristlichen Waffen gegriffen. In dieser wirklichen Notzeit der Kirche - vielleicht einer ärgeren Notzeit, als es die Gegenwart ist - ist ein Heiliger aufgestanden. Es sind immer Heilige aufgestanden, wenn die Kirche in Gefahr war, zu versagen oder zu verweltlichen. Der hl. Franziskus und seine Söhne führten den Kampf gegen die Verweltlichung der Kirche, gegen einen zum Teil säkularisierte Kirche, gegen einen zum Teil säkularisierten päpstlichen Hofstaat. Die Armut als christliche Alternative zur Macht, zum Reichtum und Glanz, die Armut als christliche Antwort auf die Welt ist damals wieder entdeckt worden.
Heilige sind immer Kämpfer gewesen, Kämpfer für die Kirche, manchmal auch Kämpfer in der Kirche. Das ist uns heute nur etwas aus dem Bewusstsein gerückt, nachdem uns das 19. Jahrhundert meist ein einseitiges, pietistisch und "privat" ausgerichtetes Heiligenideal vor Augen gehalten hatte. Wenn wir heute Sorge haben können, berechtigte Sorge, so deshalb, weil Gott, soweit wir es beurteilen können, seiner Kirche keine Heiligen schickt. Oder sind sie schon unter uns, und wir erkennen sie nur nicht? Vielleicht lehnen wir sie ab, drängen sie an den Rand und manchmal auch über den Rand hinaus? -
Ich greife einen zweiten Aspekt der Untersuchung über die Säkularisation heraus. Ist die Säkularisation tatsächlich etwas sich immer mehr Ausbreitendes? Ist sie ein nicht mehr rückgängig zu machender Prozess? Trägt die mit der Säkularisation einhergehende Schwächung einer religiösen Grundhaltung zu einem Absterben des Glaubens, zu einem Aussterben der Religion bei? Diese Frage hat man wahrscheinlich vor einigen Jahrzehnten noch weitgehend bejaht. Heute ist man auch hier vorsichtiger geworden. Wir wissen z.B., dass gewisse Vorgänge in der Kernphysik nicht mehr den Gesetzen der Mechanik und der Kausalität unterstehen; umso weniger kann man daher in der Geistesgeschichte von naturgesetzlicher Entwicklung sprechen. Dafür wurde gerade bei dem erwähnten Symposion in Salzburg eine Reihe interessanter Beispiele gebracht.
Nach der Kapitulation Japans am Ende des Zweiten Weltkrieges verlor der Shintoismus seine Stellung als Staatsreligion. Alle geistigen und religiösen Strömungen hatten die Chance, in diesem hochindustrialisierten Land Fuß zu fassen. Allgemein wurde angenommen, der Marxismus würde nunmehr in dieses geistige Vakuum einströmen. Aber Japan ist nicht kommunistisch geworden. Es erlebt zur Zeit eine neue religiöse Hochblüte. Neben dem Shintoismus und dem Buddhismus übt gerade auch das Christentum dort eine starke Anziehungskraft aus. Gerade am Beispiel Japans, aber auch in Afrika und Südamerika sehen wir, dass Religion nicht nur ein Gebilde vergangener Zeiten ist, sondern sich immer wieder mit neuer Lebenskraft entfalten kann. In Afrika und Südamerika treten bekanntlich Mischformen von christlichen und heidnischen Elementen auf, die sich zu neuen Religionsformen entwickeln, sich vermengen und vielleicht auch wieder verschwinden werden. Mit dem Begriff der Säkularisation ist diesen Erscheinungen nicht beizukommen. Dort, wo - wie man sagt - die historisch etablierte Kirche an Anziehungskraft einbüßt, kommt es oft zu plötzlich ansetzenden Erneuerungsprozessen, die sich in ekstatischen religiösen Bewegungen äußern. Ich erinnere hier nur an die "Jesus-People" und an die "Pentecostals" in den Vereinigten Staaten Amerikas, einem zweifellos stark säkularisierten Land. Allerdings scheint die Voraussetzung dafür zu sein, dass das Evangelium, dass die Persönlichkeit Jesu etwas faszinierend Neues erlebt wird. Für Tausende amerikanischer Jugendlicher, die keinen Religionsunterricht besucht und daher nie vorher von Jesus gehört hatten, war die Begegnung mit ihm und seiner Botschaft etwas umstürzend Neues. In Ländern mit obligatorischem Religionsunterricht stehen einem solchen Erlebnis oft gewisse negative Erinnerungen an die Schule entgegen...
Glauben können und glauben wollen ist - so zeigt uns die Geschichte des heutigen Menschen - ein solches Grundbedürfnis, dass es sich auf alle Fälle Ausdruck zu verschaffen sucht. Wem der Weg zu einem religiösen Glauben verschlossen ist, der sucht einen Ausweg im Okkultismus, Hellseherei, Parapsychologie, Astrologie, bis zu verschiedenen Formen primitiven Aberglaubens. In manchen Ländern, zum Beispiel in der Sowjetunion, wird seit mehr als 50 Jahren der Atheismus als Staatsdoktrin proklamiert. Generationen sind durch Schule, öffentliche Meinung und Massenmedien in diesem Sinne beeinflusst worden und sollten die Religion nur als Aberglauben und ideologischen Überbau des kapitalistischen Systems betrachten. Aber auch dort sind Religion und Glaube nicht erstorben. In anderen marxistischen Ländern, z. B. in Polen, ist der Glaube sogar kraftvoller geworden, und die atheistischen Zeitschriften jener Länder geben immer wieder ihrem Erstaunen und ihrer Erbitterung darüber Ausdruck, dass es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen ist, Religion und religiösen Glauben auszurotten. Das heißt, Säkularisierung bringt Religion nicht zum Absterben. Auch der äußere Druck lässt sie nicht verschwinden.
Säkularisation und äußerer Druck führen jedoch zum Entstehen anderer Formen. Manche sind der Meinung, die Glaubensgemeinschaften würden sich bei fortschreitender Säkularisierung enger zusammenschließen, würden sich gegen die Außenwelt abschließen und sektenähnliche Züge mit strengen sozialen und moralischen Normen annehmen. Gleichzeitig ist es interessant, festzustellen, dass auch Nichtglaubende einer pluralistisch aufgefächerten, moralisch unverbindlichen Religion, die sich in sozialen Aktivitäten erschöpft und jedes Geheimnisses entkleidet ist, kaum eine Chance geben, braucht man doch für ausschließlich soziale Zwecke wirklich keine Religion.
Schließlich möchte ich mich dem Christentum zuwenden und die Frage stellen, ob es das Schicksal der Religionen im Allgemeinen teilen wird, ob die Frage nach der Zukunft des Christentums sich mit der nach der Zukunft der Religion im Allgemeinen deckt.
Wir alle kennen den Begriff des religionslosen Christentums. Die Vertreter jeder eigenartigen Schule wollten den Versuch unternehmen, aus einer Periode des Verfalls der Religionen im Allgemeinen das Wesentliche des Christentums in die Zukunft hinüberzuretten. Das Christentum ist nun sicher nicht eine Religion wie jede andere. Das Einmalige am Christentum ist es, dass es Kunde gibt von einem unmittelbaren Eingreifen Gottes in die Welt und in die Geschichte der Menschheit, dass Christus als Sohn Gottes in diese Geschichte eingetreten ist und dort durch den Heiligen Geist fortwirkt. Das unterscheidet das Christentum grundsätzlich von allen anderen Religionen. Und doch ist das Christentum gleichzeitig eine Religion mit Kult, Wundern, Erscheinungen, Geboten, Normen, Sünde, Schuld und Vergebung. Die verschiedenen Formen menschlichen Ausdruckes des Christentums decken sich zum Teil mit Ausdrucksformen, wie man sie auch in anderen Religionen findet, denn die menschliche Natur ist überall dieselbe. Wer aber all das ablehnen möchte, was das Christentum mit den religiösen Ausdrucksformen und Kultformen der anderen Religionen gemeinsam hat oder worin es ihnen ähnlich ist, um vom Evangelium nur den Geist der Liebe beizubehalten, wer alle konkreten Lehren und Anweisungen Jesu und der Kirche nur historisch interpretieren will oder als unverständlichen Eingriff in die persönliche Freiheit ablehnt, der baut sich ein privates Christentum auf und handelt ebenso einseitig wie jener, der im Evangelium eine wörtliche "Gebrauchsanweisung" sehen will und dabei seinen Geist unbeachtet und unverstanden lässt. Wer im Christentum nur eine Anleitung zur sozialen Revolution sieht, der sieht ebenso falsch wie derjenige, der nur sein persönliches Seelenheil im Auge hat und meint, man könne Christ für sich allein sein. Das Christentum ist sicher mehr als irgendeine Religion, ist aber doch auch eine Religion.
Verschiedene religiöse Ausdrucksformen, die das Christentum mit anderen Religionen gemeinsam hat, in denen es gelegentlich auch äußerlich von anderen Religionen beeinflusst wurde, können sich ändern. Gänzlich aufgebbar sind sie nicht. Wir können von literarkritischen Methoden der Formgeschichte sprechen, können die Traditionsgeschichte heranziehen, die Redaktionsgeschichte, können religionsgeschichtliche Ähnlichkeiten zur Erklärung der Bibel benützen. Wenn aber der Sohn Gottes Mensch geworden ist, können wir das Geheimnis und das Wunder, das für den reinen Verstand nicht fassbar ist, nicht aus dem Christentum herauslösen. Eine Religion ohne Geheimnis ist keine Religion; eine Religion - und das gilt vor allem vom Christentum -, die die Möglichkeit des Wunders, also des direkten Eingriffes Gottes, prinzipiell als unmöglich ablehnt, ist eben keine Religion und erst recht kein Christentum.
Hat die Religion eine Zukunft? Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die Frage weniger eine Angelegenheit wissenschaftlicher Argumentation als des Glaubens selber ist, nicht nur eine Frage des Glaubens an Gott, sondern auch des Glaubens an den Menschen. Solange wir an den Menschen als an ein Wesen glauben, das sich selbst befragen kann, das nie aufhören kann, nach seinem Ursprung, seinem Endziel und dem Zweck seines Lebens zu fragen, solange müssen wir auch glauben, dass er versuchen wird - und zwar mit allen Mitteln -, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten. Wenn die Kirche ihm keine Antwort geben kann, so wird er sie anderswo suchen.
Die Frage nach der Zukunft der Religion ist nicht identisch mit der Frage nach der Zukunft der Kirche. Eine Gefahr, der wir uns heute gegenüber sehen, ist nicht die eines Absterbens des religiösen Glaubens, sondern die einer wachsenden Diskrepanz zwischen Glaube und kirchlichem Leben. Gerade uns, die wir überzeugt sind, dass die Kirche von Christus eingesetzt wurde, um sein Wirken und seine Botschaft weiterzutragen, da sie der Weg zum Heil ist, gerade uns muss die Frage nach der Zukunft der Kirche auf dem Herzen brennen. Der Glaube wird nicht absterben, aber er könnte sich auch neben oder außerhalb der Kirche etablieren. Die Gefahr eines "Privatchristentums", eines "Privatglaubens", einer "Privatmoral" - noch im christlichen Gewande und zum Teil noch mit christlichem Engagement verbunden -: diese Gefahr ist größer als wir manchmal ahnen. Dieses Problem geht jedoch über den Rahmen meines Themas hinaus.
Das Wort vom toten Gott stammt von Nietzsche. Es ist ein Wort voller Trauer, voll Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Um die "Tod-Gottes-Theologie" ist es in jüngster Zeit wieder still geworden. Sie war der verzweifelte Versuch, den Glauben zu retten ohne Religion, ohne Gott, ohne Kirche. Aber wir brauchen Gott nicht zu retten und auch den Glauben nicht. Vielleicht sind unsere Ohren, unser Mund und unsere Augen verschlossen und Gott weiß, warum sie verschlossen sind. Aber er weiß auch, dass er mit seinem Finger unsere Ohren berühren kann, damit wir ihn wieder hören; dass er unseren Mund aufschließen kann, damit wir ihn wieder bekennen, und unsere Augen, damit wir ihn wieder sehen: in unseren und seinen Brüdern; damit wir wieder mehr glauben, mehr hoffen, mehr lieben können. Das gilt ebenso für die Gegenwart wie für die Zukunft der Religion und insbesondere des Christentums.