Fastenhirtenbrief 1970
Liebe Katholiken der Kirche von Wien!
"Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium - an die Heilsbotschaft" (vgl. Mk 1,15). Mit diesen Worten, die uns der Evangelist Markus überliefert hat, beginnt Jesus sein öffentliches Wirken. Die Zeit ist erfüllt, die Zeit ist reif geworden! Alles, was bisher war, ist nur eine Vorstufe, alle Propheten waren nur Vorläufer. Johannes der Täufer ist der letzte Prophet des Alten Bundes. Das Reich Gottes ist nahegekommen!
1. "Bekehrt euch und glaubt an die Heilsbotschaft". Das heißt, kehrt um, ruft Jesus den Menschen seiner Zeit und damit den Menschen aller Zeiten, auch uns zu. Die Menschen seiner Zeit wollten es so schwer verstehen wie wir. Diese immer wiederholte Mahnung war damals lästig, und ist es auch heute. Sie ist uns deswegen lästig, weil wir im Innern spüren, dass sie berechtigt ist. Wir wissen schon, dass unser Weg und unser Leben nicht ganz in Ordnung ist. Später einmal werden wir Ordnung machen, denken wir; irgendwann einmal, nicht gerade jetzt. Wir tun so, als lebten wir in einer Art Provisorium und in einem schönen noch dazu, - so meinen wir wenigstens. Aber dann hören wir immer wieder dieses Wort Jesu: "Kehr um!" Du kannst nicht immer warten, du kannst nicht provisorisch leben, dich trösten und belügen mit dem Hinweis auf eine spätere Zeit. In jedem Augenblick entscheidet sich dein Leben. In jedem Augenblick musst du für dein Leben entscheiden. Kehr um, so lange du noch Zeit hast!
2. Kehr um! Niemand und nichts ist von diesem Ruf zur Umkehr ausgenommen, niemand im Volke Gottes. Daher muss die ganze Kirche ihren Weg und ihre Aufgabe immer neu bedenken. Ihre Aufgabe ist es, das Wort Jesu, seine Botschaft und sein Reich den Menschen nahezubringen, in der Sprache und in der Ausdrucksweise der Zeit. Wenn sie das nicht mehr vermag, dann muß sie sich neu besinnen.
Eine solche Neubesinnung, eine solche Umkehr begann mit dem letzten Konzil. Eine solche Neubesinnung, eine solche Umkehr will auch unsere Diözesansynode in die Wege leiten. Auch sie will nach neuen Wegen und neuen Formen suchen, um die Botschaft Jesu dem Menschen unserer Zeit und unserer Umwelt verständlich zu machen; um ihnen zu zeigen, dass es möglich und wie es möglich ist, das eigene Leben nach dieser Botschaft einzurichten. Die Synode war für uns alle etwas Neues. Wir mussten alle erst lernen und wir haben viel gelernt. In dem, was die Synode bisher beraten und verabschiedet hat, steckt eine Fülle von Fleiß und Arbeit. Alle, die dazu beigetragen haben: die Synodalen, die Mitarbeiter in den Kommissionen und Ausschüssen, in den Regionen, Dekanaten und Pfarren, Geistliche und Laien, Männer und Frauen, Alt und Jung, haben sich unser aller Dank verdient.
Die Diözese hat ein neues Konzept für die Seelsorge erhalten - nicht so sehr vom Bischof dekretiert, sondern auf breiter Basis erarbeitet und beschlossen. Es steht gedruckt im Diözesanblatt, d. h., es steht damit zunächst bloß auf dem Papier. Wenn es dort stehen bleibt, ist es nicht mehr wert, als Dutzende Konzepte und Projekte vorher. Ein Planungsstab hat die General- und Teilpläne für eine große Operation entworfen. Das Haus der Kirche soll erneuert werden. Wenn aber die Arbeiter nicht kommen und Hand anlegen, wird es bei den Plänen bleiben. Planen können wenige, aufbauen müssen viele. - Wo aber sind diese Vielen? Das seid ihr, meine lieben Katholiken. Wenn ihr jetzt nicht mittut, bleiben die Beschlüsse der Synode auf dem Papier. Deswegen - versteht mich recht - richte ich an euch die Bitte, an euch alle den Ruf: Kehrt um, und fasst an! Kehrt euch ab von der Auffassung: Das sollen die anderen machen. Was wir nicht tun, wird niemand für uns tun. Ich weiß, viele von euch tun mit; aber es sollen alle mittun. Das Leitwort der Synode drückt den Wunsch nach einem Wirksamwerden, nach einem Lebendigwerden des Glaubens in der Gemeinde aus. Wirken aber kann man nur durch die Tat. Das muss nicht eine Aufsehen erregende Tat sein. Die kleinen Schritte sind die wirksamsten.
Zur pfarrlichen Gemeinde gehört der Glaube, die Liturgie und vor allem auch die Liebe. Macht die neue Liturgie lebendig, indem ihr alle mittut. Vertieft euren Glauben in Gespräch und Bibelrunden. Vor allem aber baut eure Gemeinden auf als eine Heimstatt tätiger Nächstenliebe. Nehmt euch der Armen, der Vereinsamten, der Kranken, der Irrenden und Verzweifelnden an. Wenn die Gemeinde nicht Liebe ausstrahlt, über sich hinaus, dann wird auch das schönste Licht der Liturgie ein kaltes Licht sein. Dann wird der Glaube ein toter Glaube sein. Glauben heißt, dem Evangelium vertrauen und aus diesem Glauben leben.
3. Kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft. Glaubt, das heißt immer auch, vertraut. Seid nicht ängstlich, seid nicht furchtsam, seid nicht verstört, wenn ihr Unruhe in der Kirche seht. Die Kirche hat viele ärgere Stürme in ihrer Geschichte überstanden.
Wir ringen heute alle um ein besseres Verständnis des Glaubens. Wir unterscheiden schärfer zwischen dem äußeren Kleid der Kirche, das wechseln kann, und dem wesentlichen unveränderlichen Inhalt, der immer gleich geblieben ist und gleich bleiben wird. Wir wissen, dass sich manches an der Kirche ändern kann, ohne den wesentlichen und unveränderlichen Inhalt zu berühren. Wir sollen unseren Verstand gebrauchen, auch im Glauben, aber wir müssen immer wissen, dass sich mit dem Verstand allein der Glaube niemals ausschöpfen lässt. Was wir erklären können, sollen wir erklären. Aber wir können Gott und sein Heilswerk nicht zur Gänze begreifen, nicht ausrechnen, nicht einfangen in ein bloß verstandesmäßiges oder wissenschaftliches Schema. Gott ist immer größer als unsere Vernunft. Wir können uns ihm nur nähern, indem wir uns ihm öffnen, ihn annehmen in Demut und Vertrauen. In Demut, weil wir unsere Unzulänglichkeit, unsere Begrenztheit erkennen, und im Vertrauen auf seine Liebe und auf seine Hilfe. Diese Hilfe wird er auch der Kirche nicht versagen, die ja seine Kirche ist. Wenn wir davon nicht überzeugt sind, ist all unser Mühen doch sinnlos. Wir können ein Gutteil unserer Sorgen ihm übergeben. Aus seiner Hand können wir nicht, und kann die Kirche nicht fallen.
4. Kehrt um und glaubt dem Evangelium, glaubt an die Heilsbotschaft. Es ist eine Botschaft des Heiles, eine Frohbotschaft. Christus ist nicht gekommen, um uns neue Ketten aufzulegen, um uns niederzudrücken. Wir sind keine Sklaven und keine Marionetten Gottes. Die Botschaft Jesu ist eine Botschaft der Freiheit und der Freude. Frei und froh wollen wir sein. Freie und frohe Menschen auch in der Kirche. Es gibt heute so viel Freiheit in der Kirche wie nie zuvor. Mit der Freiheit ist aber untrennbar auch Verantwortung verbunden. Aber auch das Risiko des Irregehens und Irrewerdens ist damit nicht ausgeschlossen.
Ihr wisst, liebe Katholiken, dass manche Priester ihr Amt niedergelegt haben. Sie vermochten die von ihnen übernommenen Aufgaben nicht mehr zu erfüllen, weil ihnen manche kirchlichen Vorschriften für ihr Leben zu schwer und zu unverständlich erschienen. Und ihr wisst, dass andere wieder zögern, die Bürde der Ehelosigkeit auf sich zu nehmen. So schwer uns diese Tatsache auch trifft, wir wollen ihren Entschluss achten und ihnen helfen, damit für sie die Botschaft Jesu eine Botschaft des Heiles, eine frohe Botschaft bleibe. Vielleicht ist vieles von dem, was heute gar nicht so froh in der Kirche aussieht, eine Not, mit der Gott die Kirche zwingen will, nach neuen Wegen zu suchen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Kirche, dass die Not und die Bedrohung der Zeit sich später als Segen erwies. Aber heute bedrückt uns die Tatsache, dass manche Priester gehen und wenige Priester kommen. Auf den wenigen liegt daher umso größere Arbeit. Auch ihnen, gerade ihnen, will der Bischof ein Wort des Dankes, ein Wort der Ermutigung, ein Wort der Zuversicht sagen. Dank für ihre Arbeit, die menschlich gesehen, manchmal wenig Früchte zu bringen scheint. Ein Wort der Ermutigung und der Zuversicht: ihr seid nicht allein! - Dazu aber brauche ich eure Hilfe, liebe Katholiken: Fasst eure Priester nicht allein, auch menschlich nicht! Sie sind keine automatischen Vollzieher der Liturgie und der Sakramentenspendung, sie sind Menschen wie ihr. Sie tragen in vielem schwerer als ihr. Gebt ihnen das Gefühl, dass sie immer auf eure Hilfe rechnen können, so wie ihr immer auf ihre Hilfe rechnen könnt. Seid auch um eure Priester eine frohe Gemeinschaft und stützt sie durch eure christliche Zuversicht.
5. Sind wir aber wirklich eine frohe Gemeinschaft? Eine Gemeinschaft, ein Zusammenhalt von Menschen, die einander froh und freudig begegnen? Hier, liebe Katholiken, muss ich von einer Sorge zu euch sprechen, die mich mehr bedrückt als manches andere. Das ist die Sorge um die mangelnde Liebe und das mangelnde Verständnis, das mangelnde Vertrauen und die mangelnde Achtung unter den Christen. Mit welcher Lieblosigkeit und welchem Fanatismus, mit welcher Unduldsamkeit werden heute Meinungsverschiedenheiten unter Katholiken ausgetragen. Jede neue Entwicklung bringt eine gewisse Unruhe mit sich. Das ist unabwendbar und wohl auch gut. Wenn diese Unruhe aber zu einer Frontenbildung führt, und die Fronten einander verleumden und verketzern, dann ist das schlecht und böse. Ich kann euch, liebe Katholiken, nur bitten: bedenkt doch, dass das, was uns als Christen eint, unendlich viel größer ist als das, was uns in einzelnen Fragen trennen kann. Ich bitte euch eindringlich: seid eine Gemeinschaft einander verstehender, einander achtender Menschen. Ihr könnt nicht gemeinsam das Opfermahl feiern, wenn ihr böse Gedanken in eurem Herzen hegt, wenn ihr euch gegenseitig verleugnet und verleumdet. Wenn unter euch einer den Bruder, weil er anderer Meinung ist, des bösen Willens bezichtigt, weist ihn zurecht. Wer seinem Bruder den Glauben leichtfertig abspricht, ohne Grund abspricht, hat Ursache, an seinem eigenen Glauben zu zweifeln. Wer seinen Bruder aus der Kirche hinausdrängen will, muss sich fragen, wo sein Platz in der Kirche ist. Ich bitte euch auch hier: Kehrt um und zeigt, dass ihr gemeinsam an die frohe, an die heilende Botschaft Christi glaubt.
6. Kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft, so ruft uns Jesus im heutigen Evangelium zu. Die Umkehr ist die Voraussetzung für den Glauben. Glaube aber ist das Ziel der Umkehr. Umkehren ist nicht leicht. Es verlangt einen Entschluss - den Entschluss, unser Leben ernst zu nehmen, nicht auf einen fernen Tag hinzuleben, sondern zu wissen, dass wir uns jetzt und heute entscheiden müssen. Aber Gott verlangt nichts Unmögliches von uns. Wir sollen umkehren, um zu glauben an die Botschaft des Heils und der Freude. Weil diese Botschaft eine freudige Botschaft ist, darum kann Gott diese Umkehr von uns verlangen. Kehren wir um, liebe Freunde, wenn wir sehen, dass wir in Gefahr sind, von der Kirche immer nur etwas zu erwarten und selber nichts zu tun. Kehren wir um und greifen wir alle zu, damit die Synode nicht nur auf dem Papier bleibt. Glauben wir in Demut. Wir können und werden nicht alles verstandesmäßig begreifen. Vertrauen wir, seid überzeugt, dass Gott uns und seine Kirche nicht verlassen wird. Er hat uns eine frohe Botschaft gegeben. Man soll es uns ansehen, dass es eine frohe Botschaft war, dass wir frohe und freudige Menschen sein können, dass wir eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern sind, die im Grunde viel mehr eint als trennt. Angst und Furcht brauchen wir nicht zu haben. Gott hat die Welt nicht ihrem Schicksal überlassen. Er hat dadurch, dass er seinen Sohn gesandt hat, entscheidend in die Dinge dieser Welt eingegriffen. Das kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir können nicht verloren gehen, wenn wir umkehren und glauben an die Botschaft Jesu, an die Botschaft des Heiles, an die Frohe Botschaft.
Franciscus Kardinal König Erzbischof
Wien, im Februar 1970.
Dieser Fastenbrief ist am 1. Fastensonntag, 15. Februar 1970, beim Gottesdienst nach dem Evangelium, gegebenenfalls auch in gekürzter Fassung, zu verlesen. Der Hirtenbrief kann auch durch einen Lektor verlesen werden.
zitiert nach: Wiener Diözesanblatt, Jg. 108 (1970), Nr. 2