... eines darf es nie wieder geben: Dass Bruder gegen Bruder steht
Der Bürgerkrieg in Österreich im Februar 1934 hat die Geschichte der Zweiten Republik lange geprägt. Kardinal König hat schon in seiner Neujahrsbotschaft 1964 in diesem Zusammenhang an das Gelöbnis "Niemals mehr soll in diesem Land Bruder gegen Bruder stehen" erinnert. Bei einer Besinnung im Stephansdom am 10. Februar 1984 hat er diesen Gedanken ausführlich dargelegt.
"Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte". Diese Worte aus der Heiligen Schrift des Alten Bundes sind das Leitwort unserer Zusammenkunft. Denken wollen wir und lernen, nachdenken, überdenken und aus dem Überdachten gemeinsam die Lehren, die Folgerungen und die Vorsätze ziehen: Nicht sind wir hierher gekommen, um anzuklagen, um zu richten, um Schuld zuzuweisen; nicht sind wir hierher gekommen, um unseren eigenen Weg bestätigt zu sehen, um die eigene Gerechtigkeit zu suchen. Wenn wir etwas lernen sollen aus den Jahren der Geschichte, dann nicht unsere Selbstgerechtigkeit, sondern unser Versagen; das Versagen der Katholiken, auch das Versagen der Kirche in diesem Lande.
Der Weg der Selbstfindung Österreichs war ein langer Weg. Er war ein schwerer Weg, getränkt von Blut, benetzt von Tränen, gesäumt von Opfern. Auch die österreichischen Katholiken sind diesen Weg gegangen in Irrtum, Schuld und Versagen, wie die anderen auch. Gar mancher aus diesem Volk hat einmal nach anderen Bildern ausgeschaut, hat andere Lieder gesungen, ist anderen Fahnen gefolgt. Es hat der Bruder nicht den Bruder gesucht, um ihm zu helfen. Angst hat die Menschen eng und furchtsam gemacht, Angst hat die offene Hand zur Faust ballen lassen. Die Kirche aber hatte damals die Kraft der Durchsäuerung verloren, die Kirche, der weit über 90 % der Bevölkerung angehörten, besaß nicht mehr die Kraft der Integration, sie war sozusagen Teil unter Teilen, Partei unter Parteien. So trägt auch sie Schuld vor Gott und den Menschen, trägt Schuld in der Vergangenheit. Sie trägt aber auch Verantwortung für die Gegenwart, Verantwortung für die Zukunft.
Es musste ein noch grauenvolleres Schicksal, ein noch größerer Schrecken, millionenfacher Tod über die Welt kommen, um uns allen die Augen zu öffnen, die Herzen aufzubrechen, die Fäuste zu lockern. Seitdem wissen wir, was wir sind, seitdem wissen wir auch um unseren gemeinsamen Weg.
Dieser Weg soll ein Weg des Friedens, ein Weg der Gemeinsamkeit, ein Weg des Miteinanders und nicht mehr des Gegeneinanders sein. Die Kirche weiß heute, dass sie für alle Menschen da ist und nicht nur für einen Teil. Die Kirche muss in dieser Welt bestehen und daher auch zu den Mächten dieser Welt Beziehung halten. Nicht das ist ihre Schuld, sondern dass sie sich beide Hände binden ließ von der Gewalt der Zeit und der Macht der Zeit. Die Kirche darf ja nie vergessen, dass sie ihre Hände freihaben muss für die Ohnmächtigen, für die am Rande Stehenden, für die Nichtintegrierten, für die Armen, die Zurückgesetzten, die Beleidigten, die Leidenden. Das galt für damals, das gilt aber ebenso für heute und für morgen. Denn "was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt ..."
"Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte". Wir alle haben zu lernen. Wir haben zu lernen, dass eine Gemeinschaft nur bestehen kann, wenn ein Mindestmaß an gemeinsamen Überzeugungen, gemeinsamen Werten vorhanden ist. In der Ersten Republik hat es diesen gemeinsamen Nenner kaum gegeben. Und wie ist es in unseren Tagen? Ja, wir haben vieles gelernt, aber haben wir es auch immer beherzigt? Wird die gemeinsame Basis der Werte in unseren Tagen nicht immer schmäler?
Wir alle haben zu lernen, dass politische Gegnerschaft nicht Feindschaft sein muss. In der Ersten Republik sind sich die politischen Gegner vielfach in Hass gegenübergestanden. Und wie ist es in unseren Tagen? Ja, gewiss, Politiker reden miteinander. Aber rückwärts in der zweiten Linie fehlt es nicht an solchen, die bereit sind, die Gegensätze zu verschärfen. Und manche unter uns, denen die Demokratie sonst zu langweilig ist, haben ihre Freude daran.
Wir alle haben zu lernen, dass Gespräch nicht Monolog, sondern Dialog heißt. Wir alle haben zu lernen, dass zum Reden auch das Anhören gehört. Wir alle haben zu lernen, dass auch der Starke wissen muss, was er dem Schwächeren an Lasten zumuten darf; dass man dem Schwächeren nie die Würde rauben darf. Wir haben zu lernen, dass Lösungen in einer demokratischen Gesellschaft immer auch im Kompromiss liegen. Wir haben zu lernen, dass dieser Kompromiss als Ausgleich geachtet und nicht als Packelei missachtet wird.
Wir alle haben zu lernen, dass der kurze Schluss, die rasche Tat oft nur der kurze Weg in den Tod ist; dass Toleranz mehr ist als bloße Duldung, sondern das Ernstnehmen des anderen; dass Mut nicht im Dreinschlagen, sondern im Ausharren besteht und dass die Geduld eine Tugend reifer Menschen ist.
"Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte". Die Geschichte hat die Österreicher in eine harte und bittere Lehre genommen. Erst als wir unser Land nicht mehr hatten, wussten wir, was es uns bedeutet. Erst in der Unfreiheit hatten wir den Wert der Freiheit erkannt. Erst in der Zeit der Gewalt uns nach Brüderlichkeit gesehnt.
Das Österreich nach 1945 ist ein anderes Österreich als jenes vor 1934. In gemeinsamer Arbeit ist das Land wieder aufgebaut worden; auch dieser Dom, in dem wir uns heute versammelt haben. Mit dem Vaterland ist auch die Kirche wieder ins Licht der Freiheit getreten. Auch sie hat ihre Lektion, die harte und bittere Lektion der Geschichte, gelernt. Das Mariazeller Manifest des Katholikentages von 1952 legt davon Zeugnis ab: "Keine Rückkehr zum Staatskirchentum" heißt es darin, "keine Rückkehr zum Protektorat einer Partei über die Kirche und keine Rückkehr zu jenen gewaltsamen Versuchen, auf rein organisatorischer und staatsrechtlicher Basis christliche Grundsätze verwirklichen zu wollen". Soweit das Mariazeller Manifest. Mit Gewalt und Unterdrückung lässt sich kein "Reich Gottes" auf Erden bauen.
Die Kirche ist aber auch, so heißt es weiter, keine Kirche der Sakristei oder eines katholischen Ghettos. Sie ist eine Kirche der weltoffenen Türen und der ausgebreiteten Arme, bereit zur Zusammenarbeit mit dem Staat, mit allen gesellschaftlichen und politischen Kräften zur Durchsetzung des gemeinsamen Wohles.
Manifeste sind schöne Worte, wenn sie nicht umgesetzt werden, heraufgeholt aus der Memoria in das Gedenken und Bedenken festlicher und ernster Stunden.
Zu einem Gedenken in ernster Stunde sind wir heute zusammengekommen, zum Gedenken an die toten Schwestern und Brüder, die vor 50 Jahren ihr Leben für Österreich gelassen haben; zum Gedenken an alle, die um dieses Land und für dieses Land gekämpft haben, Opfer einer Zeit voll Schuld und Wirrnis, Opfer aber auch, so hoffen wir, für den Frieden der kommenden Tage.
Wir sollen sie ehren in der Stille und im Gedenken an unser aller Schuld. Gott schenke ihnen die Ruhe und uns den Frieden. - "Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte". Was immer auch geschieht in diesem Lande, eines darf es nie wieder geben: dass Bruder gegen Bruder steht. - Gott sei uns allen gnädig.