Die Stellung der Familie in unserer Zeit
Der Katholische Familienverband Österreichs, vor zwanzig Jahren durch einen Beschluss der Bischofskonferenz gegründet, hat dieses Jubiläum mit einer wissenschaftlichen Tagung verbunden, zu deren Abschluss ich die Ehre habe, zu Ihnen zu sprechen. Dass es eine wissenschaftliche Tagung war, mit der der Wissenschaft geziemenden Sachlichkeit, Nüchternheit und Exaktheit, kennzeichnet vielleicht auch den Wandel, der sich in den letzten zwanzig Jahren in der Auffassung von Ehe und Familie vollzogen hat, wenngleich dieser Wandel erst in jüngster Zeit richtig spürbar geworden ist.
Unterscheidung von zeitbedingten Formen und überzeitlicher Gestalt
Nichts war und ist zum Teil bis heute so emotionell geladen wie die Fragen um Ehe und Familie. Wie kaum auf einem anderen Gebiet besteht auf dem von Ehe und Familie die Gefahr, dass Ideen die Verbindung mit der Realität verlieren und zu Ideologien werden; dass die ausschließliche Befassung mit Familienproblemen auch zu einer Art Familienegoismus führen kann. Diese Gefahr besteht manchmal auch im katholischen Raum.
Wenn wir uns gegen die Gefahren von außen wenden, gegen jene, die Ehe und Familie radikal infrage stellen und ihr überhaupt keine Aufgabe mehr zubilligen, dann müssen wir uns auch kritisch mit manchen Auffassungen in unserem eigenen Bereich auseinandersetzen, die von der Familie reden, aber nur ein zeitbedingtes Bild vor Augen haben.
Mit Ehe und Familie verhält es sich so ähnlich wie mit der Kirche. Auch bei der Kirche müssen wir unterscheiden zwischen dem, was wandelbar, und dem, was unwandelbar ist. Das ist nicht immer leicht. Was die Kirche betrifft, so hat uns das Konzil die Augen geöffnet für den Unterschied von Ewigem und Zeitlichem, von dem, was unveränderlich ist, und dem, was veränderbar ist, ja verändert werden soll. Lange, vielleicht zu lange haben wir das eine mit dem anderen gleichgesetzt, haben gemeint, dass sich in der Kirche überhaupt nichts ändern dürfe. Wir waren nur auf Bewahrung bedacht und wunderten uns, wenn die Welt dann die Kirche für eine Art Museum hielt.
Heute ist in vielem eine gegenteilige Entwicklung eingetreten. Heute meinen manche, dass alles in der Kirche Schale ist, die gesprengt werden muss, alles nur Kleid, das verschlissen ist und zerrissen gehört, dass alles in der Kirche nur zeitbedingt ist und das Dauernde nur das ist, was man gerne als die Sache Jesu bezeichnet: nämlich Brüderlichkeit, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe.
Auch bei Ehe und Familie war es oft so, dass man eine zeitbedingte und dieser Zeit sicherlich gemäße Form der Familie für die zeitlose und allgemeingültige Form der Familie hielt - z. B. die bäuerliche, großbürgerliche oder auch kleinbürgerliche Familie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Viele, die heute glauben, gegen Ehe und Familie ankämpfen zu müssen, kämpfen eigentlich gegen ein sehr relatives, keineswegs allgemeingültiges, sehr zeitbedingtes Bild der Familie an.
In der Diskussion über die gegenwärtige Familie und ihre Zukunftsaussichten müssen wir uns daher von verschiedenen Aussagen und Wertungen auch mancher katholischer Kreise distanzieren, die nicht der Realität entsprechen und in diesem Sinne als "ideologisch" verstanden werden können, weil sie eine bestimmte historische Form von Ehe und Familie mit ihrem zeitlosen Wesensgehalt identifizieren und dadurch manche Missverständnisse und unnötige Gegensätze verursachen. Man darf nicht übersehen, dass Ehe und Familie sich schon immer mit der Gesamtkultur einer Epoche gewandelt haben. Schließlich generalisieren und idealisieren solche Auffassungen die Vorstellung von Ehe und Familie nicht selten aufgrund des seinerzeit gesellschaftlich bestimmenden Mittelstandes und vernachlässigen oder übersehen die Ehe- und Familienprobleme der unteren gesellschaftlichen Schichten. Weder eine von einem bestimmten Sozialgefüge noch von einer bestimmten Kultur, Sitte oder vom Brauchtum geprägte Familie ist mit der Ehe und der Familie gleichzusetzen oder gar mit religiösen Wertungen in Verbindung zu bringen. Dasselbe gilt auch für die unhistorische Überschätzung des jeweils Modernen.
Die patriarchalische Familie war keineswegs schlechter als die uns heute als Idealbild vorschwebende partnerschaftliche Familie. Sie war seinerzeit die dem damaligen sozialen und kulturellen Entwicklungsstand entsprechende Form. Deshalb war sie nicht besser und nicht schlechter als andere Formen vorher und nachher.
Experimente mit der Familie
Gewisse äußere Erscheinungsformen der Familie werden immer einem Wandel unterworfen sein. Auch die heute gewiss verstärkt auftretenden Spannungen in Ehe und Familie, und zwischen diesen und der Gesellschaft, sind im wesentlichen Anpassungsschwierigkeiten und keineswegs ein Prozess der Auflösung oder Ablösung von Familie und Ehe durch andere Einrichtungen der Gesellschaft. Es soll hier nicht die Rede sein von den manchmal sehr praktischen zeitbedingten Einrichtungen größerer Wohngemeinschaften und ihrer vielfachen gegenseitigen Hilfsstellung unter Wahrung der inneren Geschlossenheit und der sexuellen Integrität der Familie. Alle darüber hinausgehenden Experimente, die Ehe und Familie im Grunde verneinen, haben auch nach dem Zeugnis ihrer eigenen Propagandisten ohne Ausnahme sich als lebensunfähig erwiesen und haben letztlich den Beweis erbracht, dass es sich dabei um keine vertretbare menschliche Existenzweise handelt. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass gerade die Kinder zu den besonderen Opfern solcher Kommunen gehören, weil sie durchschnittlich eine seelisch-geistige Verwahrlosung und in der Folge schwere Entwicklungsstörungen erlitten haben oder erleiden. Der Fortbestand von Ehe und Familie als eine der menschlichen Natur ohne Zweifel angemessene Lebensordung ist nicht nur eine Tatsache der bisherigen Menschheitsgeschichte. Sie wird auch die tragende Lebensform der Zukunft sein und bleiben. Das ist nicht ein Wunschtraum katholischer Bischöfe, nicht eine soziale Forderung katholischer Verbände, das ist eine von der Wissenschaft erhärtete Tatsache.
Großfamilie - Kleinfamilie - Kernfamilie
Im Zusammenhang mit der Diskussion über eine angeblich geschichtlich bedingte Ablöse von Ehe und Familie durch Einrichtungen der Gesellschaft steht die Behauptung von der sozialen Isolierung der modernen Kleinfamilie. Gerade diese Behauptung oder These hat viel dazu beigetragen, dass die Diskussionen und Experimente mit den Kommunen begannen.
Sorgfältige Untersuchungen und Erhebungen haben in der Zwischenzeit ergeben - dies ist ebenfalls wissenschaftlich erhärtet -, dass jenes Schlagwort von der sozialen Isolierung der modernen Kleinfamilie in der sozialen oder gesellschaftlichen Wirklichkeit kein Fundament hat. Allerdings hat dieses Schlagwort wieder viel zur Verunsicherung der Familie in der Gegenwart beigetragen. Die Hauptursache dieser unkritischen Verallgemeinerung liegt wohl darin, dass man die Trennung der Haushalte, wie sie im Laufe der Zeit notwendig geworden war, mit sozialer Vereinzelung bzw. Abkapselung gleichsetzte. Aus der Tatsache, dass junge Eheleute in unserem industriellen Zeitalter mit geänderten Lebensformen ihren eigenen Haushalt, ihre eigene Wohnung haben wollen, mit Recht haben wollen, folgt weder ein Niedergang der Familiengesinnung noch eine familienmäßige oder verwandtschaftliche Isolierung. Auch die Kleinfamilie der Gegenwart beruht in ihrer materiellen Existenz, aber auch in ihrem seelischen Gefüge vielfach auf der Mithilfe der Großeltern, die, wo immer es geht, in die Nähe der verheirateten Kinder ziehen. Die in einem gemeinsamen Haushalt lebende Großfamilie früherer Zeiten lebte gewiss enger zusammen, ohne dass das Zusammenleben deswegen inniger war.
Befreiung von der Familie?
Aber die Kritik gegen die Kernfamilie als soziales Grundgebilde setzt noch tiefer an. Man wirft ihr vor, dass die natürlichen Bindungen der Familie dazu führten, dass der Mensch den Menschen ganz ausgeliefert sei und keine Distanz zum anderen findet. Mangel an Selbstständigkeit und Entfaltungsmöglichkeit, verbunden mit Frustration, Aggressivität und Neurosen seien daher die Folge. Die Familie bleibe in einem Gruppenegoismus befangen. Die Herrschaft des Vaters, der seine Vorstellungen den Familienmitgliedern aufdränge, führe zu Abhängigkeit von autoritären Erziehungsmustern usw. Die Familie müsse daher "enttabuisiert" werden, so hörte man noch vor wenigen Jahren. Denn die Familienmitglieder seien in einem Binnenraum eingeschlossen, in dem sie nicht atmen können. Sie sollen deshalb entwurzelt, aus ihren natürlichen Banden herausgerissen und in den Großraum der Gesellschaft eingeführt werden, um sie durch die sozialen Verflechtungen frei zu machen. In der technisch-sozialen Wertwelt habe sich der Mensch eine Freiheitswelt geschaffen, in der die Freiheit viel radikaler gelingen müsse als in der Familie. Dadurch werde auch der Gruppenegoismus der Familien aufgelöst. All dies soll unter dem Schlagwort "Befreiung" geschehen.
Dem ist entgegenzuhalten: Es ist ein Widerspruch in sich, wenn unfreie Familienmitglieder zuerst gesellschaftliche-humane Bedingungen ihrer Existenz schaffen sollen, um nachträglich die Freiheit zu realisieren. Nur bereits freie Menschen vermögen freie gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Wenn diese Freiheit in der Familie nicht wächst, wird sie in einem gesellschaftlichen Großraum noch weniger erreicht. Denn eine Gesellschaft wird unter solchen Voraussetzungen - durch den sogenannten Sozialisierungsprozess - ohne Familien nur Egoisten erzeugen, die darauf aus sind, ihr Ich, ihr Lebensspektrum auf Kosten anderer zu erweitern.
Die Familie ist eine Erziehungsgemeinschaft
Die Gesellschaft muss alles Interesse daran haben, dass ihr Nachwuchs, die in der Familie gewachsene Wir-Fähigkeit und Reife mitbringt. Sonst ist die Auflösung der Familie in die Gesellschaft hinein nur eine Verlängerung ihrer Unerfülltheit im sozialen Bereich. Das heißt, wenn die grundlegenden menschlichen Werte dem Kinde in der Familie nicht mitgegeben werden, merkt man es in der Schule, im Beruf und in der Gesellschaft oder der Gemeinschaft. Es sind die - wie es in der Schulsprache heißt - milieugeschädigten Kinder. Milieugeschädigte Kinder sind im Allgemeinen das Opfer ihrer verwahrlosten Familien, einer Familie, in der die Kinder keine Liebe, keine Mitmenschlichkeit und keine Fürsorge erfahren. Denn die Liebe der Eltern zu ihrem Kind ist der Urgrund aller Mitmenschlichkeit und aller mitmenschlichen Liebe. Seine Hilfsbedürftigkeit und Liebesbedürftigkeit macht die Eltern immer wieder bereit, für das Kleinkind verfügbar und ihm zu Diensten zu sein. Das Kleine übt eine Herrschaft über die Eltern aus, die mit wärmender Liebe beantwortet wird. Denn junge Eltern werden doch in hohem Maße auch durch ihr Kind oder ihre Kinder erzogen. Ein neues Lebens- und Verantwortungsbewusstsein entsteht in ihnen, Schritte der Reifung ihrer Persönlichkeit werden getan. Ihr Dasein erhält eine einzigartige neue Dimension.
Nicht zu übersehen ist schließlich ein anderer Erziehungsvorgang in der Familiengemeinschaft, der für eine gesunde Gesellschaft Voraussetzung ist: Es ist die Erziehung der Kinder in ihrem Zusammenleben. Sie lernen aus Erfahrung die Regel: "Was Du nicht willst, dass man Dir's tu, das füg auch keinem anderen zu." Das in der Familie sich herausbildende Verhaltensmuster umschließt daher gegenseitiges Wohlwollen, Rücksichtnahme, persönliche Initiative, Verantwortung und das Bewusstsein der Freiheit. Das "Ich" weitet sich zum "Wir".
In der geordneten Familiengemeinschaft wächst das Bewusstsein des Friedens, das unerlässlich ist für ein die geistigen und leiblichen Bedürfnisse befriedigendes und daher lebenswertes Leben. Es umschließt neben der Achtung füreinander vor allem besonders das allen zukommende Maß von Freiheit. Es wächst der Sinn für Gerechtigkeit, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft und Worthalten. Die Familie weiß sich als Einheit mit dem gemeinsamen Interesse am Wohlergehen des Ganzen, weil es Voraussetzung für das Wohlergehen aller Familienmitglieder ist. Daraus bildet sich die erste Idee des Gemeinwohls. Ja, es entsteht das Bewusstsein, dass all das für die Familiengemeinschaft Notwendige nur zustande kommt, wenn ein Ordnungswille die erforderlichen Verhaltensweisen der Familienmitglieder und das Zusammenwirken aller im Interesse des Ganzen gewährleistet. Mit dem wachsenden Verständnis für einen solchen Ordnungswillen im gemeinsamen Interesse ist auch die Idee der natürlichen und selbstverständlichen Autorität gegeben. Alle diese Werte: Wohlwollen, Liebe, Verantwortung, Bewusstsein der Freiheit, Ordnungswille, werden vom größeren, übergreifenden Sozialgefüge vorausgesetzt und nicht erst mitgeteilt. Die sozialen Verhältnisse müssen allerdings so geändert werden, dass die Familie die objektiven Möglichkeiten erhält, die Freiheit zu entfalten. Soziale und ökonomische Strukturpolitik ist daher ein wesentliches Element jeder Familienpolitik.
Voraussetzung einer positiven Familienpolitik
Es ist jedoch entscheidend, zu sehen, dass alle strukturpolitischen Maßnahmen dann wertlos sind, wenn sie in einer Gesellschaft gesetzt werden, die die Familien für ihre eigenen egoistischen Interessen verbraucht. Familien werden dann von der Gesellschaft unterstützt, damit sie dieser Gesellschaft das bringen, was sie von ihnen erwartet. Es gibt auch eine hintergründig manipulierte, diktierte Förderung. Solche Förderung steht nicht unter dem Vorzeichen der Unterstützung, nicht die konkreten Familien sind gemeint, sondern eine gesellschaftliche Ideologie setzt ihre Interessen durch, unter dem Scheinaltruismus der Familienhilfe. Wirkliche Strukturmaßnahmen müssen aber so gesetzt sein, dass sie ein positives Verhältnis von Mann, Frau und Kindern ermöglichen, dass sie die familiäre Spontaneität entfalten helfen, nicht zu einer Funktion gesellschaftlicher Ansprüche werden.
Davon sind wir heute noch weit entfernt. Wir müssen sagen, dass unsere Gesellschaft, unsere Umwelt gerade hier auch in Österreich - im Gegensatz zu anderen Ländern - in großem Maße familien- und kinderfremd, ja zum Teil familien- und kinderfeindlich ist. Das reicht von den so wenigen kindergerechten Wohnungen über den Mangel an Spielplätzen, Kindergärten, billiger Kinderbekleidung bis zu dem Ton, mit dem man hierzulande oft genug mit Kindern verkehrt, entweder überheblich herablassend oder ganz egoistisch. Ich möchte von dieser Kritik auch die Kirche nicht ganz ausnehmen. Wir reden zwar viel vom Kind, aber wehe, wenn ein Kind im Kirchenraum den Mund aufmacht: Sofort richten sich strafende Blicke darauf, und eine verschüchterte Mutter sucht eilig den Ausgang oder droht dem Kind mit erhobenem Zeigefinger. Wie soll ein Mensch sich später im Raum der Kirche heimisch fühlen, wenn er als Kind erlebt hat, dass man in der Kirche zuerst und für allemal still zu sein hat, mäuschenstill. Das Kind soll auch im kirchlichen Bereich vor allem erfahren, dass Jesus der Kinderfreund ist, der gesagt hat: "Lasset die Kleinen zu mir kommen und wehret es ihnen nicht", ein Jesus, der nicht beleidigt oder gestört wird durch ein Lachen oder Weinen, durch ein leises oder ein lautes Wort eines Kindes. Einem Kind den Eintritt in das Leben gewaltsam zu verwehren, ist ein Unrecht; aber ist es nicht auch ein Vergehen, einem Kinde Äußerungen dieses Lebens zu verwehren und zu verbieten, gerade im Hause Gottes? Wenn die gläubige Gemeinde sich nicht als Summe von Einzelindividuen empfindet, sondern als lebendigen Organismus, dann gehört das Kind dazu, auch zur kirchlichen Gemeinschaft.
Der Eigenwert der Ehe
Es gibt ein sogenanntes individualistisches Eheideal, dem es in besonderer Weise auf die Glückserfüllung der Eheleute im persönlichen Verhältnis zueinander ankommt. Dieses individualistische Eheideal muss zwangsläufig in einen gewissen Gegensatz zur Familiengemeinschaft treten. Die Familie weist in ihrer ganzen Anlage immer eine überindividuelle Zielsetzung auf. Die Ehe findet erst in der Familie, im Kinde ihre zentrale Erfüllung. Andererseits wollen wir das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und die Ehe nach Art der vorindustriellen Zeit nur in dienender Stellung unter der Vormundschaft der Familie sehen. In der industriellen und wirtschaftlichen Lebensordnung unserer Zeit muss die Ehe einen spürbaren Eigenwert entwickeln. Bei einseitiger Gebundenheit und Dienstbarkeit der Ehe an die Familie ohne ausreichende eheliche Selbstfindung kann den Ehegatten heute nicht die notwendige Lebenskraft erwachsen, die sie brauchen, um das Fundament einer funktionierenden Familie zu werden.
Unvollständige Familien
Eine Aussage über Ehe und Familie der Gegenwart, gerade vonseiten der Kirche, kann nicht vorbeigehen am Problem der unvollständigen Familien. Unter unvollständigen Familien verstehe ich jene, in der ein Elternteil durch Tod, Ehescheidung, böswilliges Verlassen und Trennung fehlt. Aber auch die uneheliche Mutter mit ihrem Kind bildet eine unvollständige Familie. Gerade diese Familien verdienen besondere Anteilnahme und Hilfe, wobei ihre oft bestehende seelische Not einer religiösen Sinndeutung und eines seelsorglichen Beistandes bedarf. Daneben ist auch ein Appell an Gesellschaft und Staat am Platz, sich der Nöte dieser unvollständigen Familien anzunehmen. Auch den unehelichen Müttern gegenüber wird die Kirche heute mitfühlendes Verständnis, Hilfe und Respekt aufbringen, weil diese Mütter trotz des Druckes der Gesellschaft ihre Leibesfrucht nicht abtrieben, sondern das Kind zur Welt brachten.
Erziehung der Kinder
Angesichts unserer Zeitumstände ist die erzieherische Aufgabe des Elternhauses heute besonderen Schwierigkeit und Belastungen ausgesetzt. Immer schon hat in der Familie die Entwicklung des Kindes ihren Anfang genommen, aber erforscht und beschrieben wurden diese Vorgänge erst im Verlauf unseres Jahrhunderts, deshalb können wir diese Reifungsprozesse heute beim Namen nennen und auf ihre Wichtigkeit verweisen. Derzeit herrscht überaus starkes Interesse an schulischer und vorschulischer Erziehung. Die Diskussion auf diesem Gebiet ist notwendig und begrüßenswert. Allerdings muss man dabei beachten, dass Erziehung weder mit drei noch mit sechs Jahren beginnt, sondern bei der Geburt. Es sind gerade die ersten Lebensjahre, ja die ersten Lebensmonate, die von ausschlaggebender Bedeutung sind. Fehler und Versäumnisse während dieser Zeit können später nur mehr schwer oder gar nicht mehr gutzumachen sein. Unzählige Kinder werden in ihrer Lebensexistenz geschädigt, weil ihnen nicht genügend personale Zuwendung zuteil wird, weil entweder Vater oder Mutter für sie nicht genügend Zeit hatten. Zeit für sein Kind zu haben, müsste oberstes Gebot jeder Erziehung sein. Eine Familie, in der keiner für den anderen Zeit hat, muss über kurz oder lang in sich zusammenfallen. Sie wird vom Zeitmangel ausgehöhlt wie von einem reißenden Fluss.
Der erste wichtige psychische Vorgang ist die "Ich-Werdung", die Selbstwerdung des Kindes. Alle Phasen der Individualisation entfalten sich am besten unter der liebenden Obsorge der Mutter. Die Gesellschaft sollte es der Mutter ermöglichen, bei ihrem Kind zu bleiben, ohne dass deswegen die Familie in finanzielle Nöte geraten muss.
Auf die Individualisation aufbauend, kommt jener zweite wichtige Prozess in Gang, der Sozialisation genannt wird. Dieser Ausdruck wird auch in der Pastoralkonstitution "Kirche und Welt" des II. Vatikanischen Konzils an mehreren Stellen erwähnt. Damit ist eine immer stärkere Einbeziehung des Menschen in gesellschaftlichen Verflechtungen gemeint. Pädagogik und Soziologie verstehen darunter die Erziehung des Kindes zur Einhaltung der in einer Gesellschaft geltenden Verhaltensnormen. Sie umfassen nicht nur für den Bestand der Gesellschaft grundlegende sittliche Normen, sondern auch jene, die sonst in Sitte und Gebrauch gelten. Von großer Wichtigkeit scheint mir jedoch der Hinweis zu sein, dass der Sozialisationsvorgang nicht wertneutral oder weltanschungsneutral zu denken ist. Daran zu erinnern, ist deshalb wichtig, weil Bestrebungen vorhanden sind, durch eine vorschulische Erziehung die Kinder im frühesten Kindesalter einer weltanschaulich neutralen Sozialisationspädagogik zu unterwerfen. Es ist aber eines der allerursprünglichsten Menschenrechte der Eltern, ausschließlich die Grunderziehung in weltanschaulicher und sittlicher Hinsicht bei den Kindern zu bestimmen. Auf dieses Erstrecht zu achten, ist heute umso wichtiger, als der zweite Erziehungsfaktor, die Schule, eine ständige Auseinandersetzung mit dem aufnötigt, was dem Kind vom Elternhaus vermittelt wird.
Von nicht geringerer Bedeutung ist der dritte Erziehungsfaktor, das heißt, die Einwirkung der gesellschaftlichen Umwelt auf die Kinder und auf die heranwachsende Jugend. Ich denke an die tägliche Umwelt auf der Straße, die Reklame, den Einfluss von Kino, Zeitung, Fernsehen, Rundfunk, Lektüre. Dieser Erziehungsfaktor des Milieus arbeitet mit einem Gefälle zur Wertneutralität und stellt fort und fort Wahrheit und Wertüberzeugungeng infrage, die durch die Sozialisation im Elternhaus vermittelt wurden. Dazu kommt noch das Trotzalter, das einem Bruch mit solchen Überzeugungen besonders zugänglich ist.
Auf diesem Hintergrund kommt der "Personalisation" des Kindes eine besondere Bedeutung zu (vgl. dazu die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Nr. 6). Mit der Ich-Werdung oder Personalisation des jungen Menschen ist das Bewusstsein des Person-Seins und des Person-Wertes und der darin begründeten Verantwortung verbunden. Weil dem Menschen als Person Freiheit und daher sittliche Verantwortung für seine Selbstverwirklichung eigen sind, besitzt er Menschenwürde. In der Familie und durch die in ihr waltende Liebe und Achtung füreinander erfährt der Mensch seinen Personenwert, erfährt er die Menschenwürde und lernt er das von ihr geforderte Verhalten. Es ist die Familie, in der ihm das Bewusstsein seiner Freiheit und seiner Verantwortung vermittelt wird und damit auch das, worin sein wahrhaftes Menschsein besteht.
Die Stellung der Frau
Eine Betrachtung der Familie kann an dem brennenden Problem der Stellung der Frau und ihrer Aufgaben in einer geänderten Welt nicht vorbeigehen. Es gibt Entwicklungen, die durchaus positiv zu werten sind, wie die höhere Bildung der Frau, die Berufstätigkeit der Frau, die Technisierung des Haushaltes und vieles andere mehr. Aber Konflikte, die einer geistigen Auseinandersetzung bedürfen, können nicht ausgetragen werden, wenn auch die Frauen zum Tanz um das goldene Kalb mitgerissen werden. Die Emanzipation der Frau, ihre Selbstverwirklichung kann nicht darin bestehen, dieselben Fehler zu begehen wie die Männer.
Selbstverwirklichung ist ein Auftrag, den wir von Christus selbst erhalten haben. Jeder von uns hat seine Talente und Fähigkeiten, er muss sie nach bestem Wissen und Gewissen verwalten. Darin liegt die wahre Selbstentfaltung: alle Seiten der Persönlichkeit zu einem harmonischen Akkord erklingen zu lassen, eine Symphonie zur Ehre Gottes und zur Freude der Menschen. Also Selbstverwirklichung nicht um seiner selbst willen, sondern immer nur um des anderen willen. Ein Ausspruch des chinesischen Weisen Lao-tse: "Wer sich selbst ansieht, leuchtet nicht - entzünden können wir uns nur am Du." Nicht die Befassung mit sich selbst erhält das Leben, sondern die Beschäftigung mit dem anderen Menschen, und die Sorge für ihn. Ob allein oder in der Ehe lebend, der Weg zu Gott führt über den Mitmenschen. In der Familie sind die Mitmenschen der Ehepartner und das Kind.
Wirksames Gegengewicht zur Vermassung
Einer Tendenz unserer Zeit gilt es besonders zu widerstehen: der Vermassung bzw. der Bürokratisierung aller menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen, d. h. allen Entpersönlichungsvorgängen. Es gilt daher alles zu fördern, was dem Eigenwuchs und der Selbstverantwortung einerseits und der Gemeinschaft und Kommunikationsfähigkeit andererseits zu dienen fähig ist. Der Prototyp der Gemeinschaft, der diese Forderung erfüllt, ist grundsätzlich die Familie. Sie ist die Dimension der Gegenseitigkeit, in der der Mensch den Menschen in einem absoluten Sinne ernst nimmt. Wo dies geschieht, brechen in der Familie Freiheitsräume auf, die die Familie für die Gesellschaft frei geben. Wo dies geschieht, ist die Familie Präsenz des christlichen Seins.