Die Familie - eine Schule des Menschseins
Herr Kardinal, die Bischöfe Österreichs haben das laufende Jahr zum Jahr der Familie proklamiert. Warum setzt sich die Kirche gerade jetzt so stark für die Familie ein?
Die Bedeutung von Ehe und Familie, namentlich der Wert der auf Treue aufgebauten Familie, sind in der öffentlichen Diskussion in den letzten Jahren oft herabgesetzt worden. Aber Familie und Glaube sind die beiden Grundpfeiler, auf denen sich das Leben der Menschen aufbaut, sie sind es zumindest dann, wenn es um ein lebenswertes und menschenwürdiges Dasein geht. Die Kirche möchte mit dem "Jahr der Familie" einen Beitrag leisten, damit die Familie von heute mit all ihren Konflikten und Schwierigkeiten ihre Aufgaben besser erfüllen kann.
Wie sieht die Kirche heute überhaupt die Familie? Schwebt ihr ein patriarchalisches Bild vor, wie es vielleicht noch im 19. Jahrhundert gültig war, als mehrere Generationen unter einem Dach miteinander lebten?
Nein, die Kirche weiß, dass heute die Kernfamilie die Regel ist, die nur aus dem Elternpaar und den Kindern besteht - und sie weiß auch, dass es viele "unvollständige Familien" gibt. Auf der anderen Seite erkennt man heute, dass die Kernfamilie zunehmend der Isolierung ausgesetzt ist, wenn sie sich abkapselt. Das Gespräch zwischen den Generationen erstirbt, jeder sieht nur seine eigenen Probleme. Die Forderung nach mehr Kontakten für die Familie, nach gegenseitiger Hilfe, nach einer neuen Solidarität, die über die eigene Wohnungstür hinausreicht, wird heute von vielen Seiten erhoben. Die Kirche ist diesen Weg durch die Familienrunden bereits seit Längerem gegangen. Im Miteinander der Familienrunden zeichnet sich ein Bild der Familie ab, das neu ist und doch auch die vertrauten Konturen beibehält.
Welche Aufgabe hat aber heute die einzelne Familie?
In unserer rastlosen, kalten, teilweise noch immer einem falschen Fortschrittsglauben verfallenen Zeit hat die Familie zunächst sicher die Aufgabe, dem Menschen in einem überschaubaren Bereich Geborgenheit und emotionellen Spannungsausgleich zu bieten. Die Familie ist wahrscheinlich der einzige Ort in der Welt, an dem der einzelne ganz ernst genommen wird, volle Zuwendung erfährt und so geschätzt wird, wie es seiner Würde entspricht. Natürlich kommt es auch in der Familie zu Spannungen, Spannungen gibt es überall dort, wo Menschen miteinander zu tun haben.
Aber: In der Familie lernt der Mensch jene Gemeinschaft und Rücksicht, die heute notwendig sind, damit die Welt leben kann. In der Familie lernt der Mensch das Geben und Teilen, Wertschätzung und Würde, Ehrfurcht und Brüderlichkeit.
Familie ist damit auch eine Schule des Menschseins, der Humanität, der Treue und gegenseitigen Rücksichtnahme. Nur hier lässt sich in der Praxis einüben, was es heißt, seinen eigenen Willen und den Willen anderer zur Geltung kommen zu lassen, nur in der Familie lässt sich einüben, wie man Konflikte löst, statt sie zu unterdrücken. Familie, das bedeutet für uns aber auch "Kirche im kleinen". In der gegenseitigen Liebe der Ehepartner ist Gott selbst für unsere Welt gegenwärtig, denn Gott ist die Liebe und der Ehebund ist ein Abbild des Bundes, den Gott durch Christus mit der Kirche geschlossen hat. Wenn Mann und Frau dieses Geheimnis bewusst leben, kann ihre Ehe zu einem hoffnungsvollen Zeichen für die Umgebung werden, dass Liebe keine Illusion ist, sondern lebbare Wirklichkeit. Ganz ähnlich wie die Kirche ein Zeichen für die kommende Einheit der ganzen Menschheit darstellt. Die Familie ist aber noch in einem anderen Sinn "Kirche im kleinen": Durch sie geschieht heute die Weitergabe des christlichen Glaubens an die nächste Generation. Bemühungen von Schule und Pfarrgemeinde sind in der Regel zum Scheitern verurteilt, wenn sie bei den jungen Menschen nicht auf den von der Familie geschaffenen Grundlagen aufbauen können.
Daher muss das Bekennen heute auch schon in der Familie beginnen. Die Hauptverantwortung für die religiöse Unterweisung tragen die Eltern. Das bedeutet, dass in der Familie wieder über Gott geredet, in der Bibel gelesen, gebetet werden muss. Auch wenn es schwierig ist, in einer Familie, wo alle zu verschiedenen Zeiten nach Hause kommen, fünf ruhige Minuten für ein gemeinsames Gebet zu finden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Familie in der Gesellschaft heute mehr denn je die Aufgabe hat, Werte und Sinn zu vermitteln, die Menschlichkeit, die so vielfältigen Gefährdungen ausgesetzt ist, zu bewahren und den Menschen zu helfen, dass sie zu vollverantwortlichen Persönlichkeiten heranreifen, die nicht Spielball verschiedenartigster Einflüsse sind.
Welche konkreten Ziele peilen die Katholiken Österreichs mit dem "Jahr der Familie" an?
In erster Linie geht es darum, die Menschen durch das "Jahr der Familie" zum Nachdenken zu bringen. Dieser Prozess des Fragens und Nachdenkens müsste dazu führen, dass auch die Grundlagen für Ehe und Familie stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Gerade angesichts der Scheidungsreform sollten sich die Menschen wieder bewusst werden, dass ein Scheidungsrecht - das im staatlichen Bereich sicher notwendig ist - eben nur eine Notlösung darstellt, dass die eigentliche Basis von Ehe und Familie Treue und Dauer, die Bindung auf Lebenszeit ist.
In diesem Sinne wäre eine verfassungsmäßige Verankerung von Ehe und Familie sicher zu begrüßen, weil sie doch auch deutliche Signalwirkung hätte. Daher ist besonders aktuell, was der UN-Weltpakt für bürgerliche und politische Rechte vom Jahr 1966 im Artikel 23 vorsieht: "Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat." Dieser Pakt sollte von Österreich so bald als möglich ratifiziert werden. Es bedarf aber auch einer verfassungsrechtlichen Bestandsgarantie der Ehe, wobei deren wichtigste Merkmale hervorzuheben wären. Spätestens seit der Schaffung der sozialen Grundrechte hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass der Grundrechtskatalog auch Leistungen des Staates zu umfassen hat. Dementsprechend erscheint folgende Norm geboten: "Der Staat hat die Ehe und die Familie zu fördern."
Welche Initiativen wird die Kirche im "Jahr der Familie" für die Familie setzen?
Bereits der Österreichische Synodale Vorgang hat betont, dass "Ehe und Familie als Schwerpunkte der Seelsorge gesehen werden sollten". Das hat auch bereits verschiedentlich seine Auswirkungen gehabt: Zum Beispiel hat bei den Pfarrgemeinderatswahlen jeder Elternteil eine halbe Stimme für jedes Kind zusätzlich. Darüber hinaus ist es ganz allgemein Aufgabe der christlichen Gemeinde, den Familien eine Stütze zu sein. Andererseits werden in immer mehr Pfarren die Familien zu Stützen der Seelsorge. Hier geht es nicht zuletzt darum, einen Ansporn zur spontanen, selbstverständlichen gegenseitigen Hilfe im praktischen wie im geistig-geistlichen Bereich zu geben.
In Österreich gibt es eine Reihe von beachtenswerten Initiativen in diesem Sinn. Als ein besonders gelungenes Beispiel möchte ich hier auf das Arbeitsprogramm des Vikariats Unter dem Manhartsberg der Erzdiözese Wien hinweisen. Vom Familiengebet über die Kinder- und Familiengottesdienste und die "Elternbildung ab der Taufe für die entscheidenden ersten sechs Lebensjahre" bis zu Seminaren zum Thema Partnerschaft und Ehe hat der zuständige Vikariatsrat eine ganze Palette von Maßnahmen zur Förderung einer "familialen Religiösität" entworfen.
zitiert nach: Franz Kardinal König, Kirche und Welt. Ansprachen, Referate, Aufsätze, Herold 1978, S. 239-241