Die Freiheit in der Moral
Auch in der Liebe gibt es viele Stufen der Erkenntnis. Denn Gott ist die Liebe. Daher ist die Liebe im letzten so unbegreiflich, so unendlich tief wie Gott selbst. Es braucht ein langes Hineinwachsen in diese Erkenntnis der Liebe. Zugleich mit der inneren Erkenntnis wächst auch die Kraft der Liebe, das Können der Liebe, die Wundermacht der Liebe.
Was man noch nicht eingesehen hat, vermag man nicht recht
Deswegen ist begreiflich, dass niemand dem anderen vorschreiben kann, welche Kraft der Liebe er aufbringen soll. Denn die Kraft der Liebe hängt von der inneren Erkenntnis ab. Nicht einmal von den Zehn Geboten kann man sagen, dass jedermann sie begreifen muss und halten und bewältigen kann. Es gibt in den geistigen Elendsvierteln unserer Großstädte, in den dunklen Winkeln dieser Welt viele Menschen, denen diese Gebote durchaus nicht mehr klar sind, weil sie täglich das krasse Gegenteil erleben. Deswegen spüren sie kaum etwas im eigenen Gewissen und kommen nicht zur Einsicht. Gerade aus diesem Grund hat uns Jesus gesagt: Verurteilt die Menschen nicht, "richtet nicht" (Mt 7,1). Denn wir können nicht in den Menschen hineinschauen, wir können nicht sehen, was er wirklich in seinem Gewissen erkannt hat und was nicht. Wirkliche Schuld beginnt erst dort, wo der Mensch in seinem Gewissen, im Geiste Gottes, etwas erkannt hat und dennoch widersteht.
Der Mensch sieht das Äußere, Gott sieht das Herz
Die "Gesetze" der Liebe, die wir in der Heiligen Schrift als Worte Christi vorfinden, sind also etwas radikal anderes als die Gesetze des Staates. Der Staat kann seinen Bürgern nicht ins Gewissen hineinschauen, er kann nur ihr äußeres Tun beurteilen. Der Staat muss die äußere Ordnung aufrechterhalten; wer das äußere Gesetz übertritt, der gilt vor dem Staat als schuldig. Bei Gott ist das anders. Obwohl alle Menschen den Zöllner verurteilt haben, hat Jesus von ihm sagen können: "Jener aber ging gerechtfertigt von dannen." Gerade die von anderen verurteilten Menschen hat Jesus in Schutz nehmen können, weil Er um ihr Innerstes wusste; die Zöllner, Dirnen, Sünder: "Wahrlich, Ich sage euch, die Zöllner und Dirnen kommen noch vor euch in das Reich Gottes" (Mt 21,31). Gott allein weiß, was der Mensch im Innersten erkannt hat; ob er den Anruf Gottes vernommen hat, ob sein Gewissen reagiert hat, und ob er daher wirklich schuldig geworden ist. Gott allein erkennt wirkliche Sünde.
Wer ist vor Gott gerecht?
Wer ist ein "liebender" Mensch? Wer lebt "in der Liebe Christi"? Wer jenem inneren Anruf gehorcht, den er vernommen hat, der ist ein liebender Mensch, der lebt "in der Liebe Christi", auch wenn er vielleicht viele Gebote der Heiligen Schrift noch nicht versteht und seiner Umgebung zum Ärgernis geworden ist. Gott weiß um ihn und rechnet ihn zu den Seinen. Wer diesem Anruf Gottes mehr und mehr folgt und daher hellhörig für diesen Anruf Gottes wird, der ist auf dem Wege der Liebe, der wächst "in der Liebe Christi". Denn die Liebe ist ein Leben und will daher wachsen wie alles Leben. Freiheit in der Moral heißt: Du musst das tun, was du als Anruf Gottes erkennst, als Anruf des Gewissens, als inneres Drängen und Fordern und Sollen, als innere Verantwortung und Pflicht, als inneres Müssen. Dann lebst du in der Liebe Christi. Dann bist du aber auch ein freier Mensch. Auch in deiner religiösen Moral.
Was bedeuten die Gebote Christi und der Kirche?
Aber das heißt nicht, dass es für den Menschen nun keine Zehn Gebote, keine Bergpredigt, keine Gebote der Kirche mehr gibt. Was bedeutet dann diese Bergpredigt samt den Zehn Geboten? Gott will uns die inneren Gesetze der Liebe offenbaren und zeigen. Denn auch die Liebe hat ihre innere Gesetzmäßigkeit. Jesus zeigt uns in der Bergpredigt das innere Wesen der Liebe, das Alte Testament zeigt uns in den Zehn Geboten das innere Gesetz der Liebe. Auch die Morallehrbücher der Kirche wollen nichts anderes zeigen als: dass die Liebe ihre inneren Gesetze hat, und wie sie lauten. Es rächt sich immer, gegen das Gesetz der Liebe zu leben. Wenn diese Gesetze der Liebe im Zusammenleben der Menschen nicht geachtet werden, kommt es zum Völkermord, zum Krieg, zur Vereinsamung, zur Aufsässigkeit der Jungen, zum Verbrecherunwesen, zur Machtlosigkeit der Gerichte, zum Spott auf alle Autorität, zur Verwilderung, Brutalität, Zersetzung und Fäulnis der Völker. Die Liebe hat innere Gesetze. Und man stirbt, wenn man sie nicht begreift und nicht achten will.
Der Weg zur inneren Freiheit
Die Menschen sind auf der Suche nach dem Glück. Viele meinen, sie könnten dieses glückliche Leben nur dann finden, wenn sie alle moralischen Bindungen abwerfen oder zumindest sehr leicht nehmen. Aber das ist ein Trugschluss. Solche Menschen werden nie die große innere "Freiheit" erleben, sondern Knechte ihrer unbeherrschten Leidenschaften bleiben: "besessen" von vielen "Süchten" und immer aufs neue von ihnen enttäuscht.
Die große innere Freude und Freiheit beginnt im Menschen erst dann, wenn der Geist Gottes machtvoll im Menschen zu wirken beginnt. Denn nichts ist so frei wie die Liebe, der Geist. In solchen Menschen klaffen Freiheit und moralisches Gesetz nicht mehr auseinander; denn die Liebe bewältigt die Forderungen des Gesetzes von innen her. Aber die Liebe ist grenzenlos. Deswegen muss der Mensch immer tiefer sein innerstes Wesen läutern, sich "bekehren", seine Grundgesinnung ändern. Nur so findet er zum Frieden im Innersten, zur Freiheit der Liebe.
Die Bekehrung dauert ein Leben lang
Das Wort "Bekehrung" ist heute ein Fremdwort geworden. Und doch ist es das große Thema aller Propheten und aller religiöser Verkündigung: "Waschet euch, reinigt euch, schafft weg eure bösen Taten aus Meinen Augen. Hört auf, Böses zu tun. Lernt Gutes tun. Trachtet nach dem Rechten, kommt den Unterdrückten zu Hilfe." "Dann werden eure Sünden, und wären sie rot wie Scharlach, weiß werden wie Schnee, und wären sie wie Purpur, sie würden wie Wolle." "Werft von euch alle Missetaten, die ihr verübt habt. Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Warum wollt ihr sterben, Haus Israel? Denn Ich will nicht, dass irgendeiner sterben muss. Bekehret euch, und ihr werdet leben." Das war das Wort aller Propheten (vgl. Jes 1,16-18; Ez 18,31f). Aber es muss eine echte Umkehr sein. Es geht um das "neue Herz" und um den "neuen Geist", um das Anders-Werden, um die Verbesserung des eigenen Charakters, um die Änderung der Grund-Gesinnung. Es geht um die wirkliche Umwandlung des Menschen. Und diese Wandlung dauert ein Leben lang.
Wie kann es zu der Bekehrung kommen?
Bekehrung ist nur dort möglich, wo der Mensch in sich geht, Einkehr bei sich selbst hält. Es gibt kein allgemeines Schema, wie der Mensch zur Umkehr kommt. Aber es wird immer um eine Erkenntnis gehen, um eine Einsicht. Von dorther wird die Kraft kommen, das zu ändern, was man als schlecht erkannt hat. Vieles kann uns zum Anlass der Bekehrung und Gesinnungsänderung werden: die Lektüre eines Buches, die Begegnung mit einem Menschen, Krankheit, Not, ein Naturereignis... Bekehrung ereignet sich immer dann, wenn der Mensch Gott begegnet. Dort beginnt Bekehrung. Die religiöse Erfahrung aller Völker sagt: Aus "eigener" Kraft vermag der Mensch nur einen kleinen Anfang der Bekehrung zu bewältigen. Erst wenn es zur "Verbindung mit der anderen Welt" kommt, erfährt der Mensch den Kraftstrom Gottes, die volle Bekehrung. Wenn wir "die Kräfte der künftigen Welt verkosten" (Hebr 6,5), dann wächst in uns die Kraft, die Einsicht, die Bekehrung. Gott selbst nimmt uns dann das "Herz aus Stein" (Ez 11,19) und schenkt uns das "Herz aus Fleisch" (Ez 36,26). Das ist dann die wirkliche Umwandlung, die Bekehrung bis in die Tiefe. Diese Wandlung des Menschen geschieht oft im Nu, geheimnisvoll, wunderbar.
Wer sich wirklich bekehrt, der erlebt etwas, was er bisher nicht gekannt hat: einen tief-inneren Frieden, Ruhe und Harmonie, innere Freude, innere Freiheit, ein geheiltes Inneres. Bei radikalen Bekehrungen ist das oft ein Augenblick unbeschreiblichen Glücks.
Die Wege zur Verbundenheit mit dem Absoluten
Wie kann es gelingen, diese "Kräfte der kommenden Welt zu verkosten"? Hier sind die Wege tausendfältig, denn der Geist Gottes weht, wo Er will. Es gibt keine "einzig richtige Methode". Aber der Mensch findet diese Wege, wenn er der Sehnsucht seines Herzens folgt. Schon unbewusst sucht der Mensch diese Verbindung mit dem Absoluten, selbst wenn er noch ein vermeintlich unreligiöser Mensch ist: indem er die Stimme seines Gewissens kultiviert, nach innerer Harmonie strebt, nach innerer Zufriedenheit... Später wird dieser Mensch nach dem Sinn suchen, nach dem letzten Grund, nach einem erfüllten Leben, nach dem Endgültigen, Unbedingten, nach Wahrheit, echter Liebe, Gemeinschaft. Es ist ein "Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit", eine Suche nach dem "Reich Gottes". Auf diesem Wege wird der Mensch oftmals stille werden, um in sich hineinzuhorchen, sich zu sammeln. Eines Tages wird er auf heilige Texte stoßen und wird lesen, studieren, suchen, in der Heiligen Schrift, in religiöser Literatur. Bei manchem wird es vielleicht die Musik sein, durch die er den Weg zur inneren Sammlung findet, zur inneren Ruhe, zum Größeren, Wesentlichen. Viele suchen in der Natur den Finger Gottes; dort spüren sie die Schönheit Gottes, Seine Macht und Weisheit, das Schweigen Gottes und Seine Nähe... Eines Tages wird so ein Mensch erleben, dass er diesen Letzten, unsagbar Ersehnten anrufen kann: als den Lebendigen, Gegenwärtigen. Der Mensch betet... Manche entdecken schließlich jenes tiefe Gebet ohne Worte, bei dem nur der Geist wach ist und dem Geiste Gottes begegnet. Dieses tiefe Gebet findet man bei allen großen Religionen. Es ist das Geheimnis der Begegnung mit dem grenzenlosen Gott. Man nennt es "Mystik", weil es Geheimnis ist. Ohne diese Verbundenheit mit Gott, mit den "Kräften der künftigen Welt", gibt es keine wirkliche Umwandlung zum neuen Menschen, zum freien Menschen.