" Die Jugend und das dunkle Haar sind Windhauch ..."
Die Tatsache, dass die Gemeinde Wien vor fünfzehn Jahren als eine ganz neue Aufgabe in ihren weitreichenden Sorgebereich die Errichtung und den Ausbau eines Pflegeheimes und eines Geriatrischen Tageszentrums im Sozialmedizinischen Zentrum Ost in Angriff genommen hat, ist dem Durschnittswiener nicht sehr bekannt und wird - so weit man davon nicht betroffen ist - wohl kaum gebührend beachten. Der Entschluss Ihrer kollegialen Leitung, jetzt die breite Öffentlichkeit zu informieren, was hier in verhältnismäßig kurzer Zeit gewachsen ist, scheint mir besondere Anerkennung zu verdienen; eine besondere Anerkennung auch deswegen, weil im städtischen Bereich eine wachsende Zahl chronisch Kranker und vor allem auch alter Menschen registriert wird, die weder Verwandte noch Nachbarn haben, die sich um sie kümmern können, kümmern wollen und die so in gesellschaftliche Isolierung versinken und damit das soziale Großklima auch belasten.
Anerkennung verdient dieses Vorhaben aber auch deswegen, weil Sie in der Vielfalt neuer Wege des Helfens auch Anregungen geben, um Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln. Das Angebot vieler neuer Heil- und Hilfsmöglichkeiten in Ihren neuen Stationen mit je fünfzig Heimbewohnern ist erstaunlich. Dies reicht bis zu einem Abholdienst und einer gezielten Beratung der Angehörigen im Geriatrischen Tageszentrum.
Wenn Sie mich dankenswerterweise zu diesen festlichen Tagen in Ihr Zentrum eingeladen haben, so möchte ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrung einige Gedanken vorlegen über das späte Alter, das auch einen Teil der chronisch Erkrankten mit einschließt. Ich betrachte diesen Lebensabschnitt als eine besondere Aufgabe für jeden Menschen und ich möchte damit auf meine Weise mithelfen, das Alter aus der isolierten Statik eines abgesonderten Lebensabschnitts herauszunehmen und es hineinzustellen in den Rhythmus eines ganzen Lebens, mit seinem immer möglichen Scheitern, aber auch mit allen seinen Chancen.
Wenn uns heute gelegentlich gesagt wird: Alle wollen alt werden, aber niemand will alt sein, so scheint hier etwas schief zu liegen. Ältere Menschen verdrängen oft ihre Angst vor dem Altwerden; sie wollen, so scheint es manchmal, jung bleiben um jeden Preis. Es gibt entsprechende Operationen und man legt immer größeren Wert auf Komplimente wie: "Sie sehen so jung aus!" - Selbst hinter solchen Komplimenten ist man sich kaum bewusst, dass hier auch die Angst oder das Ablehnen des Alters eine Rolle spielt.
Ich möchte daher mit dem gebotenen Nachdruck darauf hinweisen, dass jeder Lebensabschnitt seine Chance und seine spezifischen Möglichkeiten hat. Das späte Lebensalter allerdings besitzt in dieser Hinsicht eine Eigentümlichkeit - als Vorzug, aber auch als Last -, wie es keinem anderen Lebensabschnitt gegeben ist.
Das heute etwas schiefe Bild des alten Menschen in unserer Gesellschaft ein wenig zurechtzurücken, ist nicht nur im Interesse des alten Menschen selbst, sondern auch im Interesse aller, nicht zuletzt der jungen Generation.
Das Geheimnis des Altwerdens ist schlicht und einfach Teil vom Geheimnis des Lebens. Der Weg des Altwerdens beginnt bereits mit dem Anfang des Lebens, ist in das Leben hineingezeichnet, ist ein lebenslanger Veränderungs- und Entwicklungsprozess, der zur Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt auffordert. Das Ziel des Lebens ist es, zur Fülle und zur Vollendung zu gelangen.
Die Gerontologie, damit meine ich nicht nur das medizinische Fach der Beschäftigung mit dem Alter, macht uns heute darauf aufmerksam, dass jeder Mensch nicht nur ein chronologisches, ein biologisches Alter durchmisst, sondern dass er ebenso durch das psychologische Alter bestimmt wird; das heißt, man ist so alt, wie man sich fühlt. Denken Sie etwa an Ludwig van Beethoven: Er komponierte bis zum Ende seines Lebens, obwohl er während der letzten fünfzehn Jahre bereits völlig taub war. Dieses Beispiel zeigt, von welcher Bedeutung es für den älteren Menschen ist, nicht nur das chronologische Alter zur Norm seines Handelns und Fühlens zu machen.
Was die Schwierigkeiten des Alters angeht, so ist es oft die Gesellschaft selbst, die dem alt werdenden Menschen zusetzt. Die Zahl der älteren, der alten Menschen, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, war noch nie so hoch wie heute. Infolge der höheren Lebenserwartung erleben immer mehr Kinder und Jugendliche, dass ihre Eltern alt werden; denn viele Erwachsene im mittleren Alter haben noch einen oder beide Elternteile.
Andererseits aber kann das Leben heute in größeren Zeitspannen geplant werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Ausweis der Statistiken nur ein verhältnismäßig geringer Teil eine über das normale Maß hinausreichende soziale oder staatliche Hilfe in Anspruch nimmt. Die große Mehrheit der älteren Menschen lebt im eigenen Haushalt und will dort auch bleiben. Daher geht die Forderung an unsere Gesellschaft in Richtung des bekannten Subsidiaritätsprinzips: Hilf so, dass der andere sich selber helfen kann. Dementsprechend können heute etwa Dreiviertel aller Pflegefälle durch ein Netz helfender Hände in häuslicher Umgebung versorgt werden.
Andererseits ist unser heutiger Sozialstaat - trotz aller in zunehmendem Maße diskutierten Probleme - mit seinen Hilfeleistungen und Hilfestellungen eine große Entlastung für die Familien, für kleine Gemeinden sowie für private und auch karitative Hilfestellungen. Im Gegensatz zu früher handelt es sich damit aber heute nicht um freiwillige Hilfeleistungen vonseiten des Sozialstaates, sondern um einen Rechtsanspruch der alten Menschen an den Staat selber, das heißt, an die ganze Gemeinschaft. Der alte Mensch ist heute - von seinem seelischen Befinden abgesehen - materiell (in der Regel) wohlversorgt. Trotz der in letzter Zeit vermehrt auftretenden Diskussionen um den sogenannten Generationenvertrag bindet das Bewusstsein, dass auch sie einmal alt werden, eine weitreichende Solidarität auch den jungen Menschen.
Dazu noch ein Wort zu den psychologischen Schwierigkeiten der alten Menschen im Spannungsfeld der Generationen: Junge Menschen - meint man - sind und bleiben immer jung. Ältere Menschen sind eben schon immer alt und waren nie jung. Das elementare Wissen, dass alle Menschen unterwegs sind und dass daher auch junge Menschen alt werden - ob sie wollen oder nicht -, schiebt man gerne zur Seite. Ähnliches gilt von Einzelfällen mürrischer und verbitterter älterer Menschen, die verallgemeinert werden. Daher meint man: So sind eben die alten Menschen alle. So ist in der öffentlichen Meinung, in unserer Gesellschaft das Bild des alten Menschen oft mit überwiegend negativen Zügen belastet.
Das Alter gilt als Schicksalsgemeinschaft. Das Altwerden ist ein Hinweis auf unsere menschliche Schicksalsgemeinschaft, aus der sich niemand, der junge Mensch ebensowenig wie der alte Mensch, ausschließen kann. Es gilt daher die Möglichkeit zu nützen, junge Menschen schlicht und einfach an das künftige Altwerden zu erinnern. Im alttestamentlichen Weisheitsbuch Kohelet finden wir in diesem Zusammenhang folgenden Hinweis: "... die Jugend und das dunkle Haar sind Windhauch. Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: Ich mag sie nicht!" Und mit dem Bild des verlassenen Brunnens fährt der Text fort: "... ehe die silberne Schnur zerreißt, die goldene Schale bricht, der Krug an der Quelle zerschmettert, das Rad zerbrochen in die Grube fällt, der Staub zur Erde zurückfällt als das, was er war, und der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat."
Kohelet will hier nicht an die Beschwerden oder Ängste des Alters erinnern, sondern den jungen Menschen aufmerksam machen, dass Leben, Anfang und Ende, als Ganzes zu sehen ist. Denn das Älterwerden ist kein Problem der Alten allein, es ist eine Frage, die alle angeht.
Dass Altwerden ein Weg in die Dunkelheit sein kann, das bedarf wohl keiner Erklärung. Alte Menschen werden oft von der Gesellschaft, der sie nicht mehr nützlich sind, abgesondert. Man nimmt sie nicht mehr ganz ernst, ohne dass damit böser Wille gemeint ist. Aber das Bewusstsein des Alleinseins und der Verlassenheit kann so stark werden, dass der alte Mensch in Gefahr gerät sich selber zu verlieren, sich selber abzulehnen, seine eigene Identität durch die Vergangenheit gewissermaßen in Beschlag nehmen zu lassen. Ein solcher Mensch hat, so scheint es, nichts mehr, wofür es sich lohnt weiterzuleben.
Daraus ergibt sich eine Herausforderung für uns alle: Die Lösung kann nicht eine bloße Beschäftigungstherapie sein, sondern der ehrliche Versuch vonseiten der aktiven Gesellschaft, die oft wertvolle Lebenserfahrung der alten Menschen zu nützen. Es geht nicht nur um das leibliche Befinden des Menschen, sondern um sein psychisches Befinden, seine Verbindung von Leib und Seele, die zur elementaren Struktur des menschlichen Daseins gehört, die menschliche Person charakterisiert und ihre Stellung inmitten des Universums bestimmt.
Dies legt es wohl nahe, dass ich als Vertreter der christlichen Religion darauf hinweise, dass sich auch die christlichen Kirchen in unserem Lande mehr als früher mit der wachsenden Zahl der alten Menschen beschäftigen. Es gibt heute überall im Bereich der Kirchen Seniorengemeinschaften, Seniorenrunden, mit verschiedenen Angeboten, sich auch mit der Frage nach dem Sinn des ganzen Lebens und besonders der späten Phase auseinander zu setzen. In unseren Pfarrgemeinden ergibt sich so oft eine natürliche Verbundenheit zwischen älteren und jüngeren Menschen, bei Gottesdiensten ebenso wie bei allgemein festlichen Anlässen und Zusammenkünften. Auf diese Weise kommt ganz unaufdringlich wieder zum Ausdruck, dass wir alle unterwegs sind und dass wir unterscheiden sollen zwischen dem, was vergeht, und dem, was bleibt.
Tröstlich ist es, in einer solchen Sicht an den Psalm 23 zu erinnern, wo es heißt: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. ... Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir."
Erwin Ringel hat in seinem Buch Das Alter wagen darauf hingewiesen, dass "in keinem Zeitpunkt des Lebens die Beantwortung der Sinnfrage so wichtig ist wie gerade im Alter". Diese Frage aber führt direkt oder indirekt zur religiösen Frage. Denn alle Religionen, nicht nur das Christentum, wollen eine Antwort geben auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins - auf die offenen Fragen: Was ist der Sinn meines Lebens? Was bedeutet der Tod in meinem Leben? Was kommt danach? - Inmitten eines kraftvollen Lebens ist gerade der junge Mensch geneigt, solche Gedanken zur Seite zu schieben, und das ist verständlich. Im Alter aber ist das schwierig, man kann seine innere Stimme nicht ganz zum Schweigen bringen.
Es ist daher ein Segen, eine Gnade, wenn der Mensch aufgrund seines im Alter immer deutlicher werdenden Ahnens und Suchens, das nur im Glauben zur Ruhe kommt, zu der Feststellung kommen kann: Jetzt ist die Zeit, um in Gelassenheit und Ruhe mein Leben zu ordnen, zu überdenken. Ich weiß, dass für mich die Zeit kommt, um mein Leben in die Hand dessen zurückzugeben, der es mir, wie einem getreuen Verwalter, übergeben hat. - Um solche Gedanken zu vertiefen, gibt es immer wieder Angebote des religiösen Gespräches im weiteren und engeren Sinne; hilfreich können auch ausgewählte Stellen der Bibel sein. Das alles kann und wird oft hinführen zu dem, was wir in allen Religionen das persönliche Gebet nennen. Denn als letzte Hingabe macht es still und vereinfacht komplizierte Dinge.
Auf eine solche Weise ist dem alten Menschen die Chance gegeben, dem Ende wissend, versöhnt und vertrauensvoll entgegenzugehen und - mit dem Blick auf das Ganze - bis zum Ende seines Weges das Beste zu versuchen.
Mit dem Blick auf den ganzen Menschen, nicht so sehr in seiner jeweiligen Lebenssituation, sondern in seinem großen Zusammenhang des Unterwegs-Seins, haben Sie als wohlüberlegtes Team von engagierten Pflegepersonen, ärztlichen und sozialen Diensten Ihr Tor auch den pastoralen und seelsorglichen Diensten weit geöffnet. Es ist der ganze Mensch in seiner leib-seelischen Einheit, worauf Sie in Ihrem Zentrum mit vielfältigen Diensten besonders hinweisen. Damit weisen Sie über den engeren Kreis der gestellten Aufgaben hinaus und sind zu einem Signal geworden: Nicht die immer größere Spezialisierung ist das Ziel, sondern es gilt in einer größeren Zusammenschau dem ganzen Menschen zu dienen. Dafür möchte ich Ihnen heute besonders danken und meine persönliche Anerkennung aussprechen. Mit Recht haben Sie Ihrem Zentrum das Motto gegeben: "Die moderne Gesellschaft ist so gut, wie es ihr Umgang mit Pflegebedürftigen ist."