"An der Hand, nicht durch die Hand eines anderen Menschen sterben..."
Brief von Kardinal König im Anschluss an die Parlamentarische Enquete "Solidarität mit unseren Sterbenden - Aspekte einer humanen Sterbebegleitung in Österreich" (29. Mai 2001) an alle Mitglieder des Präsidiums und des Ausschusses 4 (Grundrechte) des Österreich-Konvents.
Wien, am 14. Jänner 2004
Sehr geehrte(r) N.N.!
Wenn ich mich heute persönlich an Sie wende, dann im Blick auf Ihre wichtige Aufgabe als Mitglied des Österreich-Konvents und im Blick auf die große Verantwortung, die Sie in diesem Zusammenhang auch für die Zukunft unseres Landes tragen.
Mit großer Freude erinnere ich mich an die Parlamentarische Enquete "Solidarität mit unseren Sterbenden - Aspekte einer humanen Sterbebegleitung in Österreich" vom 29. Mai 2001, wo ich in meinem einleitenden Statement festgehalten habe: "Unterschiedliche politische Konzepte und Meinungen gehören zum demokratischen Alltag. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass es trotz allem Anliegen im demokratischen Gemeinwesen gibt, die außer Streit stehen sollten oder müssten. Dazu gehört, so meine ich, wohl auch das Problem der Euthanasie und die dadurch notwendig gewordene Solidarität mit unseren Sterbenden."
So habe ich die einstimmige Entschließung des Nationalrats vom 13. Dezember 2001 zum Thema Sterbebegleitung in dieser Stunde mit großer Dankbarkeit vor Augen. Eine Entschließung über alle Parteigrenzen hinweg, mit der das Österreichische Parlament und unser Land insgesamt ein starkes Signal und ein Beispiel für Europa gegeben hat und gibt. Ich halte das für ein wichtiges und vitales Zeichen dafür, wie sehr in unserer Demokratie das Gemeinwohl von allen im Parlament vertretenen Parteien mitgetragen wird. Und ich bin auch als Bürger dieses Landes stolz darauf, dass es in Österreich einen breiten politischen Konsens - über alle Parteigrenzen hinweg - gibt: Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch die Hand eines anderen Menschen.
Daraus aber folgt: Wer Sterbehilfe nicht will, muss für optimale Sterbebegleitung sorgen! Denn das Nein zur Euthanasie bedingt notwendig ein Ja zu all dem, was erforderlich ist, damit Menschen leben können bis zuletzt. So darf ich dieses Schreiben auch zum Anlass nehmen, einmal mehr an die noch ausstehende rasche und vollständige Umsetzung dieses einstimmigen parlamentarischen Beschlusses zur Förderung der Hospizarbeit zu erinnern, wie das etwa auch Caritasdirektor Michael Landau immer wieder getan hat.
Ein Schlüsselbegriff ist für mich in diesem Zusammenhang die Menschenwürde, die unantastbar ist und allen Menschen zukommt, unabhängig von der Einschätzung anderer oder ihrer Selbsteinschätzung - den Geborenen und Ungeborenen, den Gesunden und Kranken, den Behinderten und Sterbenden. Die Menschenwürde kommt dem Menschen allein schon aufgrund seines Menschseins zu, und sie geht jeder rechtlichen Regelung voraus. Aus der europäischen Geschichte wissen wir, wie sehr das christliche Menschenbild in seiner Gottesebenbildlichkeit die Würde des Menschen im Einzelnen wie in der Gesellschaft zur Grundlage des christlichen Abendlandes gemacht hat. Und das heißt, das christliche Menschenbild steht nicht im Widerspruch zu einem humanistischen, sondern vertieft es. So sind das humanistische und das christliche Menschenbild zugleich Mittelpunkt und Basis meiner Überlegungen.
Und ich erinnere hier an die gemeinsame Stellungnahme der Kirchen für diesen Österreich-Konvent, die im Einklang mit Artikel 1 der Europäischen Grundrechte-Charta sehr entschieden auf das Prinzip der Achtung der Menschenwürde hingewiesen haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.
Wenn ich diesen Brief an Sie schreibe, dann gilt mein Einsatz einer "Kultur des Lebens", zu der eine "Kultur des Sterbens", eine Kultur der Solidarität mit den Sterbenden, untrennbar dazugehört. Diese "Kultur des Lebens" erfordert Aufmerksamkeit, Behutsamkeit und Sensibilität gerade am Anfang und am Ende menschlichen Lebens, wo das Leben in besonderer Weise gefährdet, ja "zerbrechlich" ist, wo die Gefahr droht, dass der Mensch ganz über den Menschen verfügt. Ich bin überzeugt: Das Leben des Menschen ist mehr als eine beliebige biologische Tatsache unter anderen. Das aber spricht etwa gegen jede Praxis, die das Tor öffnet für die biologische Selektion von Menschen.
Im Einsatz für eine "Kultur des Lebens" ist verantwortungsvolle Politik gerade im Blick auf "die Jungen" und "die Alten" in besonderer Weise gefordert. Damit das Zusammenleben der Generationen etwa auch in der Familie gelingt, sind Rahmenbedingungen notwendig, die die Wertschätzung stützen und wachsen lassen. Es gilt, alles zu vermeiden, was "die Jungen", etwa, wo es um Bildung geht, oder "die Alten", etwa im Blick auf Themen wie Pensionen oder Zukunft der Pflege, auf die Position belastender Budgetposten reduziert. Es geht immer zuerst und zuletzt um Menschen. Ich halte es für wichtig, ein wesentliches Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Eine Gesellschaft, die ein menschliches Antlitz hat. Ein Gradmesser für die Menschlichkeit der Gesellschaft aber ist, wie sie mit den Schwächeren umgeht.
Die Herausforderungen und Rahmenbedingungen für die ersten, wie auch für die letzten Lebensjahre, haben sich im vergangenen Jahrzehnt entscheidend verändert. Die Schnelligkeit des alltäglichen Lebens, neue Technologien, der Verlust von "Ruhezonen" in der Informationsflut, all das macht es jungen Menschen nicht leicht, die "großen Linien" für ihr Leben zu erarbeiten. Für alte Menschen ist dies, aber auch die - dank des medizinischen Fortschritts - längere Lebenserwartung, Teil einer Welt, in der sie sich nur allzu oft an den Rand gedrängt fühlen. Es braucht hier eine "Kultur des Lebens", die auch den körperlichen und psychischen Veränderungen, die das Alter mit sich bringt, mehr Verständnis entgegenbringt. Damit alte Menschen gar nicht in die Situation kommen, sich als Belastung und unnütz zu fühlen.
In diesem Zusammenhang steht für mich auch die Hospiz-Idee. Sie rückt - und das halte ich für entscheidend - den Menschen, jenseits der Grenzen der Medizin, wieder ganz in den Vordergrund. Denn gerade in der letzten Lebensphase geht es um jene Fragen, die jeden Menschen, jung oder alt, gesund oder krank, irgendwann bewegen: "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Welchen Sinn hat mein Leben? Welchen Sinn hat das Leid? Welches ist das letzte, unsagbare Geheimnis meiner Existenz, aus dem ich komme und wohin ich gehe?" Die Menschen in Österreich brauchen mehr Information und - weil solche Fragen das Gemeinwohl aller Menschen im Staat berühren - auch ein entschiedenes Handeln der politisch Verantwortlichen im Lande.
Aus diesem Grunde wende ich mich heute an Sie und appelliere an Sie, in der Bundesverfassung auch ein Verbot der Tötung auf Verlangen zu verankern. Ich halte einen klaren und verbindlichen Rahmen für unverzichtbar, der sicherstellt, dass es auch künftig in unserem Land keinen Raum für aktive Sterbehilfe, für die Tötung auf Verlangen, für Euthanasie geben soll. Um es nochmals zu wiederholen: Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch die Hand eines anderen Menschen. "Sterbehilfe", also Euthanasie, soll in Österreich künftig auch verfassungsrechtlich untersagt werden - als Wegweiser und Bekenntnis zu einer "Kultur des Lebens" und als Signal für Europa, also über die Grenzen unseres Landes hinaus.
In dankbarer Verbundenheit für Ihren Einsatz für Österreich im Rahmen des Österreich-Konvents und mit sehr herzlichen Grüßen
Kardinal König