Menschenwürdige Gestaltung der letzten Wegstrecke
Im Anschluss an die Eröffnung Ihres internationalen Symposiums durch Frau Helene Mayer als Vorsitzende des IGSL entspreche ich gerne Ihrer Einladung, um in meiner Eigenschaft als emeritierter Erzbischof von Wien und damit aus der Sicht der katholischen Kirche auf die Wichtigkeit der Themen Ihres Symposiums, gerade in unserer Zeit und auch in unserem Lande hinzuweisen. Angesichts der zunehmenden Auseinandersetzungen in der öffentlichen Meinung Europas zum Thema "Sterbehilfe, Euthanasie" möchte ich Ihnen, Frau Vorsitzende und Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen danken für Ihre Initiative, angesichts bereits zahlreicher Missverständnisse, die Begriffe zu klären und klare Positionen zu beziehen. Es geht um ein Thema, das nicht nur in unserem Lande alle Menschen angeht. Es geht dabei nicht nur um Fragen der Medizin, sondern es geht vor allem auch um Fragen der Ethik und damit um Fragen nach dem ganzen Menschen, es geht um die unantastbare Würde eines jeden Menschen, sowie um die unverzichtbaren Menschenrechte.
Eine der heute üblichen Umfragen in Österreich auch zu diesem Thema hat vor einiger Zeit aufhorchen lassen. Das für unser Land überraschende Ergebnis zum Thema "Euthanasie, bzw. aktive Sterbehilfe" veranlasste mich, in der Presse dazu kritisch Stellung zu nehmen. Ich hatte damals auf die Fragestellung des Umfrageinstitutes hingewiesen, die meiner Meinung nach Missverständnisse leicht provozieren konnte. Die zunehmende Diskussion zu diesem sensiblen Thema in verschiedenen Ländern Europas verlangt gerade unsererseits eine große Hellhörigkeit und unterstreicht die Bedeutung der Hospizbewegung, die auch im Mittelpunkt Ihres heutigen Symposiums steht.
Vor mehr als dreißig Jahren, das heißt, 1966, haben die Vereinten Nationen eine "Konvention über bürgerliche und politische Rechte" veröffentlicht. Dabei wurde besonders auch darauf hingewiesen, dass eine Begründung der allgemeinen Menschenrechte nur aus der dem Menschen innewohnenden Würde abzuleiten sei. Menschliche Würde als Grundlage der allgemeinen Menschenrechte gilt als eine grundsätzliche Orientierung für eine medizinische Ethik. Die Würde des Menschen, die zur Wurzel der menschlichen Existenz gehört und die diese Existenz vom Anfang bis zum Ende erfasst, kennt keine Unterschiede der Lebensphasen, weil diese alle von der menschlichen Würde umfasst sind und nicht von einem reinen Nützlichkeitsdenken aus betrachtet werden können.
Die Hospizbewegung, begründet in England, versteht sich in ihren Grundsätzen als eine überkonfessionelle Begleitung, in einer respektvollen Achtung vor der Einmaligkeit und Würde eines jeden menschlichen Lebens, vor seinem Leben wie vor seinem Sterben. Aufgabe einer Palliativmedizin ist es, in dieser Phase die Lebensqualität nach Möglichkeit zu verbessern, ohne damit die Lebenszeit selber aber manipulieren zu wollen. Das gilt sowohl in Bezug auf eine sterbensverlängernde Therapie sowie in Bezug auf eine Euthanasie als aktive Sterbehilfe. Beides verstößt gegen die Würde des Menschen: sowohl die künstliche Verlängerung seines Sterbens als auch die bewusste Tötung in der Form der Euthanasie. So erteilen Hospizbewegung und Palliativmedizin - gerade in unserer Zeit und unserer multikulturellen Gesellschaft, mit unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Standpunkten - der aktiven Sterbehilfe in welcher Form auch immer eine eindeutige Absage und unterstreichen ganz bewusst die Bedeutung der Zuwendung und menschlichen Nähe in Grenzsituationen des Lebens.
Dies festzuhalten, erscheint mir besonders wichtig angesichts eines vor einiger Zeit veröffentlichten "Manifests für Selbstbestimmung", mit welchem Ärzte und Juristen in Österreich Straffreiheit für aktive Sterbehilfe erreichen wollten. Diese Konflikte weisen hin auf die beiden bekannten Vorstellungen vom Menschen: Das humanistische Weltbild geht von rein menschlichen Voraussetzungen einer allgemeinen Ethik; das religiöse Menschenbild aber, ich meine das christliche Menschenbild, nimmt Bezug auf die Schrift, das Buch der Genesis, wo es heißt: Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Aus der europäischen Geschichte wissen wir, wie sehr das christliche Menschenbild in seiner Gottesebenbildlichkeit die Würde des Menschen im Einzelnen wie in der menschlichen Gesellschaft zur Grundlage des christlichen Abendlandes gemacht hat. Das heißt, das christliche Menschenbild steht nicht im Widerspruch zu einem humanistischen; das heißt, es ergänzt und vollendet es.
Die Würde des Menschen, die im Mittelpunkt Ihres Symposiums steht, wird, so hoffe ich, zunehmend auch das Klima in der Medizin beeinflussen. Die zunehmende Literatur gerade zu diesem Problemkreis "Ethik und Medizin" weisen in eine solche Richtung. Das heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn der Krankheit wird auch im Interesse des Patienten zur Kenntnis genommen und neu gestellt. Denn jeder Patient ist und bleibt als Mensch eine einmalige Persönlichkeit, ein „Ich“ und seiner selbst bewusst, mit seiner unantastbaren Würde und Eigenart, vom Anfang bis zum Ende. Ja, die letzte Lebensphase ist oft entscheidend für eine abschließende Orientierung und Antwort auf letzte Lebensfragen.
Der Arzt stellt, wie man weiß, oft fest: im Heilungsprozess kommt es sehr darauf an, was ein Patient aus seiner Krankheit macht oder wie er mit seiner Krankheit umgeht, bzw. wie er sein eigenes Lebensende, sein Sterben in die Überlegungen während seiner Krankheit miteinbezieht. Denn ein Ausklammern des Gedankens an das Lebensende kann ihn oft mehr belasten als eine Auseinandersetzung damit im verständnisvollen Gespräch. Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen: Menschliche Größe liegt nicht nur in Gesundheit und Leistung, sondern ebenso in der Art und Weise, wie jemand mit seiner Krankheit, mit dem Wissen um seine Grenzen, zurechtkommt. Was hier ein liebevolles Wort bewirken kann, wissen Sie alle wohl besser. So gesehen, ist Krankheit nicht nur negativ zu sehen und krank sein nicht nur eine verlorene Zeit. Sie ist nicht bloß ein schwer durchschaubares Schicksal, sondern sie kann oft ein Weg zu Reife und Läuterung sein, im Wissen um die Einmaligkeit und Würde eines jeden Menschen; viel hängt dabei von der religiösen, bzw. weltanschaulichen Einstellung ab.
Inmitten des großen medizinischen Fortschrittes, mit fast unglaublichen Heilerfolgen, konnte es geschehen, dass die Krankheit als medizinischer Fall alles so sehr beherrschte, dass der Patient, der Mensch selber, mit seinen seelischen Nöten und Sorgen, gerade auf dieser Wegstrecke allein gelassen wurde. Und gerade dort, wo die Medizin im technischen Sinne nicht mehr helfen kann, darf das nicht sein. Wir wissen aus Erfahrung, dass in solchen Stunden oft alles getan wurde, getan wird, um der Wirklichkeit des Todes nicht ins Antlitz schauen zu müssen. Aber das Rätsel des Todes bedrückt den Patienten und seine Angehörigen, auch wenn dies in der Regel nicht in Worte gefasst werden kann. Und so rückt die Hospiz-Idee den Menschen selber, jenseits der Grenzen der Medizin, ganz in den Vordergrund.
Hier begegnen sich Medizin und Ethik in dem Bemühen, nach Normen und Prinzipien Ausschau zu halten, die zu erkennen geben, was moralisch noch gut, was recht ist oder was moralisch, ethisch schlecht und daher abzulehnen ist. Eine solche Ethik wendet unseren Blick auf den ganzen Menschen, auf das gesamte das menschliche Handeln in Freiheit und Verantwortung. Das heißt, in der Medizin geht es um solche allgemeine Grundsätze, wie sie sich bereits im Dekalog finden: Du sollst nicht töten, du sollst nicht lügen - oder, wie es in der Bergpredigt zusätzlich heißt: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Durch solche Überlegungen wird der ganze Mensch, vom Anfang bis zum Ende, auch in der modernen Medizin wieder mehr in die Mitte gerückt.
Viktor Frankl war es, wie Sie wissen, der mit seinen 10 Thesen in seinem Buche "Der Wille zum Sinn" als Psychologe auf die Bedeutung der Sinnfrage im menschlichen Leben aufmerksam gemacht hat. Das gilt für den gesunden, aber ebenso oder noch mehr für den kranken Menschen. Es geht um die Frage: "Woher komme ich, wohin gehe ich, welchen Sinn hat mein Leben. Welchen Sinn hat das Leid? Welches ist das letzte und unsagbare Geheimnis meiner Existenz, aus dem ich komme und wohin ich gehe?" Eine Antwort auf solche Fragen kann gerade in der letzten Lebensphase von schicksalhafter Bedeutung sein. Denn letztlich steht der Gesunde, wie der Kranke vor der Entscheidung, Glaube und Leben miteinander zu verbinden. Erst hier, im innersten Bezirk seines Denkens, findet der Mensch, findet der kranke Mensch seine persönliche und damit seine religiöse Antwort - auch - auf die Frage nach dem "Warum" seiner Krankheit. Er erkennt Gesundheit und Krankheit als Wegabschnitte, die in seinem irdischen Dasein ineinandergreifen; sie verweisen ihn, den kranken wie den gesunden Menschen auf seine eigentliche Bestimmung und sein letztes Ziel.
Und so wird die Krankheit, - ich zitiere Viktor von Weizsäcker, - für den Kranken "eine Etappe auf dem Weg zu seiner eigenen Bestimmung". Zu den bleibenden Erinnerungen meiner eigenen frühen Kindheit gehört es, am Bette eines sterbenden Verwandten gestanden oder gekniet zu sein, um mit dem Kranken, im Gebet, so weit als nur möglich, das letzte Stück Weges, ein entscheidendes Stück, zu gehen, in menschlicher Geborgenheit und Fürsorge. Mit Kinderaugen konnte ich sehen, wie das Leben am Ende in Ruhe, Gelassenheit und Frieden heimkehrt zum Schöpfer, von dem es ausgegangen ist.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich aber in dieser Hinsicht manches geändert. Aber den Tod aus dem menschlichen Leben wegzuschieben, hat sich nicht als Fortschritt, sondern als Rückschritt erwiesen. Das hat die Gründerin des Londoner Hospizes erkannt und die weltweite Entwicklung der letzten 20 bis 30 Jahre hat ihr Recht gegeben.
In diesem Sinn beschäftigt sich Ihr heute beginnendes Symposium mit wesentlichen Aufgaben zwischenmenschlicher Verbindungen: den Menschen zu helfen, auch dort, wo die Medizin an den Grenzen ihres Könnens angelangt ist und sie in die Lage zu versetzen, diesen Lebensfragen nicht auszuweichen, sondern ihnen vielmehr in Würde zu begegnen. In dieser Würde, die sich ableitet von der Tatsache, dass alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Lebenssituationen Kinder und Ebenbilder Gottes sind.