Aus der Geschichte lernen - Kirche und Politik 1938-1945-1988
Herr Präsident, liebe Mitglieder der Konferenz der Katholischen Aktion Österreichs, meine Damen und Herren!
Lassen Sie mich eingangs ein Wort des Dankes dafür sagen, dass sich die Katholische Aktion Österreichs - mit ihrem Präsidenten Dr. Paul Schulmeister an der Spitze - intensiv mit den aktuellen gesellschaftspolitischen Problemen unseres Landes beschäftigt. Dieses Engagement für die öffentliche Sache, für die res publica, gehört untrennbar zum Weltauftrag der katholischen Laien.
Da ich hier angesichts einer Konferenz der Katholischen Aktion Österreichs sprechen soll, will ich an einige damit zusammenhängende Grundsätze erinnern.
1. Vor einigen Wochen hat der Heilige Vater bei einer Ansprache auf dem Petersplatz - wohl mit dem Blick auf die kommende Bischofssynode - auf die Notwendigkeit des Apostolates der Laien hingewiesen (Er zitierte dabei wörtlich Nr. l0 aus dem Dekret für das Laienapostolat): „Die Laien haben ihren aktiven Anteil im Leben der Kirche. Innerhalb der Gemeinschaft der Kirche ist ihr Tun so notwendig, dass ohne dieses auch das Apostolat der Hirten nicht zu einer vollen Wirkung kommen kann“. - Aus zeitgeschichtlicher Sicht meinte im gleichen Dekrete ein Passus (Nr. 6): „Da sich aber in dieser unserer Zeit neue Fragen erheben und schwerste Irrtümer verbreitet werden, die die Religion, die sittliche Ordnung, ja die menschliche Gesellschaft selbst von Grund aus zu verkehren trachten, ist es dieser Heiligen Synode ein ernstes Anliegen, die Laien, jeden nach seiner Begabung und Bildung zu ermutigen, im Geiste der Kirche noch eifriger bei der Herausarbeitung, Verteidigung und entsprechenden Anwendung der christlichen Grundsätze auf die Probleme unserer Zeit ihren Beitrag zu leisten“.
Da manchmal Unklarheit besteht in Bezug auf Ziel und Ausrichtung des Laienapostolates bzw. der Katholischen Aktion möchte ich kurz an einen Brief erinnern, den Jacques Maritain, ein Konvertit aus dem liberalen Protestantismus, Führer der katholischen Erneuerungsbewegung in Frankreich, Professor am Institute catholique und schließlich in Princton, im Jahre des zu Ende gehenden Konzils von 1965 an Paul VI. geschrieben hat. In diesem Schreiben geht es um seine persönliche Auffassung vom Laienapostolat. Mir scheint, dass seine Unterscheidung von zwei Richtungen auch für uns nicht ganz ohne Bedeutung ist. Nach seiner Auffassung - man spürt deutlich den französischen background - geht es um eine Unterscheidung von zwei möglichen Formen des Laienapostolates: Nach der einen wäre KA eine Art von Hilfstruppe des Klerus. Diese gewissermaßen klerikale Auffassung legen den Nachdruck auf organisatorische Fragen. Damit - so Maritain - würde im Grunde nur ein „Ausschnitt aus dem Wirken christlicher Laien” berücksichtigt.
Die andere Auffassung geht aus von Taufe und Firmung als Sendung der Glieder Christi ohne spezielle Beauftragung hierzu durch die Hierarchie. In dem damit gegebenen Zeugnis und in der geistlichen Sendung gäbe es verschiedene Ebenen. Als Beispiel bringt er hierfür das Zeugnis, das sich auf der intellektuellen Ebene bekundet: er denkt an Schriftsteller, Künstler, Dichter, Musiker, Gelehrte. Er denkt an das große Zeugnis, das etwa von Dante bis Pascal, von Zurbaran bis Bach reicht. In diesem Zusammenhang seien Begriffe wie „apostolische Tätigkeit” oder „Laienapostolat” ganz und gar nicht am Platze. Unter den Männern, die eine so tiefe Wirkung ausgeübt haben wie Chateaubriand, Baudelair, Verlaine, Tolstoi, Dostojewski, Leon Bloy, Claudel, Bernanos, Gilbert K. Chesterton oder T. S. Eliot hatten einige Intentionen, die man als apostolisch bezeichnen kann; andere aber keineswegs. Auf alle Fälle hat sich jeder in seinem eigenen Namen gemäß seiner persönlichen Inspiration und seiner persönlichen Erfahrung geäußert, ohne dass er von der Hierarchie eine Sendung oder einen Auftrag erhalten hatte”. Sie waren nicht organisiert „dennoch hatten sie auf die Geister einen viel tieferen Einfluss und trugen viel mehr dazu bei, sie zu Christus zu führen als manche Bataillone christlicher Stoßtrupps”. Mir scheint, dass solche Gedanken für Österreich nicht ganz neu sind, ich glaube allerdings, dass für uns das sowohl als auch gilt.
Nachdem aber auch das Konzilsdokument selber im Kapitel 3 von den verschiedenen Bereichen des Apostolates der Laien spricht, wenden wir uns jetzt wieder dem besonderen Bereich der res publica zu.
In der politischen Gemeinschaft ist es Aufgabe aller Christen - in den Spuren der KA - sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Dabei soll deutlich werden, wie Autorität und Freiheit, persönliche Initiative und solidarische Verbundenheit im Interesse des Gemeinwohles sich verbinden lassen - das heißt notwendige Einheit mit fruchtbarer Vielfalt. Berechtigte Meinungsverschiedenheit im Bereich der „Ordnung irdischer Dinge” soll man daher anerkennen.
2. Eine konziliare Mahnung - wenn auch selbstverständlich - soll stets wiederholt werden: „Die politischen Parteien müssen das fördern, was ihres Erachtens nach vom Gemeinwohl gefordert wird; sie dürfen niemals ihre Sonderinteressen über dieses Gemeinwohl stellen” (a.a.O. 75).
Darauf bei gegebenem Anlass, in sachlicher und nicht polemischer Form, hinzuweisen, ist eine Aufgabe der KA, die noch mehr wahrgenommen werden könnte als bisher.
3. Im Anschluss an das Konzilsdokument ergibt sich noch eine weitere Orientierung: Die jungen Menschen sollen, wie alle Bürger dieses Landes, wiederholt eingeladen werden, am Leben der „politischen Gemeinschaft”, das heißt der staatlichen Gemeinschaft, aktiv teilzunehmen. - Ich lade Sie ein, den folgenden Satz - auf der Weltebene des Konzils formuliert - wieder zu bedenken und auf unser Land, das wir lieben, anzuwenden: „Wer dazu geeignet ist oder sich dazu ausbilden kann, soll sich darauf vorbereiten, den schweren, aber zugleich ehrenvollen Beruf des Politikers auszuüben und sich diesem Beruf unter Hintansetzung des eigenen Vorteils und materiellen Gewinns widmen. Sittlich integer und klug zugleich, soll er angehen gegen alles Unrecht und jede Unterdrückung, gegen Willkürherrschaft und Intoleranz eines einzelnen oder auch einer politischen Partei. Redlich und gerecht, voll Liebe und politischem Muts soll er sich dann dem Wohle aller widmen”.
4. Gelegentlich gibt es im Bereich der Medien, bei der Berichterstattung über die Tätigkeit der Kirche in diesem Land ein Durcheinander, das heißt ein Nichtbeachten folgender Konzilsaussagen: Ich zitiere: „Die politische, das heißt staatliche, Gemeinschaft und die Kirche sind je auf ihren Gebieten voneinander unabhängig und autonom; beide aber dienen, wenn auch mit verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen .... Wer sich dem Dienst am Worte Gottes weiht, muss sich der dem Evangelium eigenen Wege und Hilfsmittel bedienen, die weitgehend verschieden sind von den Hilfsmitteln der irdischen Gesellschaft” (a.a.O. 76). - Solche sehr allgemein gefasste Grundsätze bedürfen einer Diskussion, um sie am Fall Österreich etwas anschaulicher und konkreter zu machen.
Schließlich noch ein letzter Hinweis: „Die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert; doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden”. Dazu meine Frage: Gilt das nur für die autoritären Regime oder ist dies auch in unserer demokratischen Ordnung zu beachten?
Das Konzil meint in diesem Zusammenhang „Sie - die Kirche - wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit des Zeugnisses in Frage gestellt ist”.
Mit diesen Hinweisen auf einige Passagen aus den zitierten Konzilsdokumenten möchte ich zeigen, dass sie - wenn sie auf die Situation der Gegenwart angewandt werden - sehr aktuell sein können. Mit diesem Verweis auf grundsätzliche Orientierungen will ich aus meiner Sicht und Erfahrung zum Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Politik in den letzten 50 Jahren Stellung nehmen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, über die vergangenen 50 Jahre aus meiner Sicht zu sprechen: Entweder versuche ich, Ihnen meine Gedanken, Sorgen aus der Sicht der Vergangenheit und mit dem Blick auf die gegenwärtige Situation von Kirche und Staat vorzulegen. Oder ich versuche, vor allem zu berichten, wie es damals gewesen ist, wie ich die wichtigen Vorgänge in diesen vergangenen Zeitabschnitten erfahren und erlebt habe. Aus dem gegebenen Anlass scheint es mir aber besser zu sein, die erste Möglichkeit zu wählen, das heißt, ich berichte aufgrund meiner persönlichen Erlebnisse und Erfahrung über meine Gedanken und Sorgen angesichts der heutigen Situation von Gesellschaft und Kirche.
Dazu gleich zwei Vorbemerkungen:
a) Man kann Geschichte missverstehen oder auch missbrauchen. Missverstehen, indem man die Situation der Gegenwart zum Maßstab nimmt für das Verhalten anderer Personen vor 40, 50 Jahren. Zum Beispiel, warum haben katholische Christen in jener Zeit dieses oder jenes nicht getan, etwa protestieren - was man heute selbstverständlich tut. Solches heißt Geschichte missverstehen.
b) Man kann Geschichte aber auch missbrauchen: wenn man politisches, menschliches Fehlverhalten - menschliches Defizit - von Gruppen, Slogans als Waffe im politischen Streit und Auseinandersetzung der Gegenwart verwendet. In diesem Fall missbraucht man Geschichte, die man nicht durch eigene Erfahrung kennengelernt hat. Das Missverstehen der Geschichte wird man schwer verhindern können, den Missbrauch der Geschichte soll man soweit als möglich hintanhalten.
Damit wende ich mich einer ersten Überlegung zu:
1. Wir stehen im kommenden Jahr 1988 vor einem schwierigen Gedenken: 50 Jahre seit dem sogenannten Anschluss sind vergangen. Damals wurde die österreichische Selbstständigkeit wie auch der Name des Landes ausgelöscht. Die Nacht des NS-Totalitarismus senkte sich über unsere Heimat. Das Fazit vom Kriegsende 1945 war: Hunderttausende Österreicher hatten ihr Leben verloren, sei es, dass sie als Juden in der Vernichtungsmaschinerie des Rassenwahnes zugrunde gingen, sei es, dass sie als Widerstandskämpfer von einer Pseudojustiz zum Tode verurteilt wurden, sei es, dass sie als Zivilisten im Bombenhagel des totalen Krieges starben, sei es, dass sie als Soldaten in einem Krieg getötet wurden, der nicht der ihre war. Und nun noch einige Präzisierungen, die ich den Angaben Prof. Erika Weinzierls entnehme: Der österreichische Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat - abgesehen von den mehr als 200.000 Soldaten, die in der deutschen „Wehrmacht” gefallen sind, abgesehen von den nach der Deportation im Osten vergasten, getöteten 65.459 österreichischen Juden folgende Opfer von diesem Lande gefordert: 2.000 Österreicher wurden in Gerichtsverfahren als aktive Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt und hingerichtet, 16.493 wurden in Konzentrationslagern ermordet (davon tausende in dem bereits 1938 errichteten KZ Mauthausen, ich füge gleich hinzu: ich wusste im Jahre 1938 hier in dieser Stadt und auch im Jahre 1939 nicht sicher, dass es in Mauthausen ein Konzentrationslager gab), 9.687 wurden in Gestapo-Gefängnissen ermordet, 6.420 gingen in Zuchthäusern und Kerkern in den von der deutschen „Wehrmacht” besetzten Ländern zugrunde. Nach den Akten haben rund 35.000 Österreicher ihr Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus hingegeben.
2. Der materielle und geistige Schaden von sieben Jahren NS-Herrschaft waren furchtbar. Vielleicht haben wir in Österreich nach 1945 diese Katastrophe zu wenig überdacht, weil damals alle Energien von den unmittelbaren Notwendigkeiten des Wiederaufbaus in Anspruch genommen wurden. Vielleicht auch deswegen, weil der Schock zu groß war und Vergessen das einzige Heilmittel zu sein schien. Aus eigener Erfahrung: Man hat nach 1945 nicht gern darüber gesprochen, was in den vergangenen sieben Jahren der einzelne erfahren, erlebt hat, weil es zu schwer und fast unerträglich war, darüber zu sprechen. Das ist menschlich verständlich. Aber vielleicht stehen wir deshalb mit einer gewissen Ratlosigkeit vor diesem Gedenkjahr 1988, voll von Ängsten und Befürchtungen, dass die Gespenster der Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft vergiften. - Oder aber auch - wie angedeutet - aus Angst, dass man versucht, die Gespenster der Vergangenheit in den Dienst der Tagespolitik zu stellen.
Viele haben Schuld auf sich geladen. Das Wort von der Kollektivschuld hat seinerzeit viele Diskussionen ausgelöst. Eine Kollektivschuld gibt es nicht, wohl aber ein Mittragen an den Belastungen und eine Solidarität im Sinne des Wiedergutmachens. Das Wort von der Kollektivschuld verführt zu einer bedenklichen Argumentation, und zwar in der Art, dass man ein ganzes Volk mit allen Angehörigen verurteilt, weil manche - vielleicht viele - persönlich schuldig wurden. Aber dennoch hat das Problem, um das es geht, auch eine positive sittliche Dimension. Es ist, wie gesagt, der Gedanke der Solidarität, anderen helfen, Sühne zu leisten und selber mitzutragen, damit Sühne geleistet wird. - Ein Irrtum kann durch den Sprachgebrauch entstehen: Ich entschuldige mich. Dabei wird ganz unbewusst das Verhältnis umgekehrt, denn man kann sich nicht selbst entschuldigen, die Vergebung der Schuld kann nur der andere aussprechen und mir zusichern.
Wie können wir als Christen uns verhalten, an dieses Gedenken herangehen? Wir wissen, dass Vergeben das Geschehene nicht einfach auslöschen kann. Wir wissen, dass eine Berufung auf Zeitumstände nicht alles erklären, aber auch nicht alles weißwaschen kann. Wir wissen, dass Schuld nur dann zu bewältigen ist, wenn sie einbekannt und Reue bekundet wird. Wir wissen aber auch, dass es leicht ist, Feindbilder zu zeichnen, aber schwer, Versöhnung mit allen Konsequenzen anzustreben und zu erbitten.
Wir können gewiss nicht leugnen, dass 1938 hunderttausende Österreicher Hitler zugejubelt haben und dass daher auch viele katholische Christen sich in dieser jubelnden Menge befanden. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich aber, dass damals noch mehr zu Hause saßen und weinten. Ich war in jenen Tagen Kaplan in einer kleinen Stadt, in Scheibbs in Niederösterreich, und konnte gerade das furchtbare Leid, das jene Tage über unzählige Familien brachte, erfahren. Das war die schweigende Mehrheit, die große Angst hatte, was kommt jetzt. Dazu kommt die Masse der Unwissenden, die sicher keine Ahnung hatten, was das NS-Regime bringen wird und die sich nur eine materielle Besserstellung erhofften. Österreich hatte damals 600.000 Arbeitslose. Und viele konnten es einfach nicht glauben, was man hörte von KZs in Deutschland und von Folterungen, die durch die NS-Organe geschahen. Erst allmählich hat sich die Wahrheit durchgesetzt. Erst allmählich wusste man, sobald Personen aus dem eigenen Bekanntenkreis verhaftet worden waren, was hier wirklich passierte, was sonst sozusagen hinter einem dichten Schirm vor sich ging. Die Wirklichkeit ist vielschichtig und komplex und kann nicht durch eine vereinfachte Schwarz-Weiß-Zeichnung ersetzt werden. Im Rückblick müssen wir als Christen zweifellos auch ein nostra culpa sprechen für das Versagen und vor allem die Irrtümer der kirchlichen Verantwortungsträger von damals. Wir stellen heute mit Bedauern und Beschämung fest, wie stark der damalige Zeitgeist mit seiner fanatischen Überbetonung des Nationalen in das Denken auch sehr kirchlich engagierter Menschen eingedrungen war.
Dies was ein Endpunkt einer Entwicklung, deren Wurzeln tief in das 19. Jahrhundert zurückreichen. Kardinal Innitzer, der zur gelenkten Volksabstimmung im April 1938 sein Ja gesagt hatte, tat dies in der Hoffnung, für die Kirche von Österreich Schlimmeres zu verhindern - wie Sie das heute beurteilen, ist Ihre Sache. Er hatte sich der NS-Formel Heil Hitler bedient, weil er von einer kleinen Gruppe katholischer Laien bedrängt, beschworen wurde mit dem Hinweis, wenn er das täte - diese Unterschrift und das Heil Hitler dazu - würde das ein neues Verhältnis zwischen Kirche und Nationalsozialismus mit sich bringen. Ich habe das von Frau Dr. Hildegard Holzer erfahren, die damals im Erzbischöflichen Ordinariat angestellt war und später die Gründerin des Seminars für kirchliche Frauenberufe wurde. Ich habe die Namen jener katholischen Laien schriftlich festgehalten gesehen. Das Dokument mit den sechs Unterschriften jener Männer, die den Kardinal bedrängten, nötigten, ist vorhanden. Derselbe Kardinal Innitzer war es aber, der seinen Irrtum einsah und im Oktober des gleichen Jahres in St. Stephan durch seine Predigt die Begeisterung der jungen Leute in einem Maß angefeuert hat, dass es zur ersten großen Manifestation des Widerstandes auf dem Stephansplatz kam. Es war die größte Manifestation des Widerstandes zwischen 1938 und 1945.
Kardinal Innitzer war es, der als Rektor der Wiener Universität in der Zwischenkriegszeit als einziger den jüdischen Studenten zu ihrem Recht verholfen hatte. Kardinal Innitzer war es, der als einer der wenigen Bischöfe des sogenannten Großdeutschen Reiches mit der Gründung der Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Christen im eigenen Haus den Versuch unternahm, den von der Vernichtung bedrohten jüdischen Menschen Hilfe zu leisten. Dr. Hildegard Holzer teilte mir dazu mit: „Die Gründung der Hilfsstelle im Erzbischöflichen Palais war nicht nur ein Versuch, jüdischen Mitbürgern zu helfen. Für tausende war die dort geleistete Hilfe eine sehr wirksame Hilfe. Für viele war es buchstäblich eine Lebensrettung durch die Nahrung, durch die Medikamente, durch die ärztliche Hilfe und die Vermittlung der Emigration. - In der Kirche von Wien bemühte sich um einen Brückenschlag P. Georg Bichlmaier, der von seinem Orden für diese Arbeit freigestellt wurde, dann aber von der Gestapo nach Oberschlesien verbannt wurde.
Es gibt eine Dokumentation über die Erzbischöfliche Hilfsstelle (3. Aufl. Wien 1973, Autor P. Groppe). Ich bringe aus dieser Arbeit folgendes in Erinnerung: „Letztlich gebühren Verdienst und Dank Kardinal Innitzer ..., der wohl der einzige Bischof im gesamtdeutschen Raum war, der in seinem Palais eine Hilfsstelle für rassisch Verfolgte einrichtete. Von Ende 1940 bis Ende des Krieges blieb sie im 2. Hof des Erzbischöflichen Palais ... sie blieb auch in seinem Haus, als die Juden den gelben Stern tragen mussten”. Alle hatten Zutritt, jeden nahm der Kardinal mit väterlicher Liebe auf. Niemand ging ungetröstet von ihm. Gestärkt durch sein Wort und seine Güte gingen viele mit seinem Segen in die Fremde, in ein dunkles Schicksal.
Viele, vor allem junge Menschen sagen uns, das alles war viel zu wenig. Die Christen haben zugesehen, als die Synagogen brannten, die Scheiben jüdischer Geschäfte eingeschlagen wurden, als man jüdische Nachbarn im Morgengrauen abholte.
Solche vorwurfsvolle Fragen verstehe ich sehr wohl aus der heutigen Situation. Damals - ich spreche aus zwei Erfahrungen als Kaplan in Scheibbs und St. Pölten - hatte der Terror nach ganz kurzer Zeit einen lähmenden Schrecken verbreitet. Nicht nur der einzelne stand bei geringstem Verdacht des Widerstandes vor Kerker mit Todesdrohung, sondern er wurde auch zusätzlich noch durch die Angst vor Sippenhaftung belastet. Ich würde es auch heute nicht wagen, denen, die geschwiegen haben, einfach den Vorwurf der Feigheit oder des Mitläufertums zu machen. Ich selbst war wiederholt als Kaplan in St. Pölten von der dortigen Gestapo zu Verhören geladen. Ich habe deren raffiniertes Spitzelsystem kennengelernt, mit dem ich fast täglich zu rechnen hatte. Ich war einmal einen ganzen Tag von früh bis abends zum Verhör in der Wiener Zentrale der Gestapo am Morzinplatz. Ich musste damals - wegen meiner Seelsorge unter den Jugendlichen - mit der Verschickung in ein Konzentrationslager rechnen. Während der langen Stunden der Verhöre begann ich zu staunen über die Fülle von Informationen, die gegen mich vorlagen und die beständigen Drohungen, mit denen man dabei arbeitete. Das Risiko meiner seelsorglichen Tätigkeit wurde sehr belastet durch die Sorge um die vielen jungen Menschen, die unter Umständen durch die Verbindung mit mir in ähnliche Schwierigkeiten kommen konnten. Ich habe von vielen aus meinen Gruppen, die eingerückt waren, Briefe bekommen. Im Mai 1945, knapp nach Beendigung des Krieges, kam die Briefträgerin, die durch Jahre hindurch auch mir die Post brachte, persönlich zu mir und sagte: „Es bedrückt mich doch sehr, ich muss Ihnen etwas mitteilen: ich habe in den letzten vier Jahren jeden Tag, von der Gestapo genötigt, die ganze Post, die Ihnen zuging, der Gestapo vorlegen müssen. Ich hatte all die Jahre hindurch - obwohl ich einen Verdacht hatte - an den Briefen nichts gemerkt, dass sie durch die Zensur gegangen waren. Aber die eingerückten Soldaten und ich selber, wir hatten uns natürlich immer wieder gesagt, wir müssen trachten, alles so abzufassen, dass jede dritte Person das lesen kann.
Aus der Sicht von heute kann man mir ohne Zweifel den Vorwurf machen, ich hätte zu wenig getan. Was kann ich darauf antworten? Wohl nur schweigen. Oder: ich könnte die Gegenfrage stellen: Hätten Sie den Mut gehabt, mehr zu tun?
Als katholische Christen müssen wir eingestehen, dass auch kirchliche Kreise Schuld auf sich geladen haben, als sie einem religiös verbrämten Antisemitismus Raum gaben. Denn jene Geisteshaltung ablehnen und der Feindschaft gegen das Judentum oder jüdische Menschen war eine der Voraussetzungen dafür, dass die vom NS-System in Gang gesetzte Massenvernichtung der Juden auf einen zu geringen Widerstand stieß. Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass viele Katholiken, mit Ausnahme einer kleinen Minderheit, das große Wort des großen Papstes Pius XI. - „geistlicher Weise sind wir alle Semiten“ - nicht zu eigen gemacht haben. So stehen wir als Christen gerade hier in Österreich bis heute vor dem schrecklichen Ereignis des Holocaust in großer Betroffenheit. Es war diese Haltung einer beschämten Betroffenheit, aus der heraus nach 1945 gerade im kirchlichen Bereich damit begonnen wurde, den Schutt des sogenannten christlichen Antisemitismus wegzuräumen. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal Sie bitten, lesen Sie das Konzilsdokument Nostra Aetate, zwei Seiten Text über das, was das Konzil zur Beziehung zwischen Christen und Juden zu sagen hatte: ich bitte Sie, lesen Sie den Text der Wiener Diözesansynode, der in Fortsetzung der Konzilserklärung zum Verhältnis Christen-Juden Stellung genommen hat.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat ja in einer sehr noblen Weise diese Frage behandelt. Um so mehr waren viele Menschen bei uns betroffen und besorgt, dass im Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen in den letzten eineinhalb Jahren das Thema Antisemitismus wieder aktuell geworden ist. Diese Betroffenheit konzentrierte sich nicht zuletzt darauf, mit welcher Leichtfertigkeit und mit welchem Mangel an Sensibilität die noch immer nicht vernarbte geistige und geistliche Wunde des Antisemitismus als Spielmaterial der parteipolitischen Auseinandersetzungen verwendet wurde. So stehen wir als Österreicher und als Katholiken nochmals sei es gesagt - in beschämter Betroffenheit vor dem Phämomen, dass vier Jahrzehnte nach Auschwitz in unserem Land mit Argumenten hantiert wird, die wir mit Recht endgültig überwunden glaubten.
2. Betroffen stehen wir aber auch vor Anzeichen eines wieder aufkommenden Lagerdenkens, das über unser Land in diesem Jahrhundert schon so viel Unglück gebracht hat. Gerade auch im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Gedenkjahr 1988 werden Stimmungen und Haltungen spürbar, die in diese Richtung weisen. Die Epoche des Lagerdenkens, die Zeit, als Kirchenparteien und Parteikirchen einander in Unversöhnlichkeit gegenüberstanden, war keine glückliche für Österreich. Die Kirche unseres Landes war in das System des Lagerdenkens verstrickt. Sie hat schwer an den Folgen getragen. Sie hat aber auch aus den eigenen Fehlern gelernt. Es muss in diesem Zusammenhang noch einmal an die große Gestalt Kardinal Innitzers erinnert werden. In seiner Ära haben die österreichischen Bischöfe 1945 einen Beschluss aus dem Jahr 1934 erneuert, die den Priestern die Annahme eines politischen Mandats untersagte. Niemals mehr sollte es so sein, dass man in einem Priester den politischen Gegner sehen kann.
Dieser Beschluss der Bischofskonferenz hat den Weg der Kirche in der Zweiten Republik ebenso nachdrücklich geprägt wie jenes im Jahre 1952, formulierte Bekenntnis zur „freien Kirche in einer freien Gesellschaft“ das unter dem Namen „Mariazeller Manifest“ bekannt geworden ist. In einem mutigen Schritt hat die Kirche damals unter die Erinnerungen an die Allianz von Thron und Altar, unter die Verquickung mit einer politischen Partei einen Schlussstrich gezogen. Es war zugleich eine innere Hinwendung zur Demokratie, es war eine Abrechnung mit den eigenen autoritären Versuchungen der Vergangenheit, weil man erkannt hatte, dass die Kirche nur wirklich frei sein kann, wenn die Gesellschaft frei ist.
Es liegt mir besonders am Herzen an dieser Stelle aufmerksam zu machen, dass zehn bzw. dreizehn Jahre nach dem Mariazeller Manifest (7.12.1965) vom Vatikanischen Konzil im Dekret über „Kirche in der Welt von heute“ - in einem anderen Zusammenhang die gleiche Auffassung vertreten wird über das Verhalten von einer eigenständigen Kirche in der eigenständigen Gesellschaft. Um diese Übereinstimmung deutlich zu machen, zitiere ich aus dem Kapitel „Wie die Kirche den Menschen Hilfe leisten kann“ (Nr. 41): „Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an. Doch fließen eben aus dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein“. - Im Bereich dieses Konzilsthemas heißt es dann mit aller Deutlichkeit weiter: „Da sie weiterhin kraft ihrer Sendung und Natur an keine besondere Form menschlicher Kultur und an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebunden ist, kann die Kirche kraft ihrer Universalität ein ganz enges Band zwischen den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilden. ... Sie selbst (d. h. die Kirche) hat keinen dringlicheren Wunsch, als sich selbst im Dienst des Wohles aller frei entfalten zu können unter jeglicher Regierungsform, die die Grundrechte der Person und der Familie und die Erfordernisse anerkennt“ (vgl. Kirche und Welt, Nr. 42). Dieses letztere ist ein Hinweis auf demokratische Öffentlichkeitsordnung. Zudem kann ich auf den zu Beginn zitierten Passus verweisen und nochmals einen Satz daraus wiederholen: „Wer sich dem Dienst am Worte Gottes weiht, muss sich der dem Evangelium eigenen Wege und Hilfsmittel bedienen, die weitgehend verschieden sind von den Hilfsmitteln der irdischen Gesellschaft“ (vgl. a.a.O., Nr. 76).
Auf dem Hintergrund des Totalitarismus in der östlichen Nachbarschaft wird eine solche grundsätzliche Orientierung besonders eindrucksvoll. - Gewiss kann man Probleme von morgen nicht einfach mit den Rezepten von gestern lösen. Aber: die Grundsätze des Mariazeller Manifestes werden durch das II. Vatikanum aus dem Wandel des Alltags herausgehoben auf die Ebene der Grundsätze, die durch den steten Wandlungsprozess in einer pluralistischen demokratischen Ordnung nicht im Wesen berührt werden. Denn jene grundsätzliche Ordnung des II. Vatikanums deutet genau in diese Richtung. Der Traum einer christlichen Gesellschaft kann Impulse geben, aber er bleibt ein Traum.
4. Damit kommen wir zu der Frage: Wie kann die Kirche in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft „politisch handeln“? Wie können die Christen, die doch Salz der Erde sein sollen, in einer Gesellschaft wirksam werden, die weithin vom praktischen Materialismus beherrscht wird. - Diese Fragen haben uns, Sie und mich, während der Jahrzehnte der Zweiten Republik immer wieder beschäftigt, und sie beschäftigen uns weiterhin.
Die Kirche ist nicht von dieser Welt, aber sie lebt in der Welt. Jedes Handeln und Wirken in der Öffentlichkeit der Welt ist Politik. In diesem Sinne - und nur in diesem Sinne - handelt die Kirche politisch. - Die Kirche soll sich um die Seelen kümmern, sagen die einen und sich nicht einmischen in die Sorgen der anderen. Aber Seelsorge heißt immer Sorge um den ganzen Menschen mit Leib und Seele. Der Kirche kann es nicht gleichgültig sein, wie die Welt aussieht, in der die Menschen leben. Sie kann auch nicht ihr Auge verschließen vor dem Elend der Welt, dem Hunger, dem Hass, dem Krieg, der Ausbeutung in vielfältiger Form. In diesem Bereich muss sich die Kirche engagieren auch in der Öffentlichkeit; sie muss politisch handeln. Sie muss politisch handeln, aber sie darf nicht politisieren. Das politische Freund-Feind-Verhältnis kommt für die Kirche nicht in Frage, weil sie grundsätzlich für alle Menschen da sein muss.
In der Zweiten Republik hat die Kirche in Österreich diese Offenheit für alle Menschen zu ihrem Grundsatz gemacht. Sie hat damit - so scheint mir - mehr Zugang zu allen Menschen in diesem Land gefunden, unabhängig von deren politischen Überzeugung. In einer langsamen Entwicklung - mit wiederholten Rückschlägen - wurde die geschichtlich bedingte Frontstellung zwischen Kirche und Sozialdemokratie, aber auch zwischen Kirche und Liberalismus einigermaßen überwunden. Diese Frontstellung hat zunächst ungezählte Menschen in Österreich, die im Grund des Herzens den Glauben an Christus nie aufgegeben hatten, von der Kirche ferngehalten. Ebenso hat diese Frontstellung der Kirche und ihren Seelsorgern den Zugang zu vielen Menschen verbarrikadiert.
Die Überwindung einer solchen Frontstellung geschah im Zeichen des Dialogs, wie er durch das II. Vatikanum und Paul Vl. als neue Wegmarke deutlich gemacht wurde. Dialog bedeutet Brückenbau, bedeutet nicht, die eigenen Grundsätze oder Glaubensüberzeugungen aufzugeben, ein Christentum zu reduzierten Preisen anzubieten. Ganz im Gegenteil: Die Brücke zum anderen kann nur halten, wenn sie auf dem festen Pfeiler der eigenen Überzeugung aufruht. Die Kirche kann keine Arrangements treffen, dort wo die natürliche und übernatürliche Bestimmung des Menschen auf dem Spiel steht. Die Kirche kann nicht nach Belieben entscheiden, denn sie ist an das Gesetz und an die Botschaft des Evangeliums gebunden.
Die Entflechtung zwischen Kirche und Parteipolitik bzw. Mitarbeit der Kirche in der Parteipolitik, die Überwindung der traditionellen Frontstellung zwischen Kirche und Sozialdemokratie hat nicht dazu geführt, dass alle Sozialdemokraten treue Kirchgänger wurden, wie naive Befürworter und Gegner dieses Prozesses jeweils kritisch feststellten. Der Prozess der Säkularisierung hat auch in Österreich nicht halt gemacht, aber die neue Entwicklung im Verhältnis zwischen Kirche und Sozialdemokratie hat eines gebracht: Kein Mensch muss sich in Österreich aus politischen Gründen von der Kirche fernhalten oder meinen, sich fernhalten zu müssen.
Diese Entwicklung halte ich nicht für umkehrbar. Aber eine solche Entwicklung ist auch von Missverständnissen begleitet. Auch dazu könnte ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung vieles erzählen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang das missverständliche Wort der sogenannten Äquidistanz der Kirche zu den Parteien anführen. Dieser Ausdruck hat viel Schaden angerichtet. Der Begriff stammt aus der politischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland; kein österreichischer Bischof hat dieses Wort jemals gebraucht. Die österreichischen Bischöfe sind vielmehr davon ausgegangen, dass es die Parteien selbst sind, die durch ihre Programme, ihre Praxis und die Auswahl ihrer handelnden Personen Nähe oder Ferne zur Kirche bestimmen. Es ist - um ein anderes Missverständnis zu erwähnen - vielleicht zu wenig deutlich gesagt worden, dass die Entflechtung von Kirche und Parteipolitik in keiner Weise einen Rückzug des einzelnen Christen aus der Politik bedeuten soll. Ganz im Gegenteil: Die engagierten katholischen Laien sollen in die Parteipolitik, in die Gewerkschaften, in die Verbände, in die Kommunalpolitik gehen, um dort als Christen eine Politik zu betreiben, die sich am Evangelium orientiert. Ohne dieses Engagement von - möglichst vielen - einzelnen Christen bleibt das politische Handeln der Kirche blass und unverbindlich. Die Kirche muss sich in der politischen Diskussion zurückhalten, sie muss sich auf Grundsatzfragen, auf ethische Grundlinien beschränken da allerdings wird sie reden müssen, sei es gelegen oder ungelegen.
Eine solche Beschränkung auf Grundsatzfragen hat nichts mit Taktik zu tun. Es ist vielmehr notwendig, weil ja die Bischöfe nicht Fachleute sind, um ethische Grundsätze in Gesetzestexte umzugießen oder in wirtschaftliche Rezepte müssen sie sich und sollen sie sich auf kompetente Laien verlassen, die aufgrund ihres Sachverstandes das tun, was sie als Christen tun sollen und tun möchten. Sie dürfen sich aber dabei nicht immer auf die Kirche und auf die Gesamtheit des katholischen Volkes berufen.
Christen können politisch verschiedener Meinung sein. Sie können ihrer christlichen Überzeugung in verschiedenen politischen Gruppierungen Ausdruck geben. Freilich geht es dabei um drei Voraussetzungen:
a) Die Einheit im Notwendigen muss gewahrt bleiben. Das betrifft die gemeinsamen Überzeugungen im Bereich von Glaube und Sitte, die Treue zum Lehramt.
b) Der Stil der Auseinandersetzungen zwischen Christen, die in verschiedenen politischen Gruppierungen tätig sind, muss - so schwer das in der Praxis ist - etwas davon ahnen lassen, dass sie beide demselben Volk Gottes angehören.
c) Für Christen, die sich in der Politik engagieren, muss die Kirche „die erste Liebe“ bleiben. Die Parteiraison darf nicht über den Verpflichtungen gegenüber der christlichen Gemeinschaft stehen.
Leider hat sich in vielen Kreisen die Meinung verfestigt, dass die Beschäftigung mit Politik eines Katholiken unwürdig sei. Er soll dort nicht anstreifen. Ich glaube, dass es in dieser Stunde der Entwicklung der Zweiten Republik notwendiger denn je ist, als dem elfenbeinernen Turm der politischen Isolierung herauszutreten.
5. Zum Schluss noch ein Wort zu einer offenen Wunde in der Geschichte der Zweiten Republik: Es ist die sogenannte Fristenlösung, 1974 mit den Stimmen der Sozialisten allein durchgesetzt.
Diese parlamentarische Lösung von damals ist aus zwei Gründen schmerzlich:
a) Wenn einmal in der staatlichen Rechtsordnung der Grundsatz gefallen ist, dass kein Mensch das Recht besitzt, über das Leben eines anderen Menschen zu verfügen, dann schützt uns nichts vor der totalen Manipulation des Menschen. In einem solchen Fall ist der Mensch nur Material, das nach seinem Nützlichkeitswert bzw. nach der politischen Opportunität bemessen wird. Insofern sehe ich heute die Durchlöcherung des Lebensschutzes durch die sogenannte Fristenlösung mehr denn je als einen Dammbruch an. Dem ist umso mehr so, als wir vor noch unbekannten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen stehen. In der damit verbundenen Auseinandersetzung geht es der Kirche, wie Sie wissen, nicht um Paragraphen, nicht um Strafe für verzweifelte Frauen, sondern darum, den Dammbruch hintanzuhalten. Die Katholische Kirche, aber in einem weiteren Sinn die katholische Christenheit dieses Landes, hat an das Gewissen appelliert; sie tut es weiterhin - weil sie die Menschen und nicht nur die Katholiken darauf aufmerksam machen will, was auf dem Spiel steht. Sie tut das, weil der Schutz des menschlichen Lebens kein konfessionelles Sonderanliegen, sondern ein Imperativ der Menschlichkeit ist. Umso größer ist die Enttäuschung über die feindliche Kampagne gegen das von der Kirche unterstützte Volksbegehren zum Schutz des Lebens im Jahre 1975. Enttäuschend war auch die Oberflächlichkeit der von der Mehrheit diktierten parlamentarischen Behandlung angesichts des damaligen Volksbegehrens zum Schutz des Lebens, das eines der eindrucksvollsten in der Geschichte der Zweiten Republik war.
Enttäuschend sind auch die positiven „flankierenden Maßnahmen“ zur Fristenlösung im staatlichen Bereich, die zum größten Teil bis heute nicht eingelöst sind. Die Kirche und die Katholiken hingegen haben ein relativ dichtes Netz von Hilfsstellen geschaffen, um Schwangeren in materieller oder seelischer Not direkt und unbürokratisch Hilfe zu leisten. Der Druck auf die Frauen ist durch die Einführung der Fristenregelung nicht geringer geworden - er geht nur in eine andere Richtung als früher.
Mit der parlamentarischen Fristenlösung wurde in aller Öffentlichkeit signalisiert, dass jene gemeinsame Wertbasis zerbrochen ist, die den Wiederaufbau seinerzeit ermöglicht hatte und die das pluralistische Gemeinwesen der Zweiten Republik so wohltuend vom Kampf aller gegen alle in der Ersten Republik abhob. Diese Wertbasis war etwas wie eine breite Plattform, auf der sich Christen und innerweltliche Humanisten treffen konnten.
Ich frage mich, ob heute, angesichts neuer Herausforderungen im gemeinsamen Ringen eine gemeinsame Wertbasis wieder sichtbar zu machen. Für die Zukunft unserer Gesellschaft ist es lebenswichtig, dass wir angesichts des Zerfalls ethischer Grundsätze und Werte nicht in Gleichgültigkeit und Stumpfheit versinken. Zur Zeit sehe ich kaum Anzeichen in dieser Richtung. Ich habe eher den Eindruck, dass so etwas wie eine neue Unduldsamkeit gegenüber der Kirche in unserem Kulturbetrieb und unserer Publizistik wieder Mode wird. Über diesen Kreis hinaus appelliere ich an alle Menschen guten Willens nach neuen Lösungen zu suchen, nach neuen Modellen für eine Gesellschaft, die dem Menschen mehr Lebenssinn, Würde und Freiheit bietet.
Wer die Geschichte vergessen will, ist dazu verurteilt, sie noch einmal zu durchleiden - sagt ein Historiker. Aus diesem Grund wollen wir mit offenen Augen auf die Schatten- und Lichtseiten unserer Vergangenheit in den letzten 50 Jahren schauen, um daraus für unsere Zeit und unsere gemeinsame Zukunft zu lernen.
zitiert nach: Kathpress.Katholische Presseagentur, Sonderpublikation 87/9