Gedenken in Mauthausen
Im Bewusstsein der menschlichen und auch geschichtlichen Bedeutung dieser Stunde, nicht ohne innere Bewegung, stehe ich vor Ihnen, um - mit Ihnen gemeinsam - des unermesslichen Leides zu gedenken, das Menschen unschuldigen Menschen hier und an vielen anderen Orten angetan haben. Ich stehe vor Ihnen, um mit Ihnen zu bekennen, dass hier menschliche Freiheit und Würde so tief verletzt und geschändet wurde, dass dies hineingebrannt bleibt in jede menschliche Existenz. Deswegen trägt unser aller Menschennatur ein solches Schandmal als Mahnmal. Hier wurde das Miteinander menschlicher Solidarität in ein hasserfülltes Gegeneinander verkehrt. Hier wurde der Respekt gegenüber dem Anderen mit seinem Denken und Fühlen in Verachtung gewandelt mit der Begründung rassischer, nationalsozialistischer Ideologien. Hier wurde die Grundlage demokratischer und menschlicher Gemeinsamkeit umgewandelt in menschenverachtende Gewalt. Was Tiere in dieser Art anderen nie antun könnten, das haben Menschen ihren Mitmenschen angetan.
Wiederholt gab es Versuche, das furchtbare Geschehen zuzudecken, um nicht daran erinnert zu werden; es gab Versuche, Täter und Opfer im Lichte der Geschichte, sowie der Gegenwart einander nicht gegenüberzustellen, um nicht zu erfahren, was wirklich geschah. Wer aber die Geschichte vergessen will, so heißt es, der ist dazu verurteilt, sie noch einmal zu durchleben. Wenn man gar nicht genau wissen will, was geschehen ist, dann kann man auch aus der Geschichte nichts lernen.
Es gibt eine Macht des Bösen. Dieses Böse wurzelt nicht einfach in der Geschichte, sondern wächst in den Herzen der Menschen. Wenn wir uns daher der Frage stellen, wie es zu einer solchen verheerenden Eskalation des Bösen kommen konnte, dann müssen wir uns damit auch der Frage nach der persönlichen Schuld stellen. Denn eine Kollektivschuld, hinter der man sich gleichsam verstecken möchte, gibt es nicht. Schuld ist etwas, was immer den Kern der menschlichen Person betrifft. Und damit steht jeder Einzelne vor seinem eigenen Gewissen, einer inneren Stimme, einem Gesetz, das in unsere Herzen hineingeschrieben ist. Auf diese innere Stimme zu hören, verbindet eine humanistische Ethik mit der religiösen Wurzel des Menschen und ist ein Zeichen seiner Würde. Denn - wie das Konzil es formuliert - "das Gewissen ist jene verborgene Mitte, das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme er gewissermaßen in seinem Innersten hört." (Vgl. GS, Nr. 16). - Andererseits aber gibt es auch eine Schuldverwobenheit, aus der die Verpflichtung erwächst, Geschehenes aufzuarbeiten und - so weit dies möglich ist - wiedergutzumachen.
In diesem Zusammenhang ist aber zu bedenken, dass ein Verzeihen dieser Schuld in allen ihren schrecklichen Auswirkungen - ohne hier auf Gottes Barmherzigkeit einzugehen - nur durch die betroffenen Opfer selbst erfolgen könnte; auch die Angehörigen, die Hinterbliebenen können dies nicht tun. Auch Simon Wiesenthal, der die Schrecken Mauthausens selbst erlebt hat, hat sich mit dieser schwierigen Frage auseinandergesetzt - ich erinnere an das bewegende Buch Die Sonnenblume, das sich mit dem verzeihen können und verzeihen sollen auseinandersetzt.
Daraus ergibt sich die Spannung zwischen einer Macht des Guten und der Macht des Bösen. Denn die Macht des Bösen war eine Realität in unserem Lande. Sie nahm von den Menschen, von dem ganzen Lande Besitz, mit Schlagworten wurden Machtansprüche verkündet, Ideologien und utopische Hoffnungen verhießen eine neue und bessere Zeit. Aber, wie wir heute wissen: Wenn Rasse, Nation, Klasse als höchster Wert verkündet werden, sich nach Art eines Religionsersatzes mit Intoleranz und Fanatismus verbünden, dann kann eine solche Macht des Bösen furchtbares Unheil in einem ganzen Volk anrichten.
Wir, die ältere Generation, haben es erlebt und wir sind betroffen, zu erfahren, wie schnell gerade hier Verharmlosung und Vergessen einsetzten. Aber wir dürfen uns nicht wiegen in der trügerischen Sicherheit von Gedanken wie: So etwas wird nie mehr wiederkehren, denn wir sind wachsam. - Die Macht des Bösen kann übermorgen im Kleide einer neuen attraktiven Ideologie, mit neuer Überzeugungskraft wiederkommen. Daher: Hütet euch vor den falschen Propheten! (Vgl. Mt 7,15). In der Bergpredigt heißt es: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen; jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte" (Mt 7). - Die Erkenntnis dieser Früchte hatte ein jähes Erwachen zur Folge.
Daher nochmals: Verharmlosen wir nicht die Macht des Bösen in der Geschichte. Denn das ist es, was uns dieses KZ von Mauthausen klar und deutlich vor Augen führt: Die Anfälligkeit des Menschen gegenüber verschiedener Formen der Propaganda, der Verlust der Stimme des Gewissens, die Missachtung der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens. Und wenn - als Folge - in einer weithin säkularisierten öffentlichen Meinung nur mehr nach Werten gerufen wird, aber solche nicht mehr gelebt werden, wenn Freiheit ohne Verantwortung, Egoismus und Selbstsucht ohne Solidarität mit Schwachen und Hilfsbedürftigen das Feld erobern, dann relativieren sich, ohne viel Umstände, die Grundrechte des Menschen, seine Würde, seine Freiheit, seine Verantwortung für sich und den Anderen. Man hört nicht mehr aufeinander, die Bereitschaft zum Dialog versagt, es herrscht das Faustrecht des Stärkeren.
Und schließlich - in diesem Zusammenhang - wollen wir nicht, dürfen wir nicht, will auch ich - als Mann der katholischen Kirche - nicht verschweigen, jenes Bewusstsein einer Schuldverwobenheit: dass man seinerzeit seitens der Kirche hier nicht entsprechend entgegengetreten ist jenem irregeleiteten, nationalistischen Denken, einem christlichen Antijudaismus, einem religiös verbrämten nationalistischen Denken, einer unrichtigen Auslegung der Passionsgeschichte; das alles wurde zu einer schwärenden Wunde am Leibe der Kirche, dadurch wurde viel Unglück auf unschuldige Menschen gebracht.
Und so kann es heute nicht nur um eine Bewältigung der Vergangenheit gehen, denn diese lässt sich nicht einfach bewältigen, ungeschehen machen. Aber eine so leidvolle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann Anlass sein, den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu richten, auf die künftige Aussaat unseres Denkens, Redens und Handelns. "Was der Mensch sät, das wird er auch ernten" - nie wieder soll die Ernte in unserem Land eine des Hasses, der Unmenschlichkeit, der Diktatur sein!
Wir empfinden es heute als selbstverständlich, dass Freiheit und menschliche Würde in einem demokratisch geordneten Staatswesen gesichert sind. - Gerade hier, im Konzentrationslager Mauthausen aber müssen wir bedenken, dass jede demokratische Staatsform leicht in Gefahr geraten kann, durch den Egoismus einzelner politischer Parteien und Gruppierungen manipuliert zu werden, das heißt, wenn das Interesse am Gemeinwohl verloren geht. Nicht das politische Konzept der Demokratie ist schwach, sondern eine durch egoistische Eigeninteressen, die das Gemeinwohl missachten, geschwächte Demokratie lässt den Ruf nach dem "starken Mann" aufkommen und bereitet den Weg zur Diktatur. Daher lassen Sie mich gerade hier daran erinnern, dass wir alle gemeinsam Verantwortung tragen für die demokratische Lebensform, mit gegenseitigem Respekt vor menschlicher Würde und Freiheit in unserem Lande. Im Interesse unserer Zukunft und der jungen Generation dürfen wir das wertvolle Gut der Demokratie nicht aufs Spiel setzen!
Vor einem solchen Hintergrund macht uns - als Vertreter der katholischen Kirche, der ökumenischen Christenheit, mit ihren Wurzeln im Alten Bund Israels, - der Blick auf die Vergangenheit besonders sensibel für die unzerstörbare Würde des Menschen; diese ist nicht nur ein Ergebnis unserer abendländischen Humanität, sondern tief verwurzelt im gemeinsamen religiösen Erbe. Um dies deutlich zu machen, schlage ich das den Juden und Christen gemeinsame Heilige Buch auf, die Bibel, wo die Größe des Menschen skizziert wird mit den Worten: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Als Mann und Frau erschuf er sie." (Gen 1,27). - Eindrucksvoll schildert diese menschliche Würde auch der Psalm 8, wenn es heißt: "Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt ... alles, was auf den Pfaden des Meeres dahinzieht - Herr, unser Gott, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde!"
Daher ist jede Verletzung der menschlichen Würde zugleich eine menschliche Drohung gegen den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Vor dem Trümmerfeld der Mächte des Bösen von übermenschlicher Dimension führt uns diese Stunde den Menschen in seinem Elend, aber auch in seiner Größe, vor Augen. Seine Freiheit, die ihn in die Nähe Gottes führen sollte, lässt ihn, in seiner Auflehnung gegen eine letzte Weisheit und Güte, in die Abgründe menschlicher Zerstörung stürzen. Hier, in Mauthausen, sind die Masken gefallen, hier fiel die Entscheidung zugunsten der Macht des Bösen.
An jedem von uns wird es liegen, jeden Tag neu die Entscheidung gegen das Böse und für das Gute zu erkennen. Hier stehen wir an der Pforte der humanistischen Ethik einerseits, wir stehen besonders aber auch vor dem religiösen Welt- und Menschenbild unserer abendländischen Tradition, in der Hoffnung auf die Kraft von oben, angesichts unseres menschlichen Versagens. Dann wird das namenlose Leid dieser Stätte auch nicht umsonst gewesen sein.