Die Würde des Menschen
Ich sehe es nicht als Zufall, wenn wir heute nochmals zusammenkommen, um in der an großen Reminiszenzen reichen Wiener Staatsoper der Ereignisse vor 50 Jahren zu gedenken. Denn: Künstlern eignet in der Regel eine besondere Sensibilität für die Größe und Gefährdung des Menschen, für seine Verantwortung und für seine unzerstörbare Würde.
Diese Würde des Menschen ist in seiner Freiheit begründet, aber auch - lassen Sie mich als Christ diese Überzeugung vor Ihnen aussprechen - in seiner Gottebenbildlichkeit. Denn: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bild", heißt es auf den ersten Seiten der Genesis. Gerade weil Künstler dieses feine Gespür für die Würde des Menschen, für seinen Wert und seine unaufgebbare Würde haben, deswegen sind wir in diesem Hause versammelt, um uns in Erinnerung zu rufen, was damals vor 50 Jahren geschehen ist, welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.
Dabei soll es um ein Gedenken gehen, nicht um die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit. Die Vergangenheit, so meine ich, lässt sich nicht bewältigen. Das Geschehene lässt sich nicht ungeschehen machen. Wir können die Vergangenheit nur bedenken und zutiefst betrauern. Wir können und wollen durch die leidvolle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft richten. Dies in der Absicht, unser Denken, Sprechen und Handeln so einzurichten, dass nie wieder die Nacht des Hasses, der Unmenschlichkeit und der Diktatur über unser Land hereinbrechen kann.
Wenn wir uns so auf die gemeinsame Vergangenheit besinnen - und viele tun es heute wohl mit uns -, dann ist dies ein Akt fern aller Tagespolitik. Es ist ein Akt fern jeden Versuchs, die Geschichte gleichsam als Arsenal zu verwenden, um Waffen für den politischen Tagesstreit der Gegenwart zu schmieden. Als Angehöriger einer Altersgruppe, die diese Ereignisse miterleben und miterleiden musste, möchte ich es in aller Offenheit aussprechen: Es hat mich sehr betroffen gemacht, in welchem Umfang dieser Missbrauch der Geschichte bereits geschehen ist. Auch in einem solchen Falle scheint es fast, als müssten wir in unserem Lande in bedrückender Weise das Wort eines bekannten Historikers erfahren: "Wer die Geschichte vergessen will, ist dazu verurteilt, sie noch einmal zu durchleiden."
Aber ich habe - trotz allem - die begründete Hoffnung, dass die positiven Kräfte in unserem Lande stärker sein werden. Ich hoffe, dass aus der schmerzlichen Beschäftigung mit den Ereignissen der Vergangenheit noch einmal die Bereitschaft zum "Miteinander" wächst; jene Bereitschaft, die den Wiederaufbau Österreichs nach 1945 möglich gemacht hat.
Wenn wir uns in diesen Tagen einem solchen geschichtlichen Rückblick gestellt haben, dann geschah es in erster Linie in tiefer Betroffenheit, um in Ehrfurcht der Opfer zu gedenken. Auch der Opfer dieses Hauses, wie es Direktor Drese soeben getan hat. Am Anfang stand der Hass, am Ende Tod, Verwüstung, Zerstörung für alle. Im Jahre 1945 waren die Ruinen dieses Hauses dafür eines der bedrückendsten Symbole. In bedrängender Weise steigt damit die Erinnerung an Sätze aus der Bergpredigt vor uns auf: "Hütet euch vor den falschen Propheten ... an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte."
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, gleichsam nochmals an die Brust jener zu klopfen, die damals gelebt haben. Vergeben kann aber nicht vergessen heißen. Wir müssen uns aufs Neue die Mühe machen, mitzudenken, mitzufühlen, mitzuleiden, mit den Menschen von damals. Wir können nicht einfach nur die offiziellen Zahlen der Statistik zur Kenntnis nehmen. Auch wenn wir unsere Freunde im Ausland gelegentlich daran erinnern müssen, dass abgesehen von den mehr als 65.000 jüdischen Österreichern, die getötet worden sind, an die 20.000 Österreicher durch die NS-"Justiz" und Gestapo ermordet, an die 17.000 Menschen als politische Häftlinge in KZs gestorben sind. Dazu kommen nach vorsichtigen Schätzungen rund 15.000 österreichische Bombenopfer und 250.000 Landsleute, die in einem Krieg, der nicht der ihre war, gefallen sind.
Aber hinter jeder dieser einzelnen Zahlen stehen ungezählte menschliche Schicksale, stehen Menschen mit ihrer Liebe zum Leben, mit ihrer Angst vor dem Tod. Jede dieser Zahlen ist eine Chiffre für viele tausende von Menschen, die gedemütigt, gehetzt, geknechtet, gebrochen und schließlich einer sinnlosen Vernichtung ausgeliefert worden sind. Die Wunden von damals sind noch immer nicht vernarbt. Die Unsumme von Leid lastet noch immer auf unserem Land. Immer wieder brechen die Wunden auf, wie wir es gerade in den letzten Monaten erlebt haben.
Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen - und darum geht es -, so müssen wir uns auch bemühen, die Geschichte zu verstehen. Wir müssen uns die Frage stellen, wie es dazu kommen konnte. Wir müssen die Zeitumstände berücksichtigen; denn es geht nicht einfach darum, andere zu verurteilen, es geht vielmehr darum, uns selbst die Frage des Gewissens zu stellen: Wie habe ich gehandelt? (oder als Nachgeborener: Wie hätte ich gehandelt?), vor allem aber: Wie handle ich heute, auf dem Hintergrund der Erkenntnisse über die Ereignisse vor 50 Jahren?
Wir müssen uns damit auch der Frage der Schuld stellen. Eine Kollektivschuld gibt es nicht. Schuld ist immer etwas, was den Kern der Person betrifft. Da steht jeder Einzelne vor seinem eigenen Gewissen und vor seinem persönlichen Richter. Wohl aber gibt es eine Schuldverwobenheit. Sie anzuerkennen, bedeutet auch Verpflichtung zur Solidarität der Reue - nicht nur in schönen Worten -, sondern zur Solidarität in der Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Wenn wir die Entwicklung von 1945 an prüfend analysieren, dann müssen wir uns eingestehen, dass es an dieser Solidarität oft gefehlt hat. So verständlich das ist in den Sorgen des Wiederaufbaues und einer zehn Jahre dauernden Besatzung, verbunden mit einem Horror, an eine leidvolle, schreckliche Vergangenheit immer wieder erinnert zu werden.
Damit steht aber doch die Tatsache vor uns: Damals haben viele den falschen Propheten wirklich geglaubt. Sie haben jene nicht durchschaut, die mit einer perfekten Propaganda, einer "Psychologie der Massen" das vernünftige Denken und Überlegen durch Emotionen überrannten (es waren falsche Propheten, die ihr Haus auf Sand zu bauen versuchten!). Das gelang überall dort leichter, wo man das Wissen und Empfinden für gut und böse, für Recht und Unrecht bereits über Bord geworfen hatte, wo Bequemlichkeit und Feigheit dominierten. Falsche Propheten gab es, gibt es nicht nur in Österreich. Sie zu erkennen und ihnen Widerstand zu leisten, auch das sollten wir aus der Geschichte lernen.
Unsere jungen Menschen fragen uns heute sehr beharrlich: Wie konntet ihr das alles zulassen? Es geschah doch unter euren Augen. Hier in Wien wurden die Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt, gedemütigt, geschlagen, ja getötet. Es ist nicht leicht, darauf zu antworten. Wir können nicht einfach die Situation von heute auf damals übertragen. Man muss sich vor Augen halten, dass die schweigende Mehrheit derer, die auf eine materielle Besserstellung hofften (in Österreich gab es damals über 600.000 Arbeitslose!), zunächst einfach nicht glauben wollte, was man von der Brutalität der Machthaber hörte. Und außerhalb der großen Ballungszentren unseres Landes war jener von Zuckmayr beschriebene "Hexensabbat des Pöbels" - Direktor Drese hat ihn zitiert - nicht in dem Ausmaß zu spüren. Erst allmählich setzte sich im ganzen Land die Wahrheit über die terroristische Natur des Regimes durch.
Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, so muss es vor allem auch um die Wahrheit gehen. Und diese ist nicht allein dort gegeben, wo man nur von den jubelnden Massen auf dem Heldenplatz spricht. Die Fotos und Bilder jener Tage - daran müssen wir gelegentlich auch unsere ausländischen Freunde erinnern - zeigen nicht die ganze Wirklichkeit. Zu einem vollständigen Bild gehören auch die vielen, die nicht auf die Straße gegangen sind, sondern zu Hause geweint haben. Ich selbst war in jenen Tagen Zeuge dieser vielen. Zu diesem vollständigen Bild gehören die nicht wenigen jüdischen und nichtjüdischen Österreicher, die in ihrer Verzweiflung nur den Selbstmord als Ausweg gesehen haben. Zu diesem Bild gehören auch die Züge voll von politischen Gefangenen, die schon wenige Tage nach dem Anschluss in Richtung Dachau rollten.
Zur Wahrheit der Bilder jener Zeit gehört auch, dass es in den düsteren Jahren von 1938 bis 1945 nicht nur Schuld und Versagen durch Wegschauen und Mittun gegeben hat. Es war auch eine Zeit der stillen Tapferkeit und des unbedankten Heroismus, durch die Zuwendung, Hilfsbereitschaft und Liebe zum Nächsten, trotz aller Drohungen einer Terrorherrschaft. Es waren nicht nur Ausnahmen, die die Selbstliebe zum Maßstab ihrer Nächstenliebe gemacht haben, wie es die Botschaft Christi uns nahelegt. Auch das gehört zu unserer Geschichte. Vielleicht haben wir es in den vergangenen Jahrzehnten verabsäumt, das Gedenken an solche stille Helden wachzuhalten, die sich selber nicht aufdrängten.
Trotz allem stelle ich nochmals die Frage: Wie konnte es geschehen, dass all das, was Christentum, menschliche Humanität und Solidarität den Menschen vermitteln wollten, gerade in jener Zeit so wenig prägende Kraft besaß? Abgesehen von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten unseres Landes möchte ich auf den geistigen Hintergrund aufmerksam machen, auf dem die Ereignisse zu sehen sind. Ja, als ein Vertreter der katholischen Kirche dieses Landes will ich mit schmerzlichem Bedauern eingestehen, dass wir - vielleicht nicht allein - zu wenig getan haben, um die Menschen gegen die Verlockungen, gegen die Schlagworte der falschen Propheten eines Nationalsozialismus zu immunisieren. Ein NS-Regime konnte an vieles anknüpfen, das bereits in den Jahrzehnten davor zu den allgemein anerkannten Haltungen zählte: Antisemitismus und der Kult eines rassisch akzentuierten Deutschtums, die Abgrenzung gegenüber den anderen, "die eine andere Sprache sprechen", waren mit verschiedenen Akzenten in allen politischen und weltanschaulichen Lagern bereits vorhanden. Neu war die konsequente Umsetzung in ein terroristisches System.
Im Rückblick auf die leidvolle Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre können wir nicht verschweigen, welche Rolle dabei der Antisemitismus gespielt hat. Als Mann der Kirche muss ich nochmals sagen - es haben es andere vor mir schon gesagt -, dass wir als Christen uns der Schuld bewusst sind, einem christlich-religiös verbrämten ebenso wie einem nationalen Antisemitismus nicht entsprechend entgegengetreten zu sein. Religiöse Oberflächlichkeit, ungerechte Verallgemeinerung von Vorgängen in der Passionsgeschichte der Bibel, irregeleitetes nationalistisches Denken wurden zu einer schwärenden Wunde am Leib der Kirche, haben viel Unheil über unschuldige Menschen gebracht.
Papst Johannes Paul II. hat bei seinem Besuch in der römischen Synagoge die Juden als die "älteren Brüder der Christen" bezeichnet und ich füge hinzu: Die Apostel waren Juden - und die ersten Christengemeinden waren es ebenso. Nicht nur rassischer Nationalismus, sondern auch zeitweise weitverbreiteter christlicher Antisemitismus waren schuld, dass sich so wenig helfende Hände regten, als die Nationalsozialisten darangingen, ihre Vorstellungen eines rassistischen Antisemitismus in die Praxis umzusetzen. Ich erinnere an Pius XI. mit seiner Feststellung, dass wir "geistlicherweise alle Semiten sind." Aber erst das II. Vatikanische Konzil hat - gegen manche Widerstände - mit aller Entschiedenheit eine Kollektivschuld des jüdischen Volkes am Tode Jesu zurückgewiesen, die unauflösliche Verbundenheit des Neuen Testamentes mit dem Alten Testamente Israels nachdrücklich betont. Und so wurde hier endlich das Gemeinsame in den Vordergrund gestellt, wo geistige Verwirrung so lange Zeit eine Trennung sehen wollte.
Dies sei noch einmal ein Hinweis auch für uns, aus der Geschichte zu lernen, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Wenn ich an die Zeit des Wiederaufbaues nach 1945 denke, so waren es vor allem Frauen und Männer, die aus den Konzentrationslagern, den Gefangegentransporten zurückgekehrt sind, die den Grundstein für den Wiederaufbau der Heimat gelegt haben. Sie waren keine Anwälte einer billigen Versöhnung, ihre Kraft kam vielmehr daher, dass sie den Hass überwunden hatten, dass sie fähig waren zum Gespräch und zur Zusammenarbeit. Ich glaube, dass wir das Werk dieser Menschen heute nicht in Zweifel ziehen dürfen. Jenes demokratische Österreich, das schließlich seinen Bürgern die materiellen Lebenschancen wieder sichern konnte, beruht auf dem, was die Männer und Frauen der ersten Stunde und in schweren Aufbaujahren danach geleistet haben. Für nicht wenige von ihnen war es fast unerträglich, darüber zu sprechen, was sie in vergangenen Jahren erfahren und erlebt hatten. Der Schrecken einer NS-Herrschaft war aber dabei immer noch präsent. Die Verdrängung begann wohl erst später, als mit zunehmendem Wohlstand nur mehr die materiellen Fragen in den Vordergrund rückten.
Geschichtlich gesehen war in unserem pluralistischen und demokratischen Gemeinwesen nach 1945 die gemeisame Wertbasis wohl mehr als ein kleinster gemeinsamer Nenner. Es war eine breite Plattform, auf der sich Vertreter verschiedener politischer Überzeugungen, Christen und Humanisten, treffen konnten. Die Grundlage dafür war der tiefe Respekt vor der menschlichen Würde, vor dem menschlichen Leben, in jeder Phase seiner Existenz. Ist nicht in unserer Zeit die Missachtung jener gemeinsamen Wertbasis, das Missachten einer Rangordnung der Werte, schließlich eine der Ursachen, warum viele junge Menschen der Gesellschaft von heute mit Skepsis und Misstrauen gegenüberstehen?
Der historische Zufall will es, dass unser Bedenken der Ereignisse vor 50 Jahren zusammenfällt mit einer inneren Unruhe und Spannung in unserer Heimat. Gerade auf dem Hintergrund der Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre müssen wir den Weg zu einer neuen Gemeinsamkeit finden. Zu einer Gemeinsamkeit, die dieses Österreich als ein Haus für alle sieht; ein Haus mit offenen Türen und offenen Fenstern, eine Heimstätte für Verfolgte, ein Land, das seinen Bürgern Geborgenheit und Möglichkeit zu einem erfüllten Leben gibt. Lassen wir uns nicht durch Krisensymptome in Atem halten.
Dieses Land ist reich, nicht zuletzt durch seine Jugend, unter der viele zum Einsatz für den Nächsten in der Nähe und in der Ferne bereit sind. Es gibt auch eine gute und positive Tradition in diesem Lande, auf die wir stolz sein dürfen.
Solche Überlegungen - lassen Sie mich schließlich noch darauf hinweisen - führen zu der Erkenntnis, dass Änderungen von Strukturen allein, gesellschaftliche Wandlungen allein, nicht die Wende zum Guten, zum Besseren, herbeiführen. Letztlich fallen die Entscheidungen in den Herzen der Menschen. Erst eine solche Änderung des Herzens, des inneren Menschen, ist Garantie dafür, dass nie mehr menschliche Würde zu Boden getrampelt, zutiefst verletzt wird. Als Priester und Bischof schlage ich einen Text des Breviergebetes vom heutigen Tag auf und zitiere einen Satz der Heiligen Schrift der Christen: "Was der Mensch sät, das wird er auch ernten." Verehrte und liebe Landsleute: Machen wir unsere Aussaat so, dass für die kommenden Generationen, für die Zukunft unserer Heimat, eine gute Ernte zu erwarten ist!