Die menschliche und religiöse Überwindung des Leides
Ihrer Einladung entsprechend und im Sinne Ihres Symposiums ist es meine Aufgabe, auch eine Antwort zu versuchen - als Mensch und als Christ - auf die Frage, die das Leid an uns richtet. Das Leid als menschliche Grunderfahrung im Leben eines jeden von uns erhält seine besondere Note gerade in unserer und durch unsere Zeit. Es ist dies nicht nur hineingeschrieben in die Konzentrationslager und Gefängnisse der jüngsten Vergangenheit; nicht nur hineingeschrieben in die endlosen Friedhöfe der Kriege und blutigen Kämpfe in weiterer und jüngerer Vergangenheit, bis herauf in unsere Gegenwart. Ich hoffe im Sinne Ihrer bisherigen Vorträge und Gespräche das Leid, im Gegensatz zu Liebe und Freude, nicht nur als Begriff oder als theoretisches Phänomen zu deuten, sondern als je persönlich zugefügtes Böses, mit all dem, was persönlich kränkend und verletzend ist. So wie Krankheit und Schicksalsschläge, so wie Angst und Verzagtheit zum Leben des Menschen gehören, so sind Leid und Tod ein wesentlicher Bestandteil der conditio humana.
Um die Deutung dieser menschlichen Grunderfahrung haben die Religionen, Philosophien und auch die schönen Künste aller Völker sich bemüht. So hat z. B. die Frage nach der Herkunft des Leides zur Annahme eines bösen Urprinzips geführt, im Gegensatz zum Urprinzip des Guten. In der Religionsgeschichte wird das Dualismus genannt. Man geht in solchen Religionen, wie z. B. in der Religion des Zarathustra im alten Iran (Awesta) oder im Manichäismus von der Annahme aus, dass vom Anfang an, seit Beginn der Welt, sich zwei höchste Wesen als Prinzipien des Bösen und des Guten gegenüberstehen, so wie Licht und Finsternis, wie Gut und Böse. Aus diesen beiden entgegengesetzten Ursprüngen des Guten und des Bösen sei auch der Ursprung des Leidens im Menschen zu verstehen. Übrigens spielt in der modernen Physik in einem anderen Sinne das dualistische Prinzip als Wellen- und Corpushofeffekt eine besondere Rolle. Die Frage nach dem Sinn des Leides - eine ewige Frage - hat im Buddhismus in der Verwerfung des Seins eine Antwort gefunden. In der Philosophie Schopenhauers sind ähnliche Antworten wieder aufgetaucht. Die heroische Bejahung des Leides ist die bekannte Antwort eines Nietzsche.
Von einer Welt ohne Leid und Tod, von einem Paradies als dem ursprünglichen Bild von Welt und Mensch, hören wir ausführlich im dritten Kapitel der Genesis des Alten Testamentes. In den Mythen vieler Völker klingt es wie ein fernes Echo wider und taucht in verschiedenen Formen auf, wenn wir von einem goldenen Zeitalter in der Antike hören; wenn uns von Sisyphos berichtet wird, der Thanatos, den Tod, überlistet und für eine Zeit bindet, sodass die Sterblichen nicht mehr sterben müssen. In der indischen Tradition der Veden tauchen ähnliche Vorstellungen einer Welt ohne Leid und Tod auf. Im Gegensatz dazu steht die Erwartung, dass am Ende der Zeiten Leid und Tod nicht mehr sein werden. Bereits der Prophet Jesajas aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert schildert in einer Vision diese andere, künftige Welt (25,8): "Er beseitigt den Tod für immer. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht ... an jenem Tag wird man sagen: Seht, das ist unser Gott." Und Johannes greift in seiner Apokalypse diesen Gedanken mit ähnlichen Worten auf (21,3-4): "Gott selbst wird mit ihnen sein. Er wird jede Träne aus ihren Augen wischen: der Tod wird nicht mehr sein, nicht Trauer, noch Klage, noch Mühsal". - Wenn so Anfang und Ende in ähnlichen Visionen Leid und damit verbunden den Tod als menschliches Schicksal nicht mehr kennen, so bleibt für die Zeit zwischen Paradies und einem neuen Jerusalem das Leid und der Tod als menschliches Schicksal ein wesentliches Element des Menschen. Leid und Tod stehen in einem kausalen Zusammenhang.
Lassen Sie mich damit auf einige Versuche hinweisen, wie man in unserer heutigen Welt auf einer bloß menschlichen, humanen Ebene mit dem Problem des Leides ringt.
1. Ein Erstes: in diesem Ringen um eine menschliche Antwort sei zunächst hingewiesen auf jene Formen des menschlichen Leides, die mit einem physischen und psychischen Gebrechen als menschlicher Schmerz oder auch als menschliches Mitleid verbunden sind. Unter diesem Gesichtspunkt haben wir zwischen einem vermeidbaren und einem unvermeidbaren Leiden und dessen Schmerzauswirkungen zu unterscheiden. So wie der körperliche Schmerz auch eine biologische Funktion hat - etwa das Zahnweh als Hinweis auf die Notwendigkeit, zum Zahnarzt zu gehen - so gibt es also vermeidbare oder aufhebbare Formen des Leides. So gibt es etwa, um weitere Beispiele anzuführen, unmenschliche oder gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, die zum sogenannten "Arbeitsleid" führen. Wie viel davon wurde aber bereits aufgehoben durch die moderne Technik; so erleichtert z. B. der Computer verschiedene Formen des Arbeitslebens, er schafft aber zugleich wieder auch neues Leid durch teilweise Arbeitslosigkeit, Verunsicherung, neuen Stress, neue Belastung (zum Beispiel die Bildschirmarbeit). Auch soziale Ungerechtigkeiten mit ihrem oft unsagbaren Leid und Schmerz müssen nicht hingenommen werden; ebensowenig wie unmenschliche oder diktatorische gesellschaftliche Strukturen. Die Beseitigung verschiedener Formen des menschlichen Leides wie es etwa durch medizinische oder soziale Fürsorge möglich ist, kann aber auch wieder neues Leid schaffen. Daher ist die Frage nach der Angemessenheit der Mittel immer wieder dringend neu zu stellen.
Das Leid, das durch Kriege über Menschen ohne Zahl gekommen ist, das immer wieder kommen kann, ist Anlass, zu bedenken, dass die Versuche, solches Leid zu verringern oder überhaupt aus der Welt zu schaffen, heute immer stärker geworden sind. Heute erkennt man die Wurzeln solcher Tragödien, heute erkennt man, dass diese zuerst ins Auge gefasst werden müssen, wenn Leid wirklich verhindert werden soll; es geht darum, die entfernten Anlässe zu bekämpfen, wie Rassenhass, Nationalitätenhass, aggressive Propaganda jeder Art, ideologische Tyrannis in vielerlei Form. Die damit gegebenen entfernten Anlässe gemeinsam zu verhindern, ist unser aller Aufgabe. Miteingeschlossen ist auch das Achten auf das psychische Leid vieler Menschen in der Form von Angst - allein schon vor der Möglichkeit solcher Weltkatastrophen. Die gewaltfreie Lösung von Konflikten, von der Familie angefangen, bis in den Bereich der großen politischen Spannungen, ist eine menschlich mögliche und gebotene Verminderung oder sogar Verhinderung des Leides. Wie viel Leid fügen wir uns gegenseitig zu! - Friede und Versöhnung sind die uns mögliche und daher gebotene Verhinderung des Leides auf menschlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene.
2. Eine andere Form, sich der Frage nach dem Sinn des Leidens zu stellen, ist in der Verdrängung zu sehen. Ich meine damit etwa auch jene Form des Leidens, die im Mittragen des Leides anderer besteht. Ein Beispiel: wenn jemand bei einem Straßenunglück voll Entsetzen sein Gesicht mit den Händen bedeckt, so besteht im Unterbewussten die Reaktion: Was ich nicht sehe, das existiert nicht: oder ich will nicht, dass es existiert. Fremdes Leid, das uns so oft begegnet und von dem man sich abwendet, das man nicht zur Kenntnis nehmen will, erinnert uns allzu sehr an unsere eigene leidvolle Gefährdung, der wir als Menschen ausgesetzt sind. Es ist gewissermaßen eine instinktive Form des Selbstschutzes, nicht an solche Möglichkeiten des Unglücks und Leides im eigenen Leben erinnert zu werden. - Hier taucht deutlich die Spannung auf, die besteht zwischen der Selbstliebe und der Nächstenliebe, besonders der durch den christlichen Glauben inspirierten Nächstenliebe. Man kann also der Frage nach dem Sinn des Leides dadurch entgehen, dass man es nicht zur Kenntnis nimmt, dass man nicht an die Möglichkeit, selber vielleicht einmal leiden zu müssen, erinnert wird. Man schiebt in unseren Tagen jede Form des Leides, des Schmerzes, des Erinnertwerden daran fort. Alte Menschen werden in das Heim abgeschoben, in eine medizinische Versorgung wann und wo immer es möglich ist, weil ihr Anblick uns zu sehr an die eigene tief sitzende Gefährdung erinnern könnte.
Eine andere mögliche Reaktion ist die Flucht vor der Realität, die voll des Leides ist. Man sucht eine Traumwelt auf, mithilfe von Drogen verschiedener Art, welche die andere, wie die eigene Realität vergessen lässt.
Andererseits kann man so von Leid überwältigt werden, dass es alles andere verdrängt. Zugrunde liegt dabei wohl die Erfahrung, dass uns das Leid geradezu besinnungslos machen kann, etwa in Worte gefasst: "Mir ist nicht mehr zu helfen!" - Das Leid ist dann so groß, dass es alles andere verdrängt. Es wirft uns ganz auf uns selbst zurück. Wir verlieren das Interesse an allem, rund um uns - wir sind nur mit uns selbst und mit unserem Leid beschäftigt. Wer aus einer solchen Situation nicht herausfindet, verweigert auch meist das Gespräch, die Kommunikation. Er vergräbt sich sozusagen in seinem eigenen Leid. Der Satz, dass "geteiltes Leid halbes Leid" sei, hat seinen Sinn verloren. Man will nicht mehr reden, nichts teilen, nichts mitgeteilt erhalten. Die letzte Fluchtmöglichkeit vor dem unerträglich gewordenen Leid ist der Selbstmord, direkt oder indirekt, etwa der langsame Tod durch Drogen aller Art, bis hin zum Aufsuchen extremer Gefahren, etwa im Straßenverkehr. Es scheint unbewusst der Gedanke dahinter zu stecken: Wenn das Leid untrennbar mit dem Leben verbunden ist, dann muss das Leid auch mit dem Tod enden. Darüber hinaus stellt sich der Mensch in einer solchen Situation keine weiteren Fragen mehr.
Wer das Leid nicht verdrängt, nicht verdrängen will, wer vor dem Leid nicht flüchten kann oder flüchten will, der muss sich immer wieder dem Leid und der damit verbundenen Frage stellen: Welchen Sinn hat das Leid in meinem Leben?
Die Frage nach dem Sinn des Leidens, die Lösung der damit verbundenen Probleme, gehören zu den großen Themen der Weltliteratur in Gegenwart und Vergangenheit. Das Leid der Unschuldigen, die Frage nach dem Sinn und Unsinn des Lebens und Sterbens kommt in dem großen Roman "Schuld und Sühne" von Dostojewski ebenso zur Sprache wie in Albert Camus "La peste"; einerseits wird hier ein Hinweis gegeben auf die Absurdität der Welt, andererseits versuchen die Autoren damit, den Atheismus zu rechtfertigen. Vielfach aber finden sich positive Antworten auf die Frage, die uns gestellt ist: sie wird etwa angedeutet in Darstellung und Hinweisen, dass Leid für die dort handelnden Personen einen Läuterungsprozess beinhalte, der so wenigstens diesen Aspekt des Leides verständlich machen will. Im zweiten Teil des Faust etwa erfolgt die Läuterung und Sinndeutung des leidvollen Weges durch ein Hinfinden zum ersehnten Ziel. Bei Hermann Hesse in seinem Roman "Siddharta" endet das schmerzliche und leiderfüllte Suchen nach dem Sinn des Lebens mit einem ein Hinfinden zu einer höheren Wertordnung. Die menschliche Läuterung durch das Leid kann wieder auf verschiedene Weise erfolgen. Bei Dostojewski geschieht es durch das Einwirken anderer Menschen; bei Gertrud von Le Fort ist es die Gnade Gottes, die der "Letzten auf dem Schafott" Einsicht und Kraft verleiht, auf diesem ihrem letzten Gang.
Wenn ich nur als Christ eine Sinndeutung des Leidens im Leben der Menschen versuche, so schlage ich zuerst einige Stellen aus dem Alten Testament auf. Das Alte Testament mit seinem Glauben an einen Gott und Vater im Himmel als Ausgangspunkt für das Neue Testament ist die Voraussetzung für die Botschaft Jesu Christi. Die Bücher des Alten Testamentes nehmen das Leid, das Leiden, ernst. Sie verharmlosen es nicht; sie verbinden damit ein tiefes Mitgefühl. Sie sehen darin ein Übel, das nicht sein sollte. Überall begegnen wir dem Aufschrei der Kreatur, der Klage, dem Anklagen und Rufen, nicht nur im Buche Ijob, sondern ebenso in den Psalmen und einer dadurch charakterisierten Gattung von Schriften, den Klageliedern. "Das Leben des vom Weibe geborenen Menschen ist kurz, aber gesättigt von Qualen." (Ijob 14,1). Das Leid in allen von außen und von innen kommenden Formen wird in der Bibel nicht verherrlicht; man erwartet die Befreiung davon von der Aera des kommenden Messias und durch die Auferstehung. Das alles ist ein Werk Jahwes und des Messias. Die Versuche, in dualistischen Religionsvorstellungen eine Antwort zu finden, tauchen gelegentlich auf. Die Propheten lehnen es ab, anzunehmen, Jahwe sei je durch einen Stärkeren besiegt worden, sodass sich damit das menschliche Leid ergebe. Die Propheten sind besonders bemüht, das Leid und den menschlichen Leidensweg nicht vom monotheistischen Gottesbild zu trennen. Auch das Leid stammt aus Gottes Hand. Der Prophet Jesajas (45,7) formuliert es drastisch: Er lässt Jahwe sprechen: "Ich bilde das Licht und schaffe die Finsternis; ich wirke das Heil und schaffe das Unheil". Das heißt, das Böse ist eine Folge der menschlichen Freiheit, der möglichen Auflehnung gegen Gott und seine Ordnung. Im Lande Israel gab es daher aber auch immer eine Auflehnung, verbunden mit der Behauptung, das menschliche Leid sei mit der Existenz Gottes nicht vereinbar. Der Gottlose, so heißt es z. B. in Psalm 10, folgert aus dem Übel in der Welt, dass es keinen Gott gebe. Die Frau des Dulders Ijob ruft dem Gatten zu: Er solle sich gegen Gott auflehnen und ihn verfluchen (2,9).
Aber im Vordergrund steht immer wieder die Erkenntnis, dass es auch natürliche Ursachen für das Leid gibt (körperliche Verwundung, Schwäche des Alters usw.) - Darüberhinaus gibt es in der Schöpfung Gottes Mächte des Bösen, des Satans. Als Quelle des Unheils, das auf der Welt lastet, wird die erste Sünde, die Ursünde, wie es in der Bildersprache der Genesis heißt, an den Anfang der Menschheitsgeschichte gestellt. Ansonsten besteht kein Zweifel für die alttestamentlichen Autoren, dass weder Natur, noch Zufall, noch die Auswirkungen der Sünde, noch Satan selbst sich der Macht Gottes entziehen können. Die Ursächlichkeit des Leides in all seinen Formen kann von Gott nicht getrennt werden. Im Buche Ijob, mit seiner dramatischen Auseinandersetzung auf die Frage nach dem Sinn des Leides, strengt der Leidgeprüfte aus solcher Sicht einen Prozess der Auflehnung gegen Gott an und fordert ihn auf, sich zu äußern, um den Sinn seiner Prüfungen zu erklären. Aber Gott schweigt angesichts dieser Herausforderung.
Schritt für Schritt dringen die Propheten, selbst vom Leid gequält, in das Geheimnis des Leidens ein und versuchen, dieses Mysterium zu enträtseln. Sie kommen zu der Feststellung, dass Leid einen positiven Wert enthält, wenn es als Läuterung des Menschen verstanden wird. So wie das Metall durch das Feuer von den Schlacken gereinigt wird, so unterzieht das Leid in verschiedener Form, gerade auch als menschlich verursachte seelische Verletzung, den Menschen einem Reinigungsprozess. Es ist die Form einer väterlichen Züchtigung. Daher manifestiert sich in diesem Erziehungsprozess das Wohlwollen eines Vaters, eines Gottes und Herrn im Himmel. Darin äußert sich eine göttliche Führung, die allerdings menschliches Begreifen übersteigt. Im Buche der Weisheit wird der frühzeitige Tod des Weisen in Verbindung gebracht mit dem Ratschluss Gottes, der dadurch den Weisen vor der Torheit der Sünde bewahren will. In dieser Sicht kann das Leiden zu einer Prüfung besonderer Art werden, die Gott jenen vorbehält, die in einer besonderen Verbindung zu ihm stehen, wie etwa Abraham, Tobias oder Ijob. Er, der Herr, will dadurch gewissermaßen zeigen, dass er, Gott der Herr, der höchste Herr ist. Der Prophet Jeremias hat von einer inneren Auflehnung zu einer neuen Bekehrung in seinem Leid gefunden: "Weh mir, Mutter, dass du mich geboren hast, einen Mann, der mit aller Welt in Zank und Streit liegt. Ich bin niemands Gläubiger und niemands Schuldner und doch fluchen mir alle." - In seiner Niedergeschlagenheit aber besinnt er sich: "Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie; dein Wort war mir Glück und Herzensfreude. Denn dein Name ist über mir ausgerufen, Herr. ... Warum dauert mein Leid ewig und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will? Wie ein versiegender Bach bist du mir geworden, ein unzuverlässiges Wasser."
"Darum - so spricht der Herr - wenn du umkehrst, lasse ich dich umkehren, dann darfst du wieder vor mir stehen. ... Mögen sie dich bekämpfen, sie werden dich nicht bezwingen. Denn ich bin mit dir, um dir zu helfen und dich zu retten."
Einen Schritt weiter führt die Erkenntnis, dass Leiden einen fürbittenden und erlösenden Wert hat. Das wird etwa in der Gestalt des Moses sichtbar, wenn er sein von Leid und Schmerz zerrissenes Leben hingeben will, um sein schuldig gewordenes Volk zu retten. Bei Jesajas kommt es zu einer neuen Beschäftigung mit dem Knecht Jahwes. Der Knecht Jahwes ist im Alten Testament ein Ehrentitel. Dieser soll das Leid in all seinen ärgerniserregenden Formen erfahren. Er wird von Jesajas geschildert als Mann der Schmerzen, der nicht einmal mehr das Mitleid erregt. Die Schuld liegt aber nicht bei ihm, sondern bei uns Menschen. Darin liegt der Höhepunkt des Ärgernisses. Alles Leid und alle Sünden der Welt werden auf den Knecht Gottes bei dem Propheten Jesajas geladen. Und weil er das alles im Gehorsam auf sich nimmt, erlangt er für alle Frieden und Heil. Von dem eindrucksvollen Messiasbild des Alten Bundes, im Vorentwurf der Propheten, werden wir zu Jesus und den Schriften des Neuen Bundes geführt, um unserer Frage nachzugehen und um eine erhellende Antwort zu finden.
Jesus zeigt angesichts des Leides, dem er begegnet, eine spontane menschliche Regung des Erbarmens und Mitleids; Maria und Martha stellen ihm gegenüber fest: "Herr, wenn du hier gewesen wärest, wäre Lazarus nicht gestorben." - Angesichts des toten Freundes, zu dem man ihn hinführt, bricht er in Tränen aus, so berichtet uns Johannes. Jesus beseitigt das Leid nicht, sondern tröstet im Leid. "Selig, die Trauernden, denn sie werden getröstet werden". Er selbst leidet darunter, dass die Seinigen ihn nicht aufnehmen. Er weint angesichts des Verhaltens von Jerusalem. Der Gedanke an die bevorstehende Passion lässt ihn tief erschüttert sein. Sein Leiden selber - so gibt er zu verstehen - ist ein Hinweis auf die Liebe zu seinem Vater und zu seinen Freunden. Die Nachfolge und Gemeinschaft mit Jesus, dem Leidenden ist der Weg, um aus der Vergänglichkeit des Irdischen mit ihm in die andere Welt, wo es keinen Tod mehr gibt, zu gelangen. In den neutestamentlichen Schriften wird zudem darauf hingewiesen, dass das Leid den Glauben vor dem Irrweg und vor der Sünde schütze, es führt zur Hoffnung und zum Guten, bis zur Vollendung. Es kann aber gleichzeitig auch Versuchung zu Verzweiflung, zu Egoismus und Unglauben sein. Oder der Leidende kann sich nachdrücklich in die Passion Christi stellen und damit mit ihm die Läuterung zur Herrlichkeit erfahren. - Dazu kommen pastorale Überlegungen: Dienende Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Leidenden haben Gegenseitigkeitscharakter, besonders bei Einsamen und Verlassenen. Der Helfende wird beschenkt. Frohsinn und Freude schützen den Leidenden gegen Minderwertigkeitsgefühle, den Helfenden vor einem Überlegenheitsanspruch.
Von theologischer Seite wird darauf hingewiesen, dass es das Entscheidende der christlichen Botschaft sei, das Leben in seiner konkreten und ungeschmälerten Wirklichkeit anzunehmen. Das Christentum ist so keine Jenseitsvertröstung, sondern die Lehre einer Lebenspraxis, innerhalb derer der Tod seinen Stachel verloren hat. Es geht dabei nicht um den stoischen Rückzug vor der Welt, sondern darum, in Gemeinschaft eine derartige Praxis stets erneut zu bewähren.
Das Leiden und alle die Formen des physischen oder psychischen Schmerzes sind heute in dieser Welt ein besonderes Thema, das in all seinen Dimensionen auch als Ausdruck einer Krise gesehen werden kann, die immer zur Stellungnahme auffordert: d. h. das Leid sollte in unserer fortgeschrittenen Welt nicht existieren. Das Verhältnis, das dazu gewonnen werden kann, die Antwort, die darauf gegeben wird, entscheidet auch über Leben und Tod. In ihm (im Leid) offenbart sich, dass wir so sehr zu einem Ende kommen müssen, dass wir sterblich sind, das heißt, dass wir der Krankheit, dem Alter und dem Tode ausgesetzt sind.
Bei allem Suchen der Menschheit nach einer Antwort auf die großen Fragen des inneren und des äußerlich sichtbaren Leides, der damit aufgegebenen Rätsel in unserem Leben, kehren wir nochmals zurück zum Evangelium, um in seinem Lichte das Dunkel aufzuhellen, soweit dies möglich ist. Das Neue Testament führt uns hin zu dem Gedanken von der Liebe Gottes, die sich gerade im Leid erschließt. Denn im Leiden scheidet sich das Gold des reinen Vertrauens auf Gott von den Schlacken eines egoistischen Selbstvertrauens oder eines ausschließlichen Weltvertrauens (Nietzsche - Paulus). So wird das Leid zugleich ein Mittel der Reinigung des Glaubens: es kann den Menschen lösen von der selbstsüchtigen Weltgebundenheit und ihn freimachen für die größeren Zusammenhänge zwischen der Vergänglichkeit des Irdischen und einem Hinüberweisen auf eine andere Existenz, einem Leben ohne Tod. Aus dieser anderen Welt ist Christus gekommen, um dafür Zeuge zu sein und Wegweiser zugleich; damit alle, die an ihn glauben, Lebensgemeinschaft haben mit ihm.
Vor etwa zweieinhalb tausend Jahren hat der Prophet Jesaja diese Wahrheit vorausgeahnt, wenn er sagt: "Er beseitigt den Tod für immer; Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht." (Jes 25,4). Wie groß muss Gott sein, wenn er alle Tränen abtrocknen kann, die je von Menschen geweint wurden!
zitiert nach: Von der Erkenntnis des Leides, Wien, Picus Verlag, 1988