Liturgiereform des Vatikanischen Konzils und persönliche Frömmigkeit
Das Vatikanische Konzil hat am Schluss der 2. Session ein umfangreiches Dokument verabschiedet, das sich mit der Reform der Liturgie befasst. Ein erster Schritt war bereits der Einzug der Muttersprache in der Vormesse bei der Epistel und dem Evangelium. Umfangreiche weitere Reformen und Anpassungen - z.B. im Bezug auf Trauungsritus, Begräbnisritus, usw. - werden im Verlauf der nächsten Jahre noch folgen, wenn die nachkonziliare Kommission, die nach den Anweisungen des Konzils zu arbeiten hat, ihre Aufträge zum Abschluss gebracht haben wird.
Weil aber diese Liturgiereform auch zu Missverständnissen Anlass geben könnte, möchte ich im folgenden einiges über das Verhältnis von Liturgiereform und persönlicher Frömmigkeit sagen.
Die neue liturgische Konstitution hat mit eindeutiger Klarheit den Vorrang der Liturgie vor den persönlichen Übungen der Frömmigkeit ausgesprochen. Der Liturgie kommt dieser Vorrang zu, weil in ihr Christus selbst sein Priestertum in der Kirche fortsetzt, indem er durch sein Opfer am Kreuz den höchsten Kultakt der Schöpfung erneuert und die Frucht seiner Erlösung der Welt zuwendet.
Die Liturgie verdient diesen Vorzug, weil in ihr die Anbetung und der Dank der gesamten Kirche für die Gabe der Erlösung enthalten ist. In den einleitenden Grundsätzen zur Konstitution zeigt das Konzil - in Geist und Herz gleichbewegenden Worten - die Schönheit und Würde des liturgischen Vollzuges der Mysterien Christi. Man kann nur wünschen, dass dieses Kapitel immer mehr durch Predigt und Betrachtung zum geistigen Eigentum des katholischen Volkes und nicht zuletzt der Priester werde. Dabei kommt die Konstitution in einigen Sätzen auch auf das Verhältnis der liturgischen zur persönlichen Frömmigkeit zu sprechen. Sie betont den Eigenwert der persönlichen Frömmigkeit, wenn sie auch hinzufügt, dass alles private Beten aus dem liturgischen heraus wachsen und an ihm genormt sein müsse. Denn jedes persönliche Gebet der Christen vollzieht sich ja zuletzt in der Gemeinschaft des mystischen Leibes Christi, dessen Glieder wir alle sind. Das Gebet des Leibes Christi ist nun die kirchliche Liturgie.
Diese Nachordnung der persönlichen Übungen der Frömmigkeit soll aber keineswegs zu ihrer Geringschätzung und Vernachlässigung führen. Im Gegenteil! Es darf niemand glauben, er habe seine Christenpflicht, vor allem seine Gebetspflichten gegen Gott erfüllt, wenn er sich nur um den richtigen Vollzug der Liturgie in der Gemeinschaft bemüht und es dabei bewenden lässt. Das entspräche durchaus nicht dem Sinn der Kirche, wenn es ihr auch in der liturgischen Konstitution nicht darum geht, darüber ausführlich zu handeln, sondern gleichsam so nebenbei das rechte Verhältnis der liturgischen zur persönlichen Frömmigkeit zu streifen. Wenn auch das liturgische Gebet rangmäßig über dem Gebet des einzelnen steht, so gilt auch hier, wie überhaupt in der Ordnung der Liebe, dass in den konkreten Verhältnissen oft das weniger Vollkommene dem objektiv Vollkommenen vorgezogen werden muss. So wird die seelsorgliche Notwendigkeit, Menschen zu retten, die in Gefahr sind, seelisch zugrunde zu gehen, oft genug eine ausgedehntere Pflege der Liturgie, wie es an sich wünschenswert wäre, zurücktreten lassen. Einerseits deswegen, weil die Kräfte und die Zeit hierfür einfach fehlen und weil andererseits vor der Erschließung der Liturgie die Menschen selber zuerst für den Glauben und die Kirche gewonnen werden müssen. Selbst dem Apostel schien es wichtiger, das Evangelium zu verkünden als zu taufen. Dem trägt übrigens auch die Konstitution Rechnung, indem sie die Feier der Liturgie nicht als die einzige Aufgabe der Kirche bezeichnet.
Es wäre daher ein verhängnisvolles Missverständnis, wollte man die liturgische Konstitution dahin verstehen, dass sie die persönliche Frömmigkeit und Aszese vielleicht noch dulden, ihnen aber ansonsten keine besondere Bedeutung beimesse. Eine solche Auffassung würde die Liturgiereform der Kirche selbst bald wieder in Frage stellen. Gerade im Interesse dieser Reform wird heute die Pflege der persönlichen Frömmigkeit sogar noch mehr Bedeutung beanspruchen. Der Gläubige ist nämlich nicht nur Glied der kirchlichen Gemeinschaft und als solches der Gemeinschaftsfrömmigkeit der Liturgie verpflichtet, sondern er ist auch Einzelmensch, dessen Heil ganz in seine eigene Verantwortung und persönliche Entscheidung gestellt ist. Als dieser einzelne muss er daher seinen Weg zu Gott auch in einer persönlichen Frömmigkeit gehen. Niemand, auch nicht die kirchliche Gemeinschaft, vermag ihm diese Entscheidung über sein persönliches Heil oder Unheil abzunehmen. Daraus ergibt sich, dass eine Vernachlässigung der persönlichen Frömmigkeit früher oder später auch zu einer Aushöhlung und Mechanisierung der Liturgie selber führen müsste. Wer zu Gott in keinem persönlichen Verhältnis steht, wird auch bald sein Verhältnis zu ihm über das Gemeinschaftsgebet der Liturgie verlieren. Außerdem werden die liturgischen Formen abgenutzt und alltäglich, wenn sie nicht ständig durch die persönliche Meditation der gefeierten Geheimnisse lebendig erhalten werden. Wenn ein solcher Kult Gottes zu einem bloß äußeren Dienst wird, dann gilt das Schriftwort: "Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit von mir" (Mt 15,8). Ein solches Gebet besitzt dann keinen oder doch nur einen sehr geringen Wert vor Gott.
Ein so innerlich ausgehöhlter liturgischer Vollzug hätte dann auch keinen Einfluss auf die innere Umgestaltung des Menschen, den doch das liturgische Gebet und die Mysterienfeier nach der Anbetung und Verherrlichung Gottes in besonderer Weise anstrebt. Im Kirchengebet des Osterdienstages beten wir, "dass wir im Leben festhalten, was wir im Glauben empfangen haben". Erst in der Verwirklichung dessen, was die liturgische Symbolik ausdrückt und wozu die liturgischen Gebete auffordern, wird die Mysterienfeier für unser Leben und Handeln fruchtbar; sonst endet sie mit dem Verlassen des Gotteshauses und übt keinerlei Einfluss auf unser privates, berufliches, eheliches, wirtschaftliches, politisches und soziales Leben aus. Lebensgestaltend wird die Liturgie nur - das gilt für Priester und Laien in gleicher Weise - wenn man sich persönlich in sie versenkt und sie in Predigt und Vortrag auswertet.
Die Liturgie bietet wohl viele Anregungen dafür, aber ihre Schätze müssen erst durch persönliche Anstrengung gehoben werden. Für sich allein reicht sie auch zur christlichen Welt- und Lebensgestaltung, wie sie die vielschichtigen Bedürfnisse der Zeit verlangen, nicht aus. Es muss vor allem eine geplante Aszese und Überwindung unserer Sündigkeit und Fehlerhaftigkeit der Sakramentsgnade erst den Raum schaffen. Der Same, den der göttliche Sämann in den heiligen Mysterien ausstreut, ist zwar immer gut, aber er wird nur dann Frucht tragen, wenn wir auch für ein geeignetes Erdreich in unserer eigenen Seele Sorge tragen. Man stellt sich manchmal das Wachstum in Christus durch die Beteiligung am sakramentalen Leben der Kirche so einfach vor, wie das organische Wachstum in der Natur, das notwendig aus dem inneren Lebensgesetz erfolgt. In Wirklichkeit ist ein intensives Mitwirken von unserer Seite Voraussetzung. Die Liturgie bietet dazu wohl das Wichtigste, gleichsam die göttlichen Energien; aber damit diese auch verwirklicht werden, bedarf es unserer eigenen Anstrengung. Zwei Faktoren wirken an unserem Heil: der göttliche, der vorzüglich durch die Mysterien und Sakramente in uns wirkt und der menschliche, der in unserem Mitwirken steht. Fehlt der sakramental-liturgische Faktor, so kann sich nichts Gottgefälliges entwickeln. Fehlt das menschliche Zutun, bleibt alle Liturgie und Gnade fruchtlos. Die Liturgie ruft das menschliche Bemühen und das menschliche Bemühen ruft die Gnade, die uns hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, durch die Liturgie zukommt.
So besteht also zwischen der Liturgie und der persönlichen Frömmigkeit kein Gegensatz, wie manche glauben, sondern eine unlösbare Verbindung, sodass das eine ohne das andere nicht bestehen kann. Eine Frömmigkeit, die sich auf den bloß liturgisch-sakramentalen Mitvollzug der heiligen Geheimnisse beschränkt, ohne sich gleichzeitig zu bemühen, ihren Sinn immer tiefer zu erfassen - und im privaten und öffentlichen Leben auszuprägen -, eine Frömmigkeit, die nicht auch verbunden ist mit einem ebenso starken Verlangen, Gott im persönlichen Leben näher zu kommen und Christus immer mehr nachzufolgen, müsste in einem unfruchtbaren liturgisch-sakramentalen Automatismus erstarren. Ja, einer solchen Frömmigkeit könnte der Vorwurf eines gewissen Magismus nicht ganz erspart bleiben. Aber ebenso würde auch eine Spiritualität, die die menschliche Anstrengung vom liturgisch-sakramentalen Untergrund loslösen wollte und rein privat ohne bewusste Teilnahme am Gottesdienst der gesamten Kirche, wie ihn die Liturgie darstellt, geübt würde, ihr Ziel verfehlen. Seitdem wir in Christi sichtbare Gemeinschaft der Kirche aufgenommen sind und nur über sie unser Heil erlangen können, muss alles persönliche Beten und aszetische Bemühen immer wieder einmünden in das Leben der Gesamtkirche, von ihr geformt und getragen werden. Seitdem können wir abseits vom Mitvollzug des Gebetes und Opfers des Corpus Christi Mysticum Gott nicht mehr gefallen. Das, was Gott tut und das, was wir zu tun haben, gehören eben im christlichen Heilswerk untrennbar zusammen. Wir sind wohl ohne unser Zutun geschaffen worden, aber wir werden nicht ohne unser Zutun erlöst, sagt der hl. Augustinus. Christus selber hat uns für diese Synthese das beste Beispiel gegeben. Er hat die liturgischen Feste des israelitischen Volkes mitgefeiert und auf der anderen Seite aber ebenso deutlich in der Bergpredigt betont: "Wenn du betest, gehe in deine Kammer, schließe die Tür zu und dann bete im Verborgenen zu deinem Vater" (Mt 6,6).
Eine recht verstandene liturgische Frömmigkeit schätzt daher das persönliche Gebet, die Betrachtung und Gewissenserforschung, sowie andere durch christliche Tradition erprobte Übungen. Eine einseitige Beschränkung auf liturgisches Tun brächte eine andere Gefahr mit sich, nämlich die eines neuerlichen Rückzuges in ein liturgisches Getto. Der Kult Gottes, der die innere Sinnrichtung der Liturgie ausmacht, ist zweifellos das Erste und Höchste, was der Mensch seinem Schöpfer und Erlöser zu leisten hat, aber nicht das Einzige.
Der Christ findet Gott nur über den Weg des Bruders. Ihm ist die Welt in allen ihren Bereichen aufgegeben, die er konsekrieren und durch Christus zu Gott zurückbringen muss. Gewiss geschieht diese Weihe der Welt (consecratio mundi) zuerst und grundsätzlich in der Liturgie, aber für die konkrete Durchführung in der Familie, in den verschiedenen Berufen und in der menschlichen Gesellschaft enthält die Liturgie für unsere differenzierten Verhältnisse zu wenig Weisungen. In der Pflege der Liturgie schon die ganze Pastoral und Aktion des Christen in der Welt beschlossen zu sehen, wäre darum ebenso abwegig, wie sie für die persönliche Christusgestaltung als hinreichend zu betrachten. Solches darf man von ihr auch nicht verlangen, da ihre erste Aufgabe eben eine andere ist. Die Pflege der persönlichen und sozialen Initiative in der Frömmigkeit des Gläubigen ist darum notwendig, damit die Welt christlich bewältigt werden kann.
Die Liturgie wirkt zunächst nur auf den gläubigen Menschen; der Ungläubige oder Abseits-Stehende hat zu ihrem Verständnis noch einen langen Weg zu gehen. Das fordert eine weit ausholende apostolische und wissenschaftliche Vorarbeit. Es wäre daher sicher gegen den Sinn der Kirche, die nicht nur die Liturgie wieder in ein neues Licht gerückt hat, sondern ebenso die Christen zur Katholischen Aktion, zur Wiederverchristlichung der säkularisierten Welt aufgerufen hat, wenn man jetzt mit Berufung auf die liturgische Konstitution glaubte, dieser notwendigen Apostolatsarbeit weniger Gewicht beimessen zu müssen. Wenn wir über die Pflege der Liturgie den Bruder verlieren würden, hätten wir uns auch am anderen Zwecke der Liturgie verfehlt, der das Heil der Menschen ist.
Wir dürfen nie vergessen, dass der höchste Kultakt gegen Gott, den unser Hoherpriester Jesus Christus am Kreuze vollbracht hat, gleichzeitig der höchste Akt der Bruderliebe war. Durch die Rettung der Menschen hatte er Gott verherrlicht. Und darum konnte er das zweite Gebot dem ersten, die Bruderliebe der Gottesliebe gleichsetzen.
Die Kirche hat im Verlauf ihrer jahrhundertelangen Geschichte den Akzent bald mehr auf die Seite der menschlichen und persönlichen Mitwirkung am Heilswerk gelegt, bald auf die liturgische und seinshafte unserer Christus- und Gottverbundenheit, ohne dass sie je eine der beiden Seiten zur ausschließlichen gemacht hätte.
In den letzten Jahrzehnten legt sie offenkundig ein stärkeres Gewicht auf die Seite der Liturgie, der Sakramente und des Opfers, wie der Corpus-Christi-Gemeinschaft. Das geschieht nicht ohne besondere Führung des Heiligen Geistes. Wir leben immer mehr in einer nüchtern-sachhaften Welt. Wir stehen im Zeichen der Weltvereinigung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Das Individuelle muss zugunsten des Gemeinsamen zurücktreten, damit die Menschheit in ihrer Ganzheit überhaupt weiter bestehen kann. Dieser veränderten Weltsituation entsprechend rückt auch Gottes Geist immer mehr jene Wahrheiten und Glaubenswirklichkeiten in den Vordergrund, die dazu geeignet sind, gerade diese Welt zu taufen und durch Christus zu Gott zurückzuführen. Aber die Kirche, die zu allen Zeiten das Universale, das Ganze hüten muss, darf diese stärkere Betonung des Seinshaften und Gemeinschaftlichen, das in der Liturgie als dem Gottesdienst des Corpus Christi Mysticum zum Ausdruck kommt, niemals zur Unterdrückung der anderen Seite werden lassen. Die Pflege der individuellen Frömmigkeit verdient heute mehr Beachtung, damit der Zug zur Gemeinschaftsfrömmigkeit nicht zu einem religiösen Kollektivismus mit allen seinen auf anderen Gebieten bekannten Folgen - deren schlimmste ist die Auslöschung der Persönlichkeit - führt. So wie es heute im profanen Raum um eine neue und bessere Gesellschaftsordnung geht, die notwendig auch eine stärkere Gemeinschaftsbindung verlangt, so ist man gleichzeitig bemüht, die Rechte der Persönlichkeit nicht nur zu sichern, sondern noch zu erweitern, damit der Mensch nicht einem staatlichen und wirtschaftlichen Mechanismus ausgeliefert wird, der alle Unterschiede nivelliert. Etwas Ähnliches ist auch im Bereiche der Kirche zu beachten. Hier umso mehr, als das Heil des einzelnen letztlich nur vom einzelnen in seiner persönlichen Gegenüberstellung mit Gott errungen werden kann.
Wir bejahen mit der Kirche den hohen und zeitnotwendigen Wert der Liturgie. Wir wollen dabei aber nicht der Gefahr verfallen, sie gegen ihren Sinn zu verabsolutieren und so die begrüßenswerte liturgische Erneuerung zu gefährden, um die sich doch die besten Geister im II. Vatikanischen Konzil unter der sichtbaren Führung des Heiligen Geistes sehr bemüht haben.
Der Mensch neigt immer zu Extremen. Darum ist es gerade heute Pflicht des Bischofs, in der Frage der liturgischen und persönlichen Frömmigkeit auf die rechte katholische Mitte hinzuweisen.