Das Zweite Vatikanische Konzil und der Weg der Kirche ins dritte Millennium
Was versteht man unter einem Ökumenischen Konzil? Zum Unterschied von nationalen oder regionalen Konzilien in der Kirche werden zu einem Allgemeinen, Ökumenischen Konzil - ökumenisch im Sinne der griechischen Ökumene allgemein - alle regierenden Bischöfe der ganzen Welt eingeladen, um unter dem Vorsitz des Bischofs von Rom, dem Papst, wichtige Fragen für die Gesamtkirche zu beraten, Beschlüsse zu fassen, Gesetze zu verabschieden. Ein Ökumenisches Konzil besitzt, so wie der Papst, höchste Gewalt über die ganze Kirche. Ein Ökumenisches Konzil steht also neben dem Papst, aber nicht über dem Papst. (Der Konziliarismus wurde im Ersten Vatikanischen Konzil widerlegt).
Das Zweite Vatikanische Konzil, (Lumen Gentium, nr. 22) bestimmt die Aufgaben eines Allgemeinen Ökumenischen Konzils folgendermaßen: „Das Kollegium der Bischöfe, das jenem der Apostel im Lehr- und Hirtenamt nachfolgt, ja, in welchem die Körperschaft der Apostel immerfort weiterbesteht, ist gemeinsam mit ihrem Haupte, dem Bischof von Rom, - (und niemals ohne dieses Haupt), - gleichfalls Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche“.
Bis jetzt gab es insgesamt 21 Ökumenische Konzilien in der Geschichte der Kirche. Das erste Konzil fand in Nicäa (325) statt, das 21. Konzil 1962-65 in Rom. Es wurde am 8. Dezember 1965 durch Papst Paul VI. feierlich abgeschlossen.
Das letzte Konzil entsprang der Eingebung eines Mannes, bei dessen Wahl zum Papst wohl kaum jemand, am wenigsten er selbst, von der schicksalhaften Bedeutung ahnte, die er für die Kirche, aber auch für die ganze Welt haben werde. Johannes XXIII. war - und er hat sich selbst so bezeichnet, - ein schlichter, einfacher Mann, ein Bauernsohn, dessen Wunsch es war, Hirte einer kleinen Gemeinde zu sein. Er war vielleicht ein unprogrammatischer Mann und doch stammt von ihm das Programm des Konzils. In seiner schlichten, unproblematischen Frömmigkeit war er das Werkzeug jenes Heiligen Geistes, den der Herr seiner Kirche versprochen und gesandt hat. Er hat eine große Wende in der Kirche herbeigeführt. Er hat den Übergang vom Statischen zum Dynamischen, von der Autorität zur Brüderlichkeit, vom Monolog zum Dialog vorbereitet. Er war ein Mann des Gespräches und hat für die Kirche wieder auf die Wichtigkeit des Gespräches hingewiesen, des Gespräches mit der Welt, aber auch innerhalb der Kirche. Durch ihn bekam die Kirche wieder Leuchtkraft bis in die fernen Gefilde der Kirchenfremden und der Kirchengegner.
Ich erinnere mich heute noch so, als wäre es gestern gewesen. Die Spannung, die Hoffnung und Skepsis zugleich, mit der die öffentliche Meinung der Eröffnung des II. Vatikanums entgegenging, löste sich auf in eine große, freudige Überraschung.
Ich werde jenen 11. Oktober 1962 nie vergessen. Als damals relativ junger Erzbischof von Wien stieg ich inmitten von rund zweieinhalbtausend Konzilsvätern über die Scala Regia hinunter zum Eingang der Peterskirche. Papst Johannes XXIII., der das Konzil einige Jahre zuvor angekündigt und einberufen hatte, wurde in die Peterskirche hineingetragen und stieg dann von seinem Tragsessel herunter, um in der Kirche zu Fuß, zwischen den links und rechts aufgebauten langen Sitzreihen der Bischöfe hindurch, bis zum Petrusgrab zu gehen. Dabei trug er nicht die päpstliche Tiara, sondern eine bischöfliche Mitra, wie alle anderen Konzilsteilnehmer auch.
Das Hauptschiff der großen Peterskirche war mit den zu beiden Seiten aufgebauten Sitzreihen für die Bischöfe für die nächsten Jahre zur Konzilsaula umgebaut worden. Unvergesslich bleibt mir das mir hier zum ersten Mal deutlich gewordene Bild einer weltumspannenden Kirche. In den Sitzungen selbst und vor allem in den Gesprächen in den Pausen konnten man Bischöfe verschiedener Hautfarbe, Rasse und Sprache miteinander in lebhaftem Gespräche sehen. Das ist, so schien mir, eine vitale und lebendige Kirche!
In der Mitte der Peterskirche, das heißt, der Konzilsaula, befand sich auf einem eigens dafür vorbereiteten Tisch eine kostbare Ausgabe der Heiligen Schrift, aus den ersten christlichen Jahrhunderten, aus der Vatikanischen Bibliothek. Dieses Buch und die Messfeier am Beginn einer jeden Hauptsitzung in verschiedenen Riten waren die deutlichen Hinweise auf das Fundament auch dieses Konzils, auf Christus und seine Botschaft an alle Völker!
In seiner Eröffnungsansprache meinte Papst Johannes XXIII., angesichts der großen Zahl der in St. Peter versammelten Bischöfe aus der ganzen Welt, mit innerer Gelassenheit, man dürfe sich nicht nur für das interessieren, was alt und vergangen ist, sondern - ich zitiere wörtlich - die Bischöfe sollten „freudig und furchtlos das verwirklichen, was die Gegenwart erfordert“. Man dürfe sich nicht so verhalten, als ob sich in der Welt alles immer nur zum Schlechteren wende; er wies darauf hin, dass man nicht immer nur auf jene "Unglückspropheten" hören solle, die - ich zitiere wörtlich - "in den modernen Zeiten nichts zu sehen vermögen, als Unrecht und Untergang, als ob zur Zeit der früheren Konzilien alles in vollem Triumph der christlichen Lehre und der rechten Freiheit des Glaubens vor sich gegangen wäre". Es sei daher "wahrhaft nötig", sagte der Papst, "dass die gesamte christliche Lehre vor allem durch ein neues Bemühen angenommen wird; dabei muss die Substanz der alten, im Glauben enthaltenen Lehre von der Formulierung ihrer sprachlichen Einkleidung wohl unterschieden werden". In diesem Bemühen müsse vor allem der pastorale Gesichtspunkt im Vordergrund stehen.
Die von überall, aus der ganzen Welt in Rom zusammengeströmten neugierigen Journalisten haben die Zuversicht und den Mut aus diesen Worten herausgehört und darüber einer interessierten Welt auch so berichtet.
Dieses Konzil, als Allgemeines und Ökumenisches Konzil, in der Geschichte der Kirche das einundzwanzigste, wurde als ein Weltereignis bewertet; dies bewies die Anwesenheit von fast 1000 Berichterstattern. Später standen ihnen eigene Büros zur Verfügung, wo täglich Konzilsväter in den Hauptsprachen über die Vorgänge auf dem Konzil berichteten und die Fragen der Journalisten zu beantworten versuchten, um so zu verhindern, dass in der großen Berichterstattung zu viele Missverständnisse oder Missdeutungen erschienen.
Und so wurde gerade durch die Öffentlichkeit der Konzilsverhandlungen der Welt ein Beispiel gegeben für die Freiheit geistigen Ringens, für das Ernst-nehmen geistiger Entscheidungen in einer Zeit, die so ausschließlich von machtpolitischen Interessen und vom Materiellen geprägt erschien. Die Welt hat damals dieses Beispiel begriffen.
Im Rahmen dieses Vortrages ist es mir leider nicht möglich, auf die großen Ereignisse, Diskussionen und auch Spannungen während der Jahre des Konzils einzugehen. In der nach dem Konzil einsetzenden Diskussion zwischen einer sogenannten "konservativen" und einer sogenannten „progressiven“ Richtung, - ich denke dabei an den westeuropäischen und mitteleuropäischen Raum - ging es nicht immer nur um die Bewertung verschiedener Konzilsaussagen. Die dabei in Erscheinung getretenen Fronten kreisten und kreisen vor allem um das rechte Kirchenbild in der Welt von heute. Ohne sich immer auf die Konzilstexte selber zu beziehen, legen die einen den Akzent auf Uniformität, Einheitlichkeit, im Gegensatz zu legitimen Vielfalt. Die anderen bringen ihre Sorgen zum Ausdruck, dass fundamentalistische Unterströmungen das Bild der Kirche für die Zukunft einengen und verzerren könnten. Niemand will dem anderen von vornherein den guten Willen absprechen. Wie aber, so frage ich Sie, zeigt man zukunftsweisende Wege aus dieser vorhandenen Verunsicherung?
Alle Konzilien sind in ihrer Ausrichtung auf die Zukunft zu sehen im Ringen um die Einheit des Glaubens für das wandernde Gottesvolk in die unbekannte Zukunft. In diesem Sinne zeichnen die 16 offiziell verabschiedeten Konzilsdokumente behutsam erneuerte Konturen, lassen die Umrisse eines für die Zukunft ausgerichteten Kirchenbildes in Erscheinung treten. Wie dieses Kirchenbild aussehen soll, darüber gehen die Meinungen oft auseinander. Hier möchte ich betonen: Viele dieser Debatten über das Konzil leiden darunter, dass die Kenntnis seiner Texte zu wünschen übrig lässt.
Ich darf nun im Folgenden kurz jene wichtigen Impulse nennen, die das Bild einer erneuerten Kirche auf dem Weg in das dritte Millennium prägen sollen:
Dazu gehört erstens das auf diesem Konzil erlebte Bewusstsein, Weltkirche zu sein: Ein Blick auf die große Kirchenversammlung zeigte die weltumfassende Vielfalt von Rassen, Sprachen und Kulturen, die durch die Einheit des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und das sichtbare Petrusamt zu einer friedlichen, wenn auch mitunter spannungsreichen Einheit verbunden waren. Demzufolge konnte das Latein nicht mehr die Universalsprache für den kirchlichen und liturgischen Dienst sein. Es kam zur Einführung der Muttersprache in der Liturgie und zu einer Erneuerung der gottesdienstlichen Formen, mit dem Blick auf die Vielfalt der unierten orientalischen Riten.
Das "europäische Kleid" der katholischen Kirche wurde auf dem II. Vatikanum sichtbar abgelegt. Das abendländische Kleid der Kirche, uns so vertraut und von vielen mit der Kirche selbst identifiziert, ist nur eines der Kleider der Kirche Christi. Wir brauchen es nicht zu verbannen, aber wir sollen wissen, dass die Kirche in jedem äußeren Kleid Kirche ist, dass sie zu allen Menschen gesandt wurde, sich den Mantel jeder Kultur über die Schultern zu legen, dass Gottes Antlitz durch die Farbe jeder Haut durchschimmern kann.
Die Kirche muss allerdings nun lernen, sich in den anderen Kontinenten und Kulturen zu inkulturieren, mit allen damit verbundenen Spannungen und Problemen; diese Inkulturation der Kirche wird von ganz großer Bedeutung werden, wenn die katholische Kirche Afrikas ein afrikanisches Kleid, in Indien ein indisches, in Korea ein koreanisches Kleid bekommt. Es ist eine Frucht dieses Konzils, wenn die Kirche damit in ihrer Vielfalt wächst; einer Vielfalt, die allerdings immer nur so weit gehen kann, dass die Einheit dadurch nicht Schaden leidet.
Zu diesem Kirchenbild gehört zweitens die lebendige Kraft des Ökumenismus. Das Dekret über den Ökumenismus sagt selber gleich in seinem Vorwort dazu: „Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen, ist eine der Hauptaufgaben des II. Vatikanischen Konzils. Denn Christus, der Herr, hat eine einige und einzige Kirche gegründet, und doch erheben mehrere christliche Gemeinschaften vor den Menschen den Anspruch, das wahre Erbe Jesu Christi darzustellen; ... Der Herr der Geschichte aber hat in jüngster Zeit begonnen, über die gespaltene Christenheit ernste Reue und Sehnsucht nach Einheit reichlicher auszugießen". (Ökumenismus, nr. 1)
Die oft beklagten scheinbaren Stagnationen unserer Zeit können nur Prüfungen, aber nicht ernsthafte Hindernisse sein. Die ökumenische Bewegung ist eben ein langwieriger Prozess und kann nicht mit Parlamentsdebatten oder Abschlusskommuniqué verglichen werden. Lokale oder nationale Schwierigkeiten wird man nicht auf die gesamte Kirche übertragen können.
Heute ist es entscheidend, das gemeinsame Erbe der Vergangenheit höher zu schätzen, als das Trennende. Wenn im vorigen Jahrhundert der Kampf untereinander deswegen so bitter war, weil man sich gegenseitig vorwarf, wo die Irrtümer liegen, so heißt es heute: Kehren wir doch zurück zu dem gemeinsamen Erbe, das uns einmal verbunden hat - (wir vergessen oft, dass im ersten Jahrtausend, bis 1054, die Christenheit von Rom bis Byzanz eine ungeteilte war) - kehren wir doch zurück und versuchen wir, dem ursprünglichen Zustand in der Form eines geschichtlichen Prozesses immer näher zu kommen. Wie lange der Weg zur Einheit dauern wird, wissen wir nicht, aber wir glauben und hoffen, dass dieser Prozess der Ökumene uns einmal zusammenführt.
Zum Kirchenbild des Konzils gehört drittens - was mir für die Zukunft der katholischen Christenheit besonders wichtig zu sein scheint - die ausführliche Auseinandersetzung des Konzils mit dem - wörtlich: "Stand jener Christgläubigen, die man Laiennennt". So formulierte es die Kirchenversammlung. In einem eigenen Dokument, dem Dekret über das Laienapostolat, „Apostolicam actuositatem", aber auch in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche wird das Apostolat der Laien ausführlich behandelt. Dieses Thema, so das Konzil, sei wichtig geworden, "wegen der besonderen Verhältnisse unserer Zeit"und weil die Bischöfe sehr wohl wissen, "wie viel die Laien zum Wohl der ganzen Kirche beitragen" (Lumen Gentium, nr. 30).
Nach 400 Jahren seit der Reformation findet sich hier zum ersten Mal der theologische Ort, um über die Aufgabe und Sendung der Laien in der Kirche autoritativ zu sprechen. Damit wollte die Kirchenversammlung wohl auch dem Vorwurf des Zweiklassensystems in der Kirche und des Klerikalismus entgegentreten. "Die Laien", so heißt es wörtlich, "sind besonders dazu berufen, die Kirche an jenen Stellen und in den Verhältnissen anwesend und wirksam zu machen, wo die Kirche nur durch sie das Salz der Erde werden kann"(LG, nr. 33). Und "so werden die Laien gültige Verkünder des Glaubens an die zu erhoffenden Dinge, wenn sie mit dem Leben aus dem Glauben ohne Zögern das Bekenntnis des Glaubens verbinden". - Daraus folgt für den Klerus in der Kirche, die Bischöfe, die Priester, sie "sollen die Würde und Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienste der Kirche übertragen und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen; sie sollen ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen" (LG, nr. 37).
Es wird heute immer deutlicher, wie sehr die Zusammenarbeit von Priestern und Laien, aber auch die Eigenständigkeit des Laienapostolates für die Zukunft der Kirche immer wichtiger wird.
Zu dem Kirchenbild des Konzils gehört viertens: Das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, ein für die Kirche der Zukunft besonders wichtiger Gesichtspunkt. Zum ersten Mal wird von einem Konzil der katholischen Christenheit ein deutlicher Hinweis auf Geschichte und Bewertung der anderen Religionen gemacht:
"Die Menschen erwarten", so heißt es im Text, "von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?" (Nostra aetate, nr. 1). - Und weiter heißt es: "Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen (anderen) Religionen wahr und heilig ist. ... Unablässig aber verkündet sie und muss sie verkündigen: Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben" (NA, nr. 2). In ihm finden die Menschen die Fülle des religiösen Lebens, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat.
Aus dieser weiten Sicht werden im kürzesten Konzilsdokument im Kapitel 3 der Islam und im Kapitel 4 das Judentum behandelt. Im Hinblick auf verschiedene Feindschaften vergangener Jahrhunderte zwischen Christen und Muslimen ermahnt die Heilige Synode alle, "das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen" (NA, nr. 3).
Darüber hinaus war es die erklärte Absicht Johannes XXIII., der Feindschaft zwischen Juden und Christen ein Ende zu setzen, um damit die Kirche von dem Vorwurf des Antisemitismus zu befreien. Die Behandlung dieses Themas bedeutete für das Konzil eine kritische Phase. Vor allem aus den arabischen Staaten kamen vehemente Einwände zu diesem Vorhaben. Alle möglichen Anschuldigungen und Behauptungen wurden vorgebracht. Den Konzilsvätern wurden verschiedenste Pamphlete zugeschickt, um sie von diesem Thema abzubringen. Was übrigens (nicht offiziell) in diesem Zusammenhang an Flugblättern verteilt wurde, würde einen ganzen Band füllen. Verschiedenste Gruppierungen versuchten, von außen auf das Konzil Einfluss zu nehmen.
Und dennoch kam es zu dieser Erklärung, von der Karl Rahner meinte, dass sie nach ihrem heute vorliegenden "Wortlaut und nach ihrer inneren Dynamik in der Geschichte der Kirche, ihrer Konzilien und ihrer Theologie einzigartig ist". - So heißt es zum Beispiel über das Verhältnis von Juden und Christen: "Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist"(NA, nr. 1). - Und "deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testaments empfing und genährt wird von den Wurzeln des guten Ölbaumes, in den die Heiden als wilde Schösslinge eingepflanzt sind". - Und "da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die heilige Synode die gegenseitige Achtung und Kenntnis fördern".
Ganz wichtig, nicht zuletzt im Lichte der jahrhundertelangen, leidvollen Geschichte, heißt es schließlich weiter unten: "Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied, noch den heutigen Juden zur Last legen". - Die feierliche Verkündigung dieses wichtigen Konzilsdokumentes erfolgte am 28. Oktober 1965.
Eine aufsehenerregende Auswirkung des Konzils in diesem Zusammenhang war dann das sogenannte "Ereignis von Assisi" im Herbst 1986, als ein wichtiger Impuls in Bezug auf das Christentum und die nichtchristlichen Religionen. Papst Johannes Paul II. hatte damals ganz persönlich die Vertreter der großen Weltreligionen nach Assisi eingeladen, um - zwar jeder Vertreter für sich, aber an einem Ort vereint - für den Frieden der Welt zu beten. Das heißt, es wurde nicht gemeinsam in dieser Absicht gebetet, sondern die einzelnen Vertreter der religiösen Gemeinschaften taten dies voneinander getrennt. Die vielen Vorwürfe, die sich später wegen des Ereignisses von Assisi zum Teil gegen den Papst selbst richteten, kann man etwa so zusammenfassen: Damit sei das erste Gebot des Dekalogs und der erste Artikel unseres Glaubensbekenntnisses schwer verletzt worden. Der Papst und seine Mitarbeiter seien in den Sog eines neuzeitlichen Relativismus hineingeraten und schoben die Wahrheitsfrage einfach beiseite.
Jene ängstlichen oder oppositionellen Beobachter des Ereignisses von Assisi hatten offenbar den auch heute noch in der Heiligen Schrift zu lesenden Satz Jesu vergessen, den er an das Apostelkollegium mit dem Inhaber des Petrusamtes an der Spitze gerichtet hatte: "Siehe, ich bin bei euch, alle Tage bis zum Ende der Welt".
Ich sehe die in die Zukunft weisende Bedeutung des Ereignisses von Assisi vor allem darin, dass die katholische Kirche durch den einladenden Papst ein Zeichen gesetzt hat, wie sehr sie es als ihre Aufgabe ansieht, Einheit und Eintracht unter den Menschen zu fördern und die Bedeutung der Religionen für den Friedensdienst unter den Völkern bewusst zu machen.
Und schließlich gehört fünftens zu dem erneuerten Kirchenbild auf dem Weg in neue Jahrtausend jenes umfangreiche Dokument über die Kirche in der Welt von heute: Gaudium et Spes. Es war für uns alle erstaunlich, während des Konzils zu beobachten, wie sehr die Welt, das heißt, eine nichtchristliche und zum Teil ungläubige Welt, am Konzilsgeschehen Interesse zeigte. Es war nicht nur das Interesse für einen Papst Johannes XXIII. oder eine allgemeine Neugier, sondern einfach das Gespür, dass viele der Themen und Fragen in dem begonnenen Dialog mit der Welt alle angehen und noch offen sind. - "Als Zeuge und Künder des Glaubens des ganzen, in Christus geeinten Gottesvolkes", so heißt es wörtlich in nr. 3 dieses Dokuments, - "kann daher das Konzil, seine Verbundenheit, seine Achtung und Liebe gegenüber der ganzen Menschheitsfamilie" - wozu ja auch die Kirche selbst gehört, - "nicht deutlicher bekunden, als dadurch, dass es mit ihr (das heißt, mit der Menschenfamilie) einen Dialog beginnt". Diese Öffnung gegenüber der Welt von heute in Form eines Dialoges wurde noch unterstrichen durch viele Teilnehmer von Konzilsbeobachtern aus den verschiedenen getrennten christlichen Kirchen. Die vielen Gespräche und Kontakte mit diesen, außerhalb der Konzilsaula, haben den ökumenischen Aspekt des Konzils sehr unterstrichen.
Ohne hier auf das innerkirchliche wichtige Dokument, die Dogmatische Konstitution über die Kirche, "Lumen Gentium" näher einzugehen, möchte ich darauf hinweisen, dass es im konziliaren Umfeld der Berichterstattung auch darum ging, dem häufigen Irrtum in der Öffentlichkeit zu begegnen, so als ob die Kirche nur eine Institution sei, wie andere auch und praktisch nur für ethische, bzw. moralische Orientierung im sozialen Gefüge zuständig sei.
Dagegen wies das Konzil mit Nachdruck darauf hin, dass die Kirche als "wanderndes Gottesvolk" die von Christus als Mittler gestiftete Glaubensgemeinschaft sei, die nicht aus "zwei verschiedenen Größen" besteht, sondern "eine einzige komplexe Wirklichkeit aus menschlichen und göttlichen Elementen" zusammengewachsen, ist. Hier liegt eine Wurzel vieler Missverständnisse unserer Zeit, auch in diesen Tagen: man nimmt die komplexe Wirklichkeit der Kirche, noch einmal sei es gesagt, zu wenig wahr.
Im Bereich der kirchlichen Erfahrung war für einen Großteil, innerhalb wie auch außerhalb der Kirche, die Erneuerung des Gottesdienstes, die Erneuerung der Liturgie, das Auffälligste. Manche Missverständnisse haben hier ihren Ursprung, weil die Pfarrgemeinden und zum Teil auch die Öffentlichkeit darauf zu wenig behutsam vorbereitet wurde. Die Stellung des Altares, die Hinwendung des Priesters zum Volk, die Muttersprache anstelle des Latein, die Teilnahme von Männern und Frauen am Wortgottesdienst, ohne selbst dem geistlichen Stand anzugehören, - all das schien vielen Ängstlichen ein Bruch mit der Tradition, ja, mit der Unversehrtheit des Glaubens selbst zu sein.
Solche Änderungen gab es aber im Laufe der Kirchengeschichte wiederholt: seien es Änderungen des Messritus, des Gebrauches der Heiligen Schrift im Gottesdienst, der Wechsel in der Kleidung des Priesters je nach Kulturkreisen und Lebensgewohnheiten, die Verschiedenheit der liturgischen Sprachen zwischen Ost und West. Daher ist es schwer verständlich, warum der französische Erzbischof Lefebvre im Konzil nicht nur einen Bruch in der Tradition, sondern auch in der kirchlichen Lehre selbst sah. Ich selbst hatte während des Konzils wiederholt mit ihm gesprochen und musste feststellen, dass er seine eigene Ansicht und Meinung für nicht korrigierbar hielt. Obwohl Erzbischof Lefebvre fast alle Konzilsdokumente mitunterzeichnet hat, urteilt er später unverständlich hart über den frommen und weisen Papst Paul VI. und sein Konzil - (Sie haben ihn enttront, 3. Aufl., 1988, S. 111), - ich zitiere wörtlich: "Ohne dieses Konzil als Ganzes zu verwerfen, glaube ich, dass es das größte Unglück dieses Jahrhunderts, ja, aller Jahrhunderte seit der Stiftung der Kirche ist". Die später erfolgte schismatische Trennung der Lefebvre-Bewegung war für Johannes Paul II. ein schwerer Schlag für sein Pontifikat. Aus diesem Grund hat er immer wieder, allerdings vergeblich, Wege der Aussöhnung gesucht.
Obwohl Lefebvres Ablehnung der Ökumene, des Dialoges mit getrennten christlichen Kirchen, wie auch dem Gespräch mit nichtchristlichen Religionen, sowie dem Thema der Religionsfreiheit galt, - steht bei den meisten im Vordergrund der Eindruck, es gehe nur um eine Geringschätzung der lateinischen Sprache im Gottesdienst. Das ist allerdings unrichtig. Das Konzil hat das Latein nie abgeschafft, sondern aus pastoralen Erwägungen die Muttersprache gestattet.
Vor einigen Wochen war ich im Grazer Dom beim Eröffnungsgottesdienst des Weltkongresses katholischer Journalisten. Der Vorsitzende der österreichischen Bischofskonferenz, Bischof Johann Weber von Graz, feierte mit Konzelebranten aus verschiedenen Teilen der Welt, im Anschluss an einen vielsprachigen Wortgottesdienst, die Eucharistiefeier in lateinischer Sprache. Es hat mich sehr bewegt, festzustellen, welche verbindende Funktion die lateinische Sprache auch heute noch beim Gottesdienst als Ausdruck der Weltkirche haben kann.
Welche Kraft vom letzten Konzil ausging, zeigte sich mir persönlich in jenem Schlüsselerlebnis, - ich meine damit die beiderseitige Aufhebung der Bannflüche zwischen Konstantinopel und Rom, die zum großen Abendländischen Schisma geführt hatten. Am 7. Dezember 1965 zelebrierte Papst Paul VI. den feierlichen Abschlussgottesdienst. In St. Peter befand sich damals auch ein Vertreter des Ökumenischen Patriarchen Athenagoras von Konstantinopel in seiner prachtvollen orientalischen liturgischen Kleidung. Am Schluss des Gottesdienstes wurde er von Paul VI. gebeten, zum Papstaltar hinaufzusteigen. Ich selbst gehörte zu der kleinen Gruppe, die am Papstaltar alles genau miterleben konnte, als der Papst nun der dicht gefüllten Kirche von St. Peter feierlich mitteilte: Zu dieser Stunde verkündet der Patriarch von Konstantinopel und verkünde ich jetzt als Inhaber des Petrusamtes, dass jene Bulle, die das Schisma von 1054 ausgelöst hat, welche die Kirche in eine abendländische und eine morgenländische getrennt hatte, dass diese Bulle und ihr Inhalt ab heute für nichtig erklärt werden.
Mit diesem Augenblick war der seinerzeitige Riss, der die Christenheit zum ersten Mal trennte, wenigstens rechtlich geheilt. Damals ging ein Brausen des Beifalls durch die ganze Kirche. Nachher sagte mir einer der Anwesenden, ein Professor der Kirchengeschichte an einer Universität: "Wissen Sie, mir sind die Tränen in den Augen gestanden während dieses Vorganges, denn mir wurde bewusst, - nicht als Kirchenhistoriker, sondern als Historiker allgemein, - welche Bedeutung dieser Moment für die gesamte geschichtliche Entwicklung der Welt hat".
Ich fasse zusammen: Ich habe versucht, Ihnen einen kurzen Einblick zu geben in die Geschichte und die Absichten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es genügt aber nicht, dass man über das Konzil spricht und darauf hinweist, sondern es geht darum, das Konzil im Leben der Kirche aufzunehmen und es zu verwirklichen. Dies ist ein langwieriger Prozess, der viel Geduld erfordert, der aber, wie ich aus Erfahrung weiß, in vielen Pfarrgemeinden bereits im Gange ist. Die Kirche lebt in den lebendigen Pfarrgemeinden. Weitgehend wird es daher von den Pfarrgemeinden, von den Menschen der Basis abhängen, wie weit das Konzil seine erneuernde Kraft auch ins nächste Jahrtausend einbringen kann.