Flucht aus dem Glauben
Das Konzil war für uns alle überraschend gekommen. In der Diskussion zwischen Ankündigung und Eröffnung des Konzils gab man der Meinung Ausdruck, der fundamentale Unterschied zwischen diesem Konzil und den vorangegangenen liege darin, dass frühere Konzile zur Abwehr und Verurteilung von Häresien einberufen wurden. Häresien hätte es, so sagte man, wohl früher einmal gegeben, aber heute - davon war man überzeugt - sei weit und breit von Häresien nichts zu sehen und zu merken. So sahen wir die Dinge noch vor wenigen Jahren. Heute würden wir mit solchen Überlegungen vorsichtiger sein. Ob wir nun das, was wir in der Kirche erleben, Häresien nennen - wir sind heute zurückhaltender geworden im Gebrauch von so starken Ausdrücken -, oder ob wir es Krise der Autorität, Anpassungsschwierigkeiten, heilsame Unruhe im positiven Sinne oder Verwirrung und Zerstörung im negativen Sinne nennen; wir sind jedenfalls mitten in einer Gärung. Diese Gärung erzeugt nicht nur Unruhe, sondern auch Unsicherheit und Verwirrung. Sie kann zu einer Flucht aus dem Glauben im Hause der Kirche führen, zur Flucht vor dem allgemein Notwendigen in das speziell Besondere, zur Flucht in kirchlich-religiöse Beschäftigungstherapie, zur Flucht in Strukturen und Konzepte, in Humanismus, Soziologie und Revolution. Solche und ähnliche Erscheinungen, die wir nicht leugnen können, lassen die einen mit leiser Wehmut von einem "Abschied von den Kirchen" sprechen, andere wieder frohlocken, weil sie meinen, dass die Kirche, die sich anmaßt, alle Zeiten zu überstehen, nun selbst aus dem schützenden Panzer gekrochen ist und damit ihre endgültige Vernichtung, ihre Auflösung nur mehr eine Frage der Zeit geworden sei (vgl. Jahrbuch IV des Club Voltaire).
Haben wir das alles dem Konzil zu verdanken? Ist das Konzil schuld an der gegenwärtigen Situation der Kirche? War das Konzil ein Irrtum oder Fehler, vielleicht eine Häresie der Kirche der Gegenwart? - Sollten wir nicht schleunigst umkehren und das Konzil samt seinen Beschlüssen annullieren? Zurückkehren zu den Methoden der Vergangenheit, das heißt, Häresien mit Feuer und Schwert ausrotten?
Demgegenüber kann man nur ein klares, lautes Nein sagen, wenn man die gegenwärtige Situation der Kirche analysiert - selbst wenn man in manchen Erscheinungen Fehlhaltungen und Fluchtpositionen feststellt. Das Konzil ist nicht schuld, denn das Konzil war notwendig, war überreif, seine Beschlüsse waren gut, wenn auch nicht immer vollständig. Auch Kirchenversammlungen sind ja nicht immer vollkommen. Nicht das, was das Konzil ausgelöst hat, war schlecht. Was zu einem Problem, zu einer Gefahr zu werden droht, sind nicht die Ansätze, auch nicht die Durchführungen der Konzilsbeschlüsse, sondern Übersteigerungen und einseitige Fixierungen. Was wir oben als Fluchthaltung erklärt haben - und später näher erklärt werden soll -, sind ja nur deswegen Fluchthaltungen, weil sie im Verfolgen richtiger und notwendiger Reformen sich zu weit vom Zentrum entfernt haben. Sie sind Fluchthaltungen, wenn sie statt des einen Notwendigen das viele Gute und Nützliche setzen, wenn sie nicht aus dem Zentrum des Glaubens erwachsen. Dieses Zentrum ist der persönliche Glaube, das eine Notwendige, das durch nichts ersetzt werden kann: der Glaube an Gott und an Jesus Christus, seinen Sohn, den menschgewordenen Gott und gottgewordenen Menschen, der Glaube an seine Auferstehung, an seine Kirche, mit ihren von Christus eingesetzten Sakramenten und der damit grundgelegten Ordnung, wie sie das rechte Selbstverständnis bezeugt.
Bei Lukas (10,40) wird die Maria- und Marthaszene berichtet: "Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mir allein die Bedienung überlässt? Sage ihr doch, sie solle mir helfen." Der Herr entgegnete ihr: "Martha, Martha, du sorgst und kümmerst dich um gar viele Dinge. Nur eines ist notwendig, Maria hat den besten Teil erwählt." - Heute würde man sagen, dieses an Martha gerichtete Wort ist ein hartes Wort und schwer zu verstehen. Ist denn das Dasitzen und Zuhören, das Gespräch mit Jesu - wir würden heute sagen, das innere Gespräch mit Gott - wichtiger als tätig zu sein für seine Mitmenschen, ihnen Heim und Nahrung zu bieten. Befinden wir uns nicht in einer ähnlichen Situation?
Wir glauben, das zu tun, was gut und notwendig ist und getan werden muss für Umwelt und Mitmenschen, aber fliehen wir nicht gerade dadurch vor dem einen Notwendigen?
Diese Flucht ist nicht Schuld des Konzils. Der Papst, der sich für die ganze Kirche verantwortlich weiß und den solche Erscheinungen härter treffen als uns alle, der sie als eine ungeheure Belastung spürt und dieser Belastung seinem Temperament entsprechend in immer stärker werdenden Worten der Sorge und Klage Ausdruck verleiht, ist ein Mann des Konzils. Und wenn es die Größe eines Mannes ausmacht, dem Neuen Bahn zu brechen, sich gleichzeitig aber auch jenen entgegenzustellen, die im stürmischen Übereifer das Errungene zu gefährden drohen, dann ist Paul VI. ein großer Mann und ein großer Papst. Denn in seinen wiederholten beschwörenden Ansprachen gegen befürchtete Zersetzungserscheinungen in der Kirche geht es ihm nicht darum, das Alte wiederherzustellen, es geht ihm nicht in erster Linie um Tradition und Autorität, es geht ihm um den Fortschritt in der Kirche auf dem Wege des Konzils, um Reform und Entfaltung. Das alles aber sieht er bedroht durch jene, die aus Reform eine permanente Revolution machen wollen, für die der Fortschritt zu einer Flucht wird, die aus der Entwicklung eine Auflösung machen. Nicht um den Bestand des Alten ist der Papst besorgt, sondern um den neuen Weg der Kirche. Nicht um die Vergangenheit in der Kirche geht es ihm, sondern um ihre Zukunft. Die Mitte, die wir zu verlieren drohen, liegt nicht hinter uns, sie liegt vor uns.
Bevor wir uns einzelnen Erscheinungen zuwenden, die zu Fluchtbewegungen aus dem Zentrum des Glaubens geworden sind - gerade durch jene, die das Beste wollten -, sei mir eine Vorbemerkung erlaubt: Es ist eine Überschätzung, der jede Zeit zu erliegen scheint, sich selbst für etwas Einmaliges, noch nie Dagewesenes, für die schlechthin entscheidende Wende in der Entwicklung der Welt und der Menschheit zu halten. Auch unsere Zeit tut das. Sie ist gewiss ebenso entscheidend wie jede Zeit vor und jede Zeit nach ihr. Das aber, was unsere Zeit wirklich zu einer besonderen werden lässt, was sie von den vergangenen Zeiten unterscheidet, ist eine Erscheinung, die man den demokratischen Multiplikationsfaktor nennen könnte.
Vieles, was uns heute als eine besondere Gefahr bewusst wird, hat es auch schon früher gegeben. Ich denke hier im profanen Bereich etwa an das Rauschgift, an die Sexualisierung. Aber es war immer das Problem einiger weniger. Zu einer Gefahr wurden diese Erscheinungen nur dadurch, dass sie heute die Massen zu ergreifen drohen. Auch in der Welt des Glaubens, im Bereich der Kirche hat es viele Erscheinungen, die uns heute so bedrohlich vorkommen, immer schon gegeben. Der Einfluss der Zeitströmung auf die Theologie, der Widerstreit theologischer Lehrmeinungen, die Kritik an gewissen äußeren Formen kirchlicher Strukturen, der Zweifel an Autoritäten, der Zweifel an manchen Lehrmeinungen der Kirche. Aber all diese Erscheinungen blieben stets auf einen bestimmten Kreis beschränkt. Das katholische Volk in seiner Gesamtheit blieb davon unberührt.
Heute gibt es keinen abgeschlossenen Bereich mehr, heute scheint alles zu interessieren. Die modernen Massenmedien sehen ihre Aufgabe darin, allen alles mitzuteilen, jedes Wort des Papstes ebenso wie die privaten Meinungen eines Theologen, die Heiratsabsichten eines Kaplans wie die großsprecherischen Resolutionen kleiner Gremien und Gruppen. Alles wird öffentlich verkündet, wenn es entsprechend interessant ist. Um es interessant zu machen, werden die Dinge nicht nur vergröbert, dem Verständnis der Massen vereinfachend angepasst, sondern auch durch Verschiebung von Akzentsetzungen sensationell aufgemacht. Und sensationell ist nun einmal nicht das Normale, das Natürliche, das Selbstverständliche, das Stille, das Unauffällige, sondern das Gegenteil davon: Das Abwegige, das Unnatürliche, das Widersprechende, das Laute und Selbstgefällige. Das führt dann dazu, dass alles, was Beachtung finden will, sich das bunte Kleid der Sensation umhängen muss. Wenn man die Reizschwelle des Interesses übersteigen will, muss man übertreiben, muss man überspitzt formulieren. Man muss vor allem gegen etwas sein: gegen die Tradition, gegen die Autorität, gegen die überkommene Lehre und die überkommene Moral. Das alles geschieht meist nicht aus bösem Willen, nicht aus der bloßen Lust des Zerstörens; das gehört zur gängigen Auffassung über die Aufgaben der Information, der sich auch die katholische Publizistik weitgehend bedient.
Und es sind nicht die schlechtesten Theologen, die zu Journalisten werden, weil sie meinen, nur dann ihre Ansichten "gut verkaufen" zu können, wie es im publizistischen Jargon heißt. Natürlich sollten wir das alles nicht nur beklagen. Das öffentliche Interesse an der Kirche ist gut, ist zunächst besser als jene absolute Gleichgültigkeit, die meint, das was die Kirche und ihr Glaube anzubieten vermögen, wäre weder richtig noch falsch, es wäre bloß uninteressant. Das Interesse an der Kirche zu begrüßen heißt aber nicht, jede Erscheinungsform dieses Interesses zu akzeptieren.
Dass die Massenmedien bei ihrer Auswahl und bei ihren Kommentaren von einer zum Teil ganz veralteten und überholten Kirche ausgehen, ist nicht ihre Schuld allein. Es beweist nur, wie wenig es bisher der Kirche und den Katholiken gelungen ist, ihr neues Selbstverständnis allgemein bekanntzumachen. So kommt es, dass die Massenmedien, vor allem Presse, Rundfunk und Fernsehen, zeitgenössische Erscheinungen im Leben der Kirche an einem Kirchenbild der Kirche des 19. Jahrhunderts messen. Für sie ist - oder zumindest tun sie so - die Kirche noch immer der monolithische Block, der sie zwar in der Vergangenheit auch nicht war, in dem sie sich aber selbst gerne sah. Spannungen der Kirche, die es ebenfalls immer gegeben hat, werden daher von den Massenmedien so dargestellt, als wären sie Verfallserscheinungen. Da die Medien gewohnt sind, die Welt rein politisch zu betrachten, sehen sie auch in der Kirche Blöcke, die sie mit links und rechts, progressiv und konservativ bezeichnen. Die Katholiken selbst übernehmen meist ungeprüft solche Terminologien. Da sie, die Massenmedien, die Kirche nur nach ihren äußeren Erscheinungsformen beurteilen - auch das ist nicht ihre Schuld allein -, sehen sie in der Veränderung mancher äußerer Form eine Veränderung der Kirche selbst. Das Verabschieden zeitbedingter Erscheinungsformen wird für sie zum Abschied von der Kirche überhaupt, ja zum Ende der Kirche. Auch hier tun es ihnen viele Katholiken gleich, was ja nicht zu verwundern ist, denn wir alle sind Kinder unserer Zeit und denken in den Begriffen unserer Zeit. Auch viele Katholiken meinen daher, alles Unheil in der Kirche komme von veralteten Strukturen und alles Heil liege in der Veränderung dieser Strukturen.
Nun heißt leben, sich ständig verändern, heißt ständig Abschied nehmen von vertrauten Lebensformen. In diesem Sinne gibt es immer einen Abschied von der Kirche, das heißt von manchen äußeren Formen der kirchlichen Repräsentanz. Die Kirche des 19. Jahrhunderts ist nicht unsere Kirche, und unsere Kirche wird nicht die Kirche des zweiten Jahrtausends sein, sofern wir ihr äußeres Kleid betrachten. Strukturen und äußere Formen, das Kleid der Kirche wird sich ändern und muss sich ändern. Durch Reden allein wird es allerdings wieder zu keinen Veränderungen kommen.
Noch niemals wurde in der Kirche so viel geredet und geschrieben wie heute. Alles wird diskutiert, alles in Frage gestellt. Es gibt keine fraglose Autorität mehr und kein unberührbares Tabu. Es ist, als ob sich eine allzu lang aufgestaute Flut, eine wahre Redeflut über die Kirche ergossen habe. Die Gefahr, der wir uns heute gegenübersehen, liegt vielleicht weniger in den Zerstörungen, die solche freigewordene Fluten anrichten können, als in dem, was sie zurücklassen, wenn sie verströmt sind: Brachwasser, fauligen Schlamm. Das erste kritische Wort auf einem Katholikentag, auf einer Synode in der katholischen Presse war vielleicht eine mutige, eine befreiende Tat. Heute wirkt selbst die gewollte, die bewusste Provokation nicht mehr sensationell. Nichts ermüdet die Menschen rascher, als sich dauernd Reden anzuhören. Vielleicht ist es an der Zeit, das Wasser wieder zu stauen - nicht so lange, bis die Dämme wieder brechen, sondern damit sie wieder Kraft gewinnen, die sich in Energie umsetzen kann. Das geschieht dann, wenn sie einen geordneten Abfluss bekommen. Heute aber hat es Anschein, dass wir alle zu viel reden und zu viel schreiben. Wir denken zu wenig und wir tun zu wenig. Vor allem aber beten wir zu wenig. Beten heißt gewiss nicht, einige Formeln auswendig zu lernen und sie mechanisch, laut oder leise vor sich hin zu sprechen. Beten heißt: sich immer wieder offen halten für Gott. Aber für viele ist der Hinweis auf das persönliche Gebet heute schon Pietismus, religiöser Egoismus, Frömmigkeitsstil des 19. Jahrhunderts - vergangen, vorbei. Unsere Zeit ist theologisch-dialogisch angelegt. Unsere Form ist das mitmenschliche Gespräch. Dabei vergessen wir, dass jeder Dialog, jedes menschliche Gespräch bereits vorgebildet ist im Gespräch mit Gott. Beten heißt ja nichts anderes als mit Gott sprechen. Ich kann mit meinem Bruder reden, weil ich mit Gott reden kann. Ich muss mit meinem Bruder reden, weil Gott auch mit mir spricht. Das Du zum Mitmenschen ist geborgen und erhöht in dem Du, in dem ich zu Gott rede. Mit Gott reden aber kann ich nicht nur deklamatorisch im Massengebet und Gebet der Gemeinde, sondern auch und nicht zuletzt: allein. Der Glaube hat nicht nur eine soziale Dimension, die wir lange vergessen haben. Er ist in erster Linie das innerste persönlichste Verhältnis zwischen Mensch und Gott, was wir manchmal zu vergessen scheinen. Ein Rückbesinnen auf diesen Kern des Glaubens bedeutet nicht eine Verleugnung dessen, was wir mit der Erneuerung der Kirche anstreben. Im Gegenteil: Um die Erneuerung der Kirche zu sichern, müssen wir dafür sorgen, dass diese Erneuerung nicht die Verbindung mit dem Kern verliert, dass sie nur wirksam werden kann, wenn wir sie immer und jederzeit zurückbinden an den persönlichen Glauben des einzelnen Menschen. Dann wird sie Erneuerung bleiben und nicht zur Flucht werden.
Die Kirche besteht aus Menschen, und diese Menschen denken in Formen und Kategorien ihrer Zeit. Die Kirche wird daher stets an ihrem Leib auch die Irrtümer ihrer Zeit verspüren. Der verheißene Beistand des Heiligen Geistes bedeutet ja nicht, dass die Glieder der Kirche vor jedem Irrtum gefeit sind, sondern dass die Kirche in ihrer Gesamtheit aus ihren zeitlichen Wegen und Irrwegen immer herausfinden wird zur Wahrheit, zum Glauben, zur Hoffnung und zur Liebe. Jeder Weg kann zum Irrweg werden, wenn er sich verabsolutiert. Der Weg unserer Zeit heißt Rationalismus, Empirismus, Kritizismus, Demokratismus. Es wäre unsinnig, den Geist der Zeit, der sich in diesen Wegen kundtut, zu verbannen. Aber ebenso verhängnisvoll wäre es, die Zeitbedingtheit dieses Zeitgeistes nicht zu sehen und damit auch seine Grenzen nicht zu erkennen. Verhängnisvoll wäre es, ihn dort zu akzeptieren, wo er, sich überschlagend, diese Grenzen übersteigt.
Das gilt auch in der Kirche. Der Rationalismus ist in der technischen Welt notwendig. Ohne Rationalismus, ohne Empirismus gibt es keinen technischen Fortschritt. Die Vernunft hat Gott uns gegeben, damit wir sie gebrauchen, auch in der Religion. Was im Bereich des Religiösen mit Vernunft erklärt werden kann, soll erklärt werden. Was entmythologisiert werden muss, soll man entmythologisieren. Gegen sich selbst aber kehrt sich die Vernunft, wenn sie meint, im Bereich des Religiösen lasse sich alles logisch und vernünftig klären, stehe dem Verstand alles restlos offen. Zum Kern einer jeden Religion gehört das Geheimnis, das der Vernunft nicht restlos zugänglich ist. Eine Religion, die kein Geheimnis, kein Mysterium mehr kennt, ist keine Religion. Vielleicht ist sie eine soziale Ethik. Das soll Religion auch sein, aber wenn sie nicht mehr ist als dies, wird sie vielleicht für viele Fragen eine Antwort wissen, nicht aber auf die letzte entscheidende, die eine persönliche Frage ist: Woher komme ich, wohin gehe ich, wozu bin ich in der Welt? Diese Frage stellt der einzelne Mensch. Er will für sich eine Antwort.
Der Mensch ist sicherlich ein soziales Wesen. Das spüren wir heute stärker als früher. Wir spüren heute stärker als früher die Folgen eines Egoismus in Gesellschaft und Wirtschaft, eines Egoismus der Stände, der Klassen, der Völker und Rassen. Es gibt auch einen religiösen Egoismus, der nur an sein eigenes Heil denkt, der nur seine eigene Seele retten will, sonst aber blind und taub ist gegenüber der leiblichen und seelischen Not seiner Mitmenschen.
Die soziale Funktion der Religion sehen wir heute deutlicher als früher. Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber er ist nicht nur ein soziales Wesen. Der Mensch ist seiner Anlage nach nicht eindimensional, sondern er lebt in Gegensätzen, er ist dialektisch angelegt, er lebt in der Spannung. Wo die Spannung fehlt, erlischt das Leben. So ist er auch nicht bloß ein rein soziales Wesen. In dieser Hinsicht sind Termiten und Bienen besser durchorganisiert. Es ist ein alter Traum der Menschen, auch einen ebenso funktionierenden Staat wie den der Ameisen zu bauen, den neuen Menschen zu züchten, der nur mehr in sozialen Funktionen lebt. Bis jetzt ist jeder solcher Versuch misslungen. Der Mensch ist zwar ein leicht manipulierbares, aber doch nicht restlos umformbares Wesen. Ein Rest bleibt immer, eine Frage bleibt immer. Solange man dem Menschen nicht das Fragen abgewöhnen kann, wird er Mensch bleiben und nicht eine austauschbare Nummer. Er wird daher immer die Frage nach seiner Herkunft, nach seinem Ziel und nach dem Sinn seines Daseins stellen. Und er wird sich nicht abspeisen lassen mit dem Hinweis auf die Ewigkeit der Materie: Du bist nichts, die Materie ist alles; auf die Ewigkeit von Völkern, Rassen und Klassen: Du bist nichts, dein Volk, deine Rasse, deine Klasse ist alles. Der Mensch will nicht Nichts sein, nicht nur eine Nummer, ein Baustein, eine Funktion. Er will eine Person sein, er will auf seine persönlichen Fragen eine persönliche Antwort. Er fühlt sich als einmaliges, nicht wiederholbares und nicht austauschbares Wesen. Er will Antwort von einer Instanz, die ihn als Person wertet. Diese Antwort kann ihm nur die Religion geben: nicht in mathematischen Formeln, nicht in philosophischen Lehrsätzen, nicht in wissenschaftlichen Definitionen, sondern in Bildern und Gleichnissen, im Mythos, in der Offenbarung. Daher wird man zwar immer wieder bestimmte historische Glaubensformen zersetzen und auflösen können, den Glauben selbst aber wird man niemals zerstören können. Religionen können in ihrer historischen Gestalt mit der Zeit absterben, die Religion selbst aber ist unzerstörbar.
Das zu sagen scheint notwendig, da es manche gibt, die meinen, das Christentum retten zu können, wenn sie es seines religiösen Kerns entkleiden. Sie wollen ein religionsloses Christentum, ein geheimnisloses, entmythologisiertes, weltimmanentes Christentum schaffen, weil sie fürchten, dass der religiöse Glaube ein geschichtliches Phänomen sei, das mit der Zeit abstirbt. Weil sie meinen, das Christentum, an dem sie nach wie vor hängen, hätte nur eine Chance zu leben, wenn es sich von allem Mythologischen, Transzendenten, von allem Religiösen reinige.
Also, auch hier Flucht aus dem Glauben, nicht aus Hass, nicht aus Missvergnügen, nicht aus Desinteresse, ja nicht einmal aus Unglauben, sondern im Gegenteil: aus der irrigen Meinung heraus, den christlichen Glauben, das Christentum retten zu können, wenn man erklärt, es sei überhaupt keine Religion. Der Atheismus ist nicht die Ursache dieser Flucht aus dem Glauben, aber er könnte ihre Folge sein.
Man muss allerdings in diesem Zusammenhang die Frage stellen, was der Glaube heute ist, wie er sich selbst dem Glaubenden darstellt. Unser Glaube ist heute nicht triumphalisch, sieghaft, vielleicht auch kein strahlendes Zeugnis unerschütterlicher Gewissheit, sondern er gleicht mehr dem Glauben jenes Mannes bei Markus (9,23), der angesichts seiner Heilung ausrief: "Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!" Für nicht wenige ist heute der Glaube in erster Linie - glauben wollen. Seine Beweiskraft schöpfen sie mehr aus dem Herzen als aus dem Verstand. Mit logischen Gottesbeweisen kommen sie nicht ans Ziel.
Aber um den Glauben kann, muss man auch beten, so widersprechend dies für manche scheinen mag. Glauben bedeutet für viele Menschen, heute nicht ein Wandeln auf lichten Höhen, sondern ein Stolpern und Tappen durch die Nacht der Finsternis, der Leere, des Zweifels und der Gottesferne. Sie wird nur erhellt von der zarten Flamme der Hoffnung und des Vertrauens auf Gottes Wort, das die Zweifel zwar nicht auslöschen kann, aber am Zweifel selbst zweifeln lässt. Glauben war niemals leicht, das lehrt uns ein Blick in die Lebensgeschichte der Heiligen. Dieser Glaube kann daher nicht ein überheblicher, besserwissender, exklusiver Glaube sein, sondern ein bescheidener, hilfsbedürftiger, dankbarer, stets anfälliger, aber doch immer wieder hoffender Glaube. Es ist ein hilfsbedürftiger Glaube. Wir können ihm helfen, wenn wir bei der Erneuerung der Liturgie den Gottesdienst verständnisvoller, vollziehbarer machen. Wir können ihn stören, wenn wir mit täglich neuen Experimenten den Kultus aushöhlen. Mit der Zerstörung des Kultus beginnt auch die Zerstörung der Religion. Wir können den Glauben durch wissenschaftliche Untersuchung stärken, wenn wir zeigen, was an ihm der ewige Kern und was zeitbedingte Hülle ist. Wir können ihn stören und zerstören, wenn die nicht seriöse Soziologie, die Gnosis unserer Zeit, ihn begrifflich überwuchert, wenn man glaubt, die Soll-Ordnung mit Formen aus der faktischen Seins-Ordnung ad absurdum führen zu können. Wir können den Glauben stärken, wenn wir seine Erscheinungsformen rational durchleuchten und dem Verstande zugänglich machen, was zugänglich zu machen ist. Wir können ihn stören, zerstören, wenn wir meinen, jedes Geheimnis, jeden Mythos aus der Religion hinausinterpretieren zu müssen. Die Theologie ist eine Wissenschaft, die Religion ist mehr als das. Eine Religion, die jeder wissenschaftlichen Prüfung standhielte, wäre wohl keine Religion mehr. Was dem Verstand restlos klar ist, braucht keine Offenbarung.
Wir können diesen Glauben stärken, wenn wir auf seine soziale Verpflichtung hinweisen. Wir würden ihn aber stören und zerstören, wenn wir meinten, er könne sich nur im sozialen Engagement äußern. Soziales Engagement ist kein Religionsersatz. Die Anpassung an die Welt kann die Hinwendung zu Gott nicht ersetzen. Die soziale Funktion ist nicht die einzige Funktion des Glaubens. Wir können diesem Glauben gewiss auch helfen durch eine kritische Einstellung, auch durch eine kritische Haltung gegenüber den echten und angemaßten Autoritäten in der Kirche. Jede menschliche Autorität muss immer wieder überfragt werden und mit der einzigen und höchsten Autorität, der göttlichen Autorität, konfrontiert werden. Wir würden aber diesen Glauben stören und zerstören, wenn wir die Meinung unwidersprochen ließen, in der Kirche dürfe es überhaupt keine Autorität geben. Selbst Ökumenismus, das Streben nach Einheit im Glauben und in der Kirche, kann zu einer Gefahr, zu einer Flucht vor dem Glauben werden, wenn er zur Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, zur Relativierung oder auch zu einer Flucht in einen bloß organisatorischen Aktivismus wird. Auch durch die Änderung kirchlicher Strukturen, ihrer Anpassung an die Notwendigkeiten unserer Zeit kann der Glaube gestärkt werden. Aber in der Änderung kirchlicher Strukturen allein liegt nicht die Zukunft des Glaubens. Auch das eifrige Suchen nach neuen Strukturen kann zu einer Art Beschäftigungstherapie werden, zu einer bloßen Fassadenerneuerung, wenn hinter ihr nicht der Glaube als letzte persönliche Entscheidung des einzelnen steht. Alles, was diesen persönlichen Glauben des einzelnen stützt, kann für die Gesamtheit der Gläubigen, kann auch für die Kirche zum Heile werden. Was ihn aber gefährdet, was ihn stört, wird zur Gefahr. Die Kirche ist nicht dazu da, einen neuen Humanismus zu predigen. Sie ist letztlich keine Schatzkammer menschlicher Kultur, kein Hort bürgerlicher Ordnung und keine Anstalt zur Vorbereitung der sozialen Revolution. Zu all dem braucht man die Kirche nicht, wenn man sie auch immer dazu missbrauchen will. Die Kirche ist aber dazu da, um den Glauben an Gott, den allmächtigen Schöpfer, an seinen Sohn Jesus Christus, unseren Heiland und Erlöser, der seine Kirche gegründet hat, zu lehren und weiterzugeben, die Sakramente, die Christus eingesetzt hat, zu bewahren und zu hüten, die Sakramente als die äußere Form der Geheimnisse der Religion, der Geheimnisse des Glaubens, zu wahren.
Dieser Glaube aber ist immer eine persönliche Entscheidung des einzelnen. Damit soll die Bedeutung der Glaubensgemeinde, der liturgischen Gemeinschaft als Hilfe und Stütze der persönlichen Entscheidung nicht gering geschätzt werden. Ja, sie wird in vielen Fällen sogar eine entscheidende Rolle spielen. Alles, was wir in der Kirche an Neuem wollen, kann nur wirksam werden, wenn wir es rückbinden an diesen persönlichen Glauben; dem Gebot "Liebe deinen Nächsten" ist das Gebot "Liebe Gott" vorangestellt. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Ein Glaube, der sich nicht manifestiert in der Welt, ist ein toter Glaube. Manifestation aber ohne Glaube ist Schall und Rauch, ist letztlich ein Zeichen der Flucht aus dem Glauben.