Psychotherapie und Religion
Psychotherapie und Religion haben beide mit dem seelischen Bereich des Menschen zu tun. Ein solches Nahverhältnis kann leicht zu Spannungen oder auch größeren Missverständnissen führen. Beide, Psychotherapie und Religion, wollen sich mit dem ganzen Menschen beschäftigen und stellen ihn in die Mitte ihrer Aufmerksamkeit und Tätigkeit. Beide wollen sich mit dem ganzen Menschen und nicht nur mit Teilaspekten desselben beschäftigen. Hier ist unser Problem, hier liegt aber auch unsere Chance. Unser Problem sind die vielen möglichen Missverständnisse, Spannungen und möglicherweise Antipathien. Hier liegt aber auch eine große Chance: Von Ihrem Kongress könnten Anregungen ausgehen, um in beiderseitigem Interesse, das heißt, im Interesse des Menschen selber, über den gesunden und den kranken Menschen miteinander zu sprechen, ohne die Grenzen zu verwischen.
Zu einem Thema "Religion und Psychotherapie" aus meiner Sicht Stellung zu nehmen, ist daher sehr schwierig und ich kann mich nur auf einige Feststellungen beschränken.
Psychoanalyse und Psychotherapie führten mit Sigmund Freud zu einer epochalen Revolution des Menschenbildes; ein bisher unbekanntes Tor zur tieferen Selbsterkenntnis des Menschen wurde aufgestoßen. Dies geschah in einer zeitgeschichtlichen Verbindung mit dem positivistischen Wissenschaftsbegriff von damals. Der Einfluss der Naturwissenschaften, des Empirismus, verbanden sich mit einer damals skeptischen oder negativen Einstellung gegenüber der sogenannten "religiösen Frage". Für Sigmund Freud um und nach der Jahrhundertwende war daher "Religion" eine "allgemeine menschliche Zwangsneurose" (Gesamte Werke, XIV, 367), das heißt, die Beschäftigung mit der religiösen Frage gehört nicht notwendig zum Menschsein dazu, gehört nicht in das Bild des seelisch gesunden Menschen.
Heute hat sich diesbezüglich vieles geändert. Wir leben in einer Zeit von Rastlosigkeit, Verwirrung und weltanschaulicher Desorientierung eines kulturellen und religiösen Pluralismus. Heute stellt sich, anders als zur Zeit Freuds, die Frage, ob eine gelebte Religion, eine gelebte Religiosität, auch wesentlich in das Gesamtbild eines seelisch gesunden Menschen gehört? Ob Religion, die fallweise Auseinandersetzung damit, jeden Menschen angeht oder nur Spezialisten, das ist nicht eine Frage der Religionsphilosophie, des religiös-Seins oder des nicht-religiös-Seins, sondern eine Frage nach dem Wesensbild des Menschen.
In einem Tagungsbericht der psychiatrischen Universitätsklinik in Basel, vorgelegt vom seinerzeitigen Klinikchef, Prof. Pöldinger (Aspekte menschlichen Befindens und Verhaltens, 1987, 89ff) heißt es, dass der Tübinger Theologe Küng in einem Vortrag zum Phänomen der Religion im Bereiche der Psychiatrie zur Feststellung gekommen sei: Anhand der großen Handbücher und Enzyklopädien sowie der Fachliteratur im psychiatrischen Forschungs- und Arbeitsgebiet der letzten Zeit ergäbe die Feststellung, dass das Thema Religion dort wenig Beachtung fände; das Thema würde eher im Sinne der Psychotherapie "verdrängt", was dem Stande der Beschäftigung mit religiösen Fragen in der Gegenwart nicht entspreche.
Ohne auf eine solche Feststellung näher einzugehen, würde ich aus meiner Sicht hinzufügen: Die vorherrschende Beschäftigung mit kranken Formen religiösen Lebens kann auch bei Psychotherapeuten zu Abwehrreaktionen führen. Ein summarisches Wissen um Missbrauch der Religion in der Geschichte durch Fanatismus, Intoleranz, bis zu den Religionskriegen, - ja, Zaubersprüche, Dämonenverehrung, Hexenfurcht mit merkwürdigen Praktiken, um Unheil abzuwehren, - das alles aber macht es schwierig, krankhafte und gesunde Formen des religiösen Phänomens im menschlichen Leben auseinanderzuhalten.
Allzu leicht ergeben sich Mischformen, wie Angst, Zwangsvorstellungen, falsche Schuldgefühle, Rechthabereien, usw. - Aber bereits der Ausdruck "krankhaft" weist nach unserem Sprachgebrauch auf die andere Seite des Normalen und Gesunden hin. Denn alle diese irre geleiteten Ausdrucksformen religiösen Lebens sind zugleich auch Sehnsucht nach einer verlässlichen Antwort auf letzte Fragen des Menschseins und auf die Unsicherheiten des eigenen Lebens.
Lassen Sie mich dazu einige Erläuterungen anführen:
1. Ich möchte einen Schritt weitergehen und die Meinung eines bekannten Psychiaters und Psychotherapeuten selbst erfragen. Ich beziehe mich auf einen Vortrag C.G. Jungs, den er seinerzeit, das heißt, vor einigen Jahrzehnten, in Strasbourg zum Thema "Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge" gehalten hat, ich zitiere hier:
"Seit dreißig Jahren habe ich eine Klientel aus allen Kulturländern der Erde. Viele Hunderte von Patienten sind durch meine Hände gegangen: Es waren in der Großzahl Protestanten, in der Minderzahl Juden, und nicht mehr als 5 bis 6 praktizierende Katholiken. Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte - das heißt, jenseits fünfunddreißig - ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben; und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat."
So weit der Bericht C.G. Jungs, des Zeitgenossen Freuds und Begründers der Tiefenpsychologie, der aus einer mehr allgemein menschlichen Erfahrung besagen wollte, wie weit die religiöse Frage durchschnittliche Menschen beschäftigt.
An einer anderen Stelle (S. 19) fügt er dann noch hinzu: "Unter meiner internationalen Klientel, die ausnahmslos den gebildeten Kreisen entstammt, habe ich eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Fällen, die mich aufgesucht haben, nicht etwa, weil sie an einer Neurose litten, sondern weil sie in ihrem Leben keinen Sinn fanden oder weil sie sich mit Problemen quälten, für die sie keine Antwort fanden."
Dass es sich in einem solchen Falle nicht nur um ein religiöses, sondern auch um ein menschliches Defizit handelt, zeigt uns ein anderes Beispiel. F.W. Nietzsche war ausgezogen, um Gott zu töten und den Menschen an seine Stelle, an die Stelle Gottes, zu setzen. Er, der seine Hände beschwörend gegen Gott erhoben hatte, der es aufgegeben hatte, Gott zu suchen oder zu beten, er bekennt seine menschliche Einsamkeit. Ich zitiere einige Sätze aus seiner "Fröhlichen Wissenschaft", Aph. 285:
"Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen. Du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben, um deine Gedanken abzuschirren. Du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten. Du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Glut in seinem Herzen trägt. Es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr. Es gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe zu dem, was dir geschehen wird; deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat. Du wehrst dich gegen irgendeinen letzten Frieden, - Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft".
So weit das Bekenntnis Nietzsches.
Und F. Dostojewski stellt in seinem Großinquisitor fest:
"Was soll man denn viele Worte machen? Man kann ja gar nicht Mensch sein, ohne sich vor irgendetwas beugen zu müssen. Ein solcher Mensch, der sich nicht selbst beugen kann, kann sich selber auch gar nicht ertragen; und es gibt auch gar keinen solchen Menschen."
Das alles sind beachtliche Feststellungen über die vielseitige und weitreichende Verbindung, die besteht zwischen dem Menschsein und der religiösen Frage in ihrer Vielfalt. Das heißt, wenn ich Religion nicht nur verdränge, sondern mit allen Mitteln bekämpfe, ergibt sich eine Form menschlichen Vakuums.
2. Wir besitzen heute eine Geschichte der Religionen, in der eine Fülle von Material gesammelt und ausgewertet wird. Was besagt eine vergleichende Religionsgeschichte mit ihren vielen Themen zur Frage des Menschen und seiner Religion? - So weit heute ein Fazit möglich ist, lautet es etwa, dass der Mensch immer um sein Heil besorgt war und sein Heil durch göttliche Mächte suchte, in deren Händen er sein Schicksal wusste. Bittend und betend, opfernd und sühnend, suchte er jene göttliche Macht jenseits seines Lebensbereiches. Er versuchte, die Gottheit gütig zu stimmen, sucht Schutz vor allen Gefahren und nicht zuletzt sucht er, diese Mächte sich selbst dienstbar zu machen und durchwandert damit alle Höhen und Tiefen menschlichen Ringens und Versagens.
Im Zwiespalt der guten und bösen, der grausamen und höheren Mächte war es schwer, für sich und die Seinen den rechten Weg zu finden. Masken und Skulpturen, versunkene Jahrhunderte, nicht selten mit den Zügen des Unheimlichen und Dämonischen, vermitteln eine Ahnung, mit welcher Zuversicht, aber auch mit welchen Ängsten, Stämme und Völker verschiedener Kulturen und Lebensstufen zu ringen hatten. Die Geschichte der Religionen umfaßt ja nicht nur das Positive, sondern auch das Negative, seine Fehlformen und krankhaften Erscheinungen, bis zum Menschenopfer an erzürnte Gottheiten.
Das Interesse an fremden Religionen hat in Europa seinen Ausgang genommen: Neue Disziplinen außerhalb der theologischen Fakultäten etablieren sich im westlichen Europa am Beginn unseres Jahrhunderts, wie: Religionsgeschichte, Religionsphilosophie, Religionsphänomenologie, Religionssoziologie und Religionspsychologie. Unter dem Einfluss der Aufklärung und des Rationalismus nahmen diese neuen Disziplinen eine kritische Haltung gegenüber dem Christentum insgesamt ein. In diese Zeit und in diese Umgebung gehört auch Freud mit einem neuen Menschenbild.
In den letzten Jahrzehnten ist die Religionswissenschaft angesichts eines immer umfassenderen religionsgeschichtlichen Materials und eines tieferen Eindringens in die Quellen und Ausdrucksformen religiösen Glaubens auch zu neuen Einsichten gelangt. Heute weiß man, dass Religion ein organisches Ganzes ist, in das man nur mühsam eindringen kann, um sich dort einigermaßen zurechtzufinden. Man kann nicht Teilaspekte herauslösen und sie mit anderen Religionen vergleichen, beziehungsweise durch psychische Mechanismen erklären.
Eine Religionssoziologie etwa hat die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die gesellschaftlichen Aspekte von Religion und Kultur bewusst gemacht. Religion hat ihren jeweiligen Sitz im Leben, und kann nicht wie ein Museumsstück betrachtet werden. Für frühere Generationen war es selbstverständlich, dass religiöser Glaube, dass Religion im Menschen wurzelt. Religion ohne Mensch ist etwas Totes, ist wie ein leeres Haus ohne Bewohner.
Hinterlassene Spuren müssen mit dem in Verbindung gebracht werden, von dem sie stammen und das ist der Mensch. Heute sagt man: Die Wissenschaft der Religion ist eine Wissenschaft des religiösen Menschen. Wenn daher die persönliche Erfahrung in der eigenen Religion fehlt, ist die große Fülle religionsgeschichtlichen oder religionswissenschaftlichen Wissens oft ein totes Wissen. In Verbindung mit persönlicher religiöser Erfahrung kann es zu einer großen Bereicherung werden. So vermittelt eine vergleichende Religionswissenschaft nicht nur eine tiefere Erkenntnis des Menschen in den verschiedenen Zeiten und Kulturen, sondern führt auch zum Staunen über den Reichtum von Bildern, Formen in den Religionen vergangener Zeiten, die in der Geschichte des Menschen, der Völker und Kulturen ihren Ausdruck gefunden haben oder finden.
Die Frage, was der Mensch ist, steht heute wieder neu vor uns und dies ist auch ein Ergebnis der allgemeinen Religionsgeschichte: worin besteht sein Lebensziel, sein Lebenssinn, seine Verantwortung; - dies wird so zu einem Hinweis auf das schwer Ergründbare der menschlichen Existenz. Das heißt, es ist ein Fazit dieser Wissenschaft: Abhängig zu sein von, auf dem Weg zu sein zu einer jenseitigen Macht (Gott oder göttliche Mächte) gehört zur Wurzel menschlichen Seins. Die Frage des Todes, die Frage nach dem Woher und Wohin, ist mit dem Menschen in allen Zonen und Zeiten verbunden, ist hineingeschrieben in die Vielfalt menschlicher Kulturen, umkleidet vom bunten Wechsel menschlicher Lebensformen. Sie begleitet den Menschen vom Anfang seiner Geschichte, so weit unsere heutige Kenntnis reicht.
3. Das Zweite Vatikanische Konzil, das durch seine Öffnung zur Welt von heute größere Beachtung gefunden hat, stellt in seinem Dokument über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen einleitend fest: "Alle Völker sind eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung. ... Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen am tiefsten bewegen - Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Welchen Sinn hat das Leid? Und was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, ... was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen? - So weit der Text des Konzils, Nostra aetate, 1.
Aus meiner Erfahrung füge ich hinzu: Sich der Frage zu verschließen, nach jenem unsagbaren Geheimnis, aus dem wir kommen und wohin wir gehen, bedeutet ein menschliches Vakuum zur Kenntnis zu nehmen, das heute als Rastlosigkeit, Nervosität, Verwirrung oder als weltanschauliche Desorientierung größten Ausmaßes bezeichnet wird.
Und damit stellt sich die Frage nach dem Sinn, dem Sinn des Lebens oder des Daseins. Erst der Verlust des Sinnes hat zu dieser Frage geführt. Heute gehört die Sinnfrage zu den häufigen Themen der Philosophie, der modernen Literatur sowie der Psychiatrie. Eine sinnorientierte Psychotherapie Viktor Frankls hat eine neue Richtung als Logotherapie begründet.
Die Frage nach dem Sinn des Daseins ist nicht ident mit der Frage nach Gott, wohl aber führt sie in diese Nähe. Der Fragende kann sich nicht aufmachen, um irgendeinen Sinn zu finden, sondern er muss in der Lage sein, den Sinn für sich selber zu finden.
Die Logotherapie, die sich an der Sinnfrage orientiert, geht wohl mit Recht von der Voraussetzung aus, dass der Mensch nicht nur durch den Trieb des "Müssens", nicht nur durch die Macht des "Wollens", sondern durch Sinnfindung und Sinngebung, also durch die Kraft des "Sollens" charakterisiert ist.
In welcher Weise die Frage nach dem Sinn auch zur religiösen Frage, zur Frage nach Gott führen kann, zeigt Viktor Frankl in seinem Buche "Der unbewusste Gott", (S. 47ff). Die Existenzanalyse des Menschen lasse innerhalb der "unbewussten Geistigkeit des Menschen" auch eine "unbewusste Religiosität" im Menschen erkennen. Damit verbinde sich eine oft "latent bleibende Beziehung zum Transzendentalen".
Und wenn Augustinus zur Zeit der Völkerwanderung in seinen "Bekenntnissen", in seinem Gottsuchen, bekennt: "Tibi loquitur cor meum", "Mein Herz sprach immer bereits mit dir" - so könnte man dies auch aus heutiger Sicht als eine unbewusste Gottverbundenheit des Menschen als solchen verstehen.
Überall dort, wo man die Frage nach dem unsagbaren Geheimnis des Menschen radikal ausklammert, taucht das Gespenst der "Sinnlosigkeit" menschlichen Lebens auf. - Und das wurde schließlich der Anstoß für Freud, jenes Tor zu öffnen, das zur großen Entdeckung des Unbewussten im Menschen geführt hat.
4. Die Beschäftigung mit existentiellen Fragen des Menschen, nach seiner religiösen Transzendenz, steht heute unerwartet und mit neuen Motiven vor der Tür. Die Frage nach dem Sinn, nach dem Weg, nach Transzendenz, klopft neu und stark an der Tür unserer säkularisierten, postchristlichen Welt. Das kulturelle Kleid des Menschen ändert sich, es wird heute vielfach durch die Medien bestimmt; aber der Mensch mit seinen Fragen aus existentieller Tiefe bleibt immer der gleiche.
In unserer sehr mobil gewordenen Welt stellt die Begegnung verschiedener Kulturen, die kulturelle und religiöse Pluralität, ganz neue Fragen: Das Ringen um den Frieden in unserer pluralen Welt, der religiöse Weg als Heilsfrage, die Wahrheitsfrage im interreligiösen Dialog - mit allem gegenseitigen Respekt - dies deutet wieder auf eine neuen Wende: Das heißt, Religion und Friede, Religion nicht nur als Wissen, sondern als Leben, Religion und die letzten Fragen menschlicher Existenz in Richtung Transzendenz und persönliches Heil wird in unserer europäischen Umwelt durch den religiösen Dialog auf eine neue Weise lebendig gemacht. Das begonnene Gespräch, der religiöse Dialog, der interreligiöse Dialog hat eine neue und weltweite Bedeutung gewonnen. Heute geht es nicht nur darum, eventuelle Spannungen und Gegensätze, Kämpfe in Verbindung mit Politik und Macht zu eliminieren, - ein neuer Gesichtspunkt ist aufgetaucht: Das Gespräch, der Dialog der Religionen kann in unserer unruhigen Welt dem Frieden neue Möglichkeiten eröffnen. Das Gespräch der Religionen im Sinne des Monotheismus beschränkt sich nicht nur auf Europa, sondern ist heute weltweit geworden.
Der interreligiöse Dialog dient einerseits der gegenseitigen Verständigung, andererseits dem Abbau von Missverständnissen, Vorurteilen und Spannungen. Ein solcher Dialog bedarf des Respektes gegenüber der religiösen Welt des Gesprächspartners, sowie der Aufrichtigkeit. Eine praktische Folge ist nicht eine Vermischung der Religionen, sondern vielmehr ein Ansporn, die eigene Religion besser und tiefer zu verstehen. Eine überraschende Ausweitung erfuhr der interreligiöse Dialog durch eine persönliche Einladung Johannes Pauls II., des Oberhauptes der katholischen Kirche an die großen Religionen der Welt zu einem Gebet für den Weltfrieden in Assisi. Damit sollte zum Ausdruck kommen, dass der Friede nicht nur eine Sache der Diskussion, der Konferenzen ist, sondern vor allem eine Sache der Gesinnungsreform des Herzens, die durch die Religion Ausdruck findet und im Gebet als Signal bewusst gemacht werden sollte. Auch das ist ein Weg zu einer vertieften Selbsterkenntnis, in Verbindung mit einem aufrichtigen und klugen Dialog. Dies ist zu verstehen als Appell an die vielen, die sich als Christen oder als Angehörige anderer Religionen der versöhnenden, friedensstiftenden Macht ihrer Religion bewusst sein sollen. Das hat wohl mit Psychiatrie nichts zu tun; es sollte aber als Hinweis verstanden werden, dass religiöse Kräfte - im Gegensatz zu unserer säkularisierten, postchristlichen Welt - heute neue Aufgaben vor sich haben und eine neue Bedeutung gewinnen.
Und schließlich noch ein abschließender Hinweis auf ein - für beide Seiten - schwieriges Kapitel: Nach Ansicht von Freud und Nietzsche gehört der in den drei monotheistischen, im Christentum besonders ausgeprägte Begriff von "Schuld und Sünde", inmitten eines Meeres von unverschuldetem Leid, zu den krankmachenden, den Menschen erniedrigenden Faktoren (nach Freud: "Triebschicksal"). Dazu kann man oft den Vorwurf, speziell gegenüber dem Christentum, hören, dass es die Frohe Botschaft dadurch zu einer verdüsterten Botschaft gemacht habe. Psychoanalyse und Psychotherapie hätten daher heute gerade in diesem Zusammenhang eine erlösende, heilende Aufgabe zu erfüllen. Dazu ist aus heutiger Sicht wiederum festzuhalten, dass sich auch in dieser Hinsicht manches geändert hat, dem sich die Psychotherapie auf die Dauer wohl schwer verschließen kann. Die allgemeine Religionswissenschaft - (ich verweise auf die drei großen Bände von Pettazzoni und das umfassende Werk von Ricoeur) - weist heute ebenso auf ein umfassendes Material hin, aus dem hervorgeht, dass Schuld und Sünde ein gesamtmenschliches Phänomen umschließt. In der großen Vielfalt von Mythen und Erzählungen finden sich bei allen Völkern und in allen Kulturen ausführliche Deutungsversuche über Ursprung und Heilung von Schuld und Sünde, sowohl in der Welt der Götter wie der Menschen.
Der Schuldbegriff in seiner kosmologischen, aber auch individuellen, Ich-süchtigen Verflochtenheit steht in einer geheimnisvollen Weise mit der unheilvollen Urangst menschlicher Existenz in Verbindung. Im Neuen Testament trägt Paulus viel dazu bei, dass der Begriff "Befreiung von der Angst vor den versklavenden Mächten", von einer Befreiung vom Tode zu einer Frohen Botschaft wird. Schuld und Sünde führen gerade im Christentum weiter zur Frage der Wiedergutmachung und der Vergebung. - In der Welt des christlichen Glaubens gewinnt mit dem Bewusstsein der Verantwortung in Freiheit das Gewissen als eine Zwischeninstanz eine immer größere Bedeutung.
Das Zweite Vatikanische Konzil stellt dazu fest:
"Das Gewissen ist die verborgene Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in ausgezeichneter Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen."
Soweit der Text des Konzils. Wenn aber die Seele krank ist, dann ist auch die orientierende Funktion des Gewissens beeinträchtigt. Die vielen Formen krankhaften Schuldbewusstseins stellen den Psychotherapeuten vor vielfältige und schwierige Aufgaben. Hier wird die unterschiedliche Sicht des Begriffes "Seele" deutlich. Für den Psychotherapeuten steht der psychische Mechanismus, den man kennen muss, im Vordergrund. Der Theologe in der Seelsorge kann die Seele immer nur in ihrer unvergänglichen Dimension, in der Welt des Glaubens und in Verbindung mit Gott sehen. Meine Frage ist nun: Sollten sich nicht hier, an diesem besonders kritischen Punkt, Psychotherapie und Religion begegnen, zusammenarbeiten, im Interesse des leidenden und unglücklichen Menschen, einen Dialog beginnen?
Beide, Psychotherapie und Religion, können viel voneinander lernen: die Religion von der Psychotherapie die vertiefte und erweiterte Kenntnis von den inneren Mechanismen und Lebensvorgängen; die Psychotherapie von der Religion die Grenzen menschlichen Könnens und Heilens. Es konnte hier nicht meine Aufgabe sein, über das Fachgebiet der Psychotherapie zu sprechen. Meine Aufgabe sollte es sein, auf die Bedeutung der Religion auch für den Arbeitsbereich der Psychotherapie aufmerksam zu machen. Denn Religion geht alle Menschen an, nicht nur Spezialisten. Das Phänomen der Religion gehört zum vernetzten Urgrund menschlicher Existenz; es geht um existentielle Antworten auf letzte Fragen, nach Sinn und Ziel des Weges.
Eine vertiefte, in die Tiefe führende Selbsterkenntnis stößt auf den nicht immer wahr genommenen Urgrund menschlichen Leides und menschlicher Sehnsucht. Aber die Seele des Menschen ist ein weites, schwer ergründbares Land, dessen Größe und Schönheit sich erst im religiösen Glauben ganz erschließt. Eine Klosterfrau aus dem 16. Jahrhundert, die spanische Karmelitin und spätere Kirchenlehrerin Teresa von Avila hat in einem ihrer Hauptwerke, der "Seelenburg", mit geradezu psychiatrischem Geschick die Wege und Umwege der menschlichen Seele auf ihrer Wanderung zu Gott beschrieben.
Ich zitiere wörtlich: "Ich finde nichts", so schreibt um das Jahr 1577, "mit dem sich die große Schönheit einer Seele, ihre Weite und ihre hohe Befähigung vergleichen ließe. Und wahrlich, unsere Einsicht und unser Verstand - so scharfsinnig sie sein mögen - reichen schwerlich aus, sie zu begreifen, genausowenig wie sie Gott sich auszudenken vermögen; denn er selbst sagt, dass er uns schuf nach seinem Bilde" (Teresa von Avila, Die innere Burg, erste Wohnung, Ausgabe 1966, S. 21).