Atheismus und Humanismus
Die Meinung, christlicher Glaube und Religiosität seinen im ständigen Rückgang begriffen, wird heute wieder infrage gestellt. Dabei übt die Gestalt Jesu in verschiedenen Kreisen der jungen Generation ohne Zweifel eine neue Faszination aus. Heute ist vor allem in der jungen Generation die Gegenüberstellung von Christentum und den nichtchristlichen Religionen von geringer Bedeutung. Das postchristliche Zeitalter, der praktische Atheismus, ist vordergründig weit verbreitet. Im Hintergrund aber ist eine neue, noch nicht deutlich artikulierte Religiosität im Begriffe, neue Positionen zu beziehen.
I.
Atheismus und Humanismus im gegenwärtigen Verständnis sind nicht nur philosophische oder weltanschauliche Systeme, sondern zugleich auch vielschichtige und vieldeutige Strömungen, die in unserer Zeit das eine gemeinsam zu haben scheinen, dass sie als eine Herausforderung des Christentums empfunden werden. Sie erheben schließlich den Anspruch, in einer postchristlichen Epoche anstelle des Christentums treten zu wollen.
Seit dem 19. Jahrhundert, seit ein Friedrich Nietzsche oder ein Jean Paul das Wort vom Tode Gottes in Umlauf gesetzt haben, scheint das Christentum durch die Herausforderung eines emotionalen Atheismus in Bedrängnis zu geraten. Schillernde und oft missverstandene Sätze etwa aus dem Antichrist Nietzsches oder aus seinem Also sprach Zarathustra wurden als Kampfansage gegen das Christentum, wenn nicht gegen jede Religion überhaupt verstanden. Wie zwiespältig diese Kampfansage von einem Nietzsche selber empfunden wurde, geht aus einem Passus seiner Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 125) hervor: "... Wir haben Gott getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht ... Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten, wohin bewegt sie sich nun, wohin bewegen wir uns? ... Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts, haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden, kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? - Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unserem Messer verblutet." - Es scheint in diesen Worten Nietzsches ein Ahnen mitzuschwingen, dass Religion, wie Max Scheler sich ausdrückte, "die wurzeltiefste aller Anlagen des menschlichen Geistes ist". - Nicht ohne Ergriffenheit lesen wir heute in derselben Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 285) von der Tragik eines in die Sinnlosigkeit hinausgeworfenen Menschen: "Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr in endlosem Vertrauen ausruhen - du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirmen. - Du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten ... Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft."
Aber das Wort vom Tode Gottes wirkt in unsere Gegenwart herein. Es ist ein viel variiertes Schlagwort unseres Jahrzehnts geworden. Man sagt, wir seien heute in der geistigen Entwicklung der Menschheit in eine Epoche eingetreten, in der sich die Überzeugung ausbreitet, dass immer mehr Menschen den Glauben an Gott verloren haben, und dass im Bereich der Gesellschaft der religiöse Einfluss stetig im Rückgang begriffen ist. Auf allen Gebieten des privaten und öffentlichen Lebens und Denkens würden aus der Tatsache der Nichtexistenz Gottes die letzten Konsequenzen gezogen.
Wenn ich von der westlichen Welt spreche, in der wir leben, so wollen wir doch auch die Oststaaten unter kommunistischer Führung in unsere Betrachtung einschließen. Der sogenannte Eiserne Vorhang kann eine geistige Verbindung und gegenseitige Beeinflussung nicht verhindern. Atheismus und Humanismus sind dort offizielle Staatsdoktrin und haben daher ein anderes Gepräge. Die Herausforderung des Christentums durch Atheismus und atheistischen Humanismus hat dort andere Akzente als bei uns. Denn dort wird der Atheismus von Staats wegen gefördert und scheint zunächst der überlegene Gegner des Christentums zu sein. Andererseits verliert er dadurch viel von seiner Überzeugungskraft. Dafür einige Beispiele: Aus der russischen Untergrundliteratur (samisdat) ist bekannt, dass im Verlauf des letzten Jahrzehnts die religiöse Literatur mit all ihren Gattungen hinsichtlich der Nachfrage auf dem schwarzen Markt an die erste Stelle gerückt ist. Ein anderes Beispiel: Der tschechische Autor Gardavsky bringt in seinem auch in deutscher Übersetzung erschienenen Buche Gott ist nicht ganz tot eine Auseinandersetzung mit dem Christentum: Von der Bibel angefangen über die großen Männer des abendländischen Geistes, wie Augustinus, Thomas von Aquin und Pascal. In einem Schlusskapitel, das sich mit der Sinnfrage des Lebens, mit Liebe und Hoffnung als Lebensmacht, auseinandersetzt, schließt er: "Trotzdem glauben wir nicht an Gott, obwohl das absurd ist." Das ist gleichzeitig der Schlusssatz des ganzen Buches. Ähnliches lässt sich vom Prager Philosophen Machovec berichten, dessen Dialog mit dem Christentum eher einen großen Respekt vor den Werten christlichen Lebens zum Ausdruck bringt.
Die Herausforderung des Christentums durch Atheismus und Humanismus hat im Westen und im Osten verschiedene Akzente: Interesselosigkeit für Gott im Westen, wachsendes Interesse bei der Jugend im offiziell atheistischen Osten. Bevor ich in einem dritten Teil das Christentum mit dem Atheismus konfrontiere, will ich versuchen, einige Wesensmerkmale der beiden Weltanschauungen festzuhalten.
II.
Die Wurzeln oder der geistesgeschichtliche Hintergrund des Atheismus sind ausschließlich in der sogenannten westlichen Welt zu suchen. In Indien zum Beispiel oder in anderen Teilen Asiens oder Afrikas können wir nichts feststellen, was zum Entstehen des Atheismus beigetragen hätte wie in der westlichen Welt. Im Allgemeinen kann man folgende geistesgeschichtliche Faktoren mit dem Werden des Atheismus in Zusammenhang bringen (es sind sich dabei die Fachleute sowohl auf evangelischer wie katholischer Seite mehr oder weniger einig):
a) das Zerbrechen der christlichen Einheit im 16. Jahrhundert - vielleicht müssen wir noch weiter zurückgehen und die Spaltung in eine östliche und westliche Kirche als den Anfang einer solchen Entwicklung betrachten, die den Keim des Zweifels in das christliche Erdreich gesenkt hat;
b) im 18. und 19. Jahrhundert sind es die Aufklärung und der Deismus (Gott und Welt sind voneinander getrennt und ohne inneren Bezug). Beide greifen die Fundamente einer übernatürlichen und gottmenschlichen Ordnung an und entziehen damit der Lehre von der Inkarnation die Grundlage;
c) im 19. Jahrhundert beginnt man, Gott offen den Kampf anzusagen und im Namen eines Nietzsches, Sartre und Marx aus der Welt des Menschen zu vertreiben.
A. Um das besser zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die verschiedenen Entwicklungsphasen atheistischen Denkens werfen. Wenn man im griechischen Altertum einem Sokrates, einem Platon und Aristoteles Atheismus vorgeworfen hat, so nur deshalb, weil sie sich gegen abergläubische Formen der offiziellen Religion wandten. Dasselbe gilt auch für die Christen in den ersten Jahrhunderten, die als Gegner der Staatsreligion mit dem Vorwurf des Atheismus bedacht wurden. Wenn ich mich gleich der Renaissance zuwende, so ist festzustellen, dass uns in dieser Periode noch kein authentischer Atheismus begegnet. Giordano Bruno etwa lehrt einen pantheistischen Naturalismus. Es findet sich zwar bei ihm schon der Gedanke, dass man dem Menschen und seiner Welt besser gerecht wird, wenn man die Existenz Gottes beiseite schiebt.
Zum ersten Mal begegnen wir einem Atheisten in der ursprünglichen Wortbedeutung bei den Philosophen Holbach, Helvetius sowie bei den französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts. Diderot führt das mechanistische Denken Spinozas zum reinen Materialismus. Nach ihm ist Gott aus der Welt auszuklammern, aus der Welt auszuschließen "wie eine schlechte und unbrauchbare Maschine".
Der Linkshegelianer Feuerbach hat atheistisches Denken klar und überzeugend formuliert: Nach ihm ist Theologie aufzulösen in Anthropologie, d. h. die Lehre von Gott zu ersetzen durch die Lehre vom Menschen. In seinem Buch Das Wesen des Christentums (1841) findet sich der bekannte Satz: "Mein erster Gedanke ist Gott gewesen, der zweite die Vernunft, der dritte und letzte der Mensch." Nach ihm ist die Leugnung Gottes die Voraussetzung, damit der Mensch ganz Mensch sein kann. Die französischen Existentialisten und der postulatorische Atheismus sind in diesem Satz bereits vorweggenommen.
Damit sind wir schon beim Atheismus unserer Gegenwart. Den oben genannten geistigen Wurzeln dieser Entwicklung können jetzt noch als begünstigende Faktoren zugezählt werden: das Entstehen des Laizismus und die antiklerikale Bewegung, vorwiegend in romanischen Ländern, wo man sich für eine absolute Trennung von Staat und Kirche einsetzt und jeden Einfluss der Religion auf das öffentliche Leben ablehnt. Ähnliches gilt vom Säkularismus (nicht Säkularisierung als geschichtlichem Vorgang), jener Geisteshaltung, durch die der Mensch seine Umwelt, sich selbst und sein Werk aus innerweltlichen Denkansätzen ausschließlich erklärt. Die kirchliche und religiöse Weltdeutung wird als Fremdbestimmung abgewiesen. Damit ist eine Absolutsetzung des Menschen verbunden, sei es aus einer optimistisch-prometheischen Weltsicht oder aus einer pessimistisch-nihilistischen Weltanschauung. Das heißt weiter, dass Gott für die Selbstverwirklichung des Menschen nicht notwendig ist, das heißt weiter, dass Gott ein Hindernis ist für den Menschen, der sich selbst verwirklichen kann und will. Gott hindert ihn daran, die volle Herrschaft über sich selbst und die Welt zu erlangen. Erst der Tod Gottes wird den Menschen die Möglichkeit geben, sich ganz und in seiner Fülle zu entfalten. Sartre lässt seinen Götz sagen: "Wenn Gott existiert, ist der Mensch nichts." (Simone de Beauvoir: "Der Mensch ist Schöpfer aller Werte, seine Befreiung ist das höchste und einzige Ziel, wenn der Mensch sich hingeben soll.")
Dabei darf jene atheistische Weltsicht nicht übergangen werden, die die Befreiung des Menschen vor allem von seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Befreiung erwartet.
Mit dem Wort Atheismus verbinden sich heute sehr verschiedene Vorstellungen. Wir gehen dabei von der Feststellung aus, dass als Atheismus im strengen Sinn nur der absolute Atheismus bezeichnet werden kann, weil er alles Göttliche leugnet und nur das Endliche und Diesseitige gelten lässt. Ein relativer Atheismus, z.B. der Pantheismus, leugnet Gott als eine von der Welt verschiedene Macht oder absolute Person.
Zwischen beiden Begriffen lässt sich keine scharfe Trennungslinie ziehen, weil es in einer gewissen Bandbreite Überschneidungen zwischen dem absoluten und relativen Atheismus gibt. (Von den spezifischen Problemen eines Atheismus in indischen Hochreligionen sehen wir in diesem Zusammenhang ab). Das Wort Atheismus umfasst also verschiedene Varianten und Formen. Die einen leugnen Gott ausdrücklich, andere sind der Auffassung, es sei dem Menschen nicht möglich, etwas über Gott auszusagen (Agnostizismus). Wieder andere überschreiten den Zuständigkeitsbereich der Erfahrungswissenschaften, indem sie darauf hinweisen, dass nur das erkennbar und aussagbar ist, was sich in wissenschaftlicher Forschung feststellen lässt. Wieder andere lehnen die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit ab und damit auch die Möglichkeit, verbindliche Aussagen über Gott machen zu können. Wieder andere ziehen daraus die Konsequenz und geben vor, an der Bejahung des Menschen mehr interessiert zu sein als an der Leugnung Gottes. Dabei wird die Bedeutung des Menschen so sehr unterstrichen, dass der Glaube an Gott keine Lebensmacht mehr bleibt (Kirche und Welt, Nr. 20).
Wieder andere gehen von einer Gottesvorstellung aus, die mit dem Gott des Evangeliums in keiner Weise übereinstimmt. Sie lehnen daher nur ihre persönliche Gottesvorstellung ab. Dies scheint in vielen Fällen zu gelten, nicht zuletzt für die große Masse der Indifferenten. Wenn der russische Mondfahrer Gagarin nach seiner Rückkehr erklärte, er sei Gott im Universum nicht begegnet, zeigt dies, dass der Gott des Kinderglaubens im späteren Leben keine Läuterung und Ergänzung erfahren hat. Viele stellen die Frage nach Gott nicht, weil sie keinen Anlass sehen, sich um Religion zu kümmern. Der Atheismus hat außerdem seine Wurzeln nicht selten im heftigen Protest gegen das Übel in der Welt. Man muss allerdings hinzufügen, dass die heutigen Lebensformen, die heutige Zivilisation - zwar nicht von ihrem Wesen her, aber durch die einseitige Betonung der irdischen Wirklichkeiten - den Zugang zu Gott erschweren.
Wenn wir versuchen, diese Vorstellungsvielfalt zu gruppieren, so kann man zwei Formenkreise unterscheiden. Der erste wird bestimmt durch die Virulenz ohne missionarische Absicht. Der philosophische Atheismus stützt sich auf Verstandesargumente und verteidigt damit seine Position. Der militante Atheismus bekämpft jede Religion als schädliche Verirrung und sieht das Glück des Menschen in der Befreiung davon. Der praktische Atheismus meint gänzliche Gleichgültigkeit der religiösen Frage gegenüber. Er ist nicht missionarisch, aber ansteckend.
Der zweite Formenkreis geht von der Rechtfertigung der atheistischen Weltanschauung aus. Das ergibt etwa vier Varianten: Da ist zunächst der intellektuelle oder kategorische Atheismus der Materialisten, Marxisten und Positivsten. Die Welt erklärt sich nach den wissenschaftlichen Gesetzen, so heißt es, von selber, und man braucht dazu keinen Gott. Gottesglaube und Religion gelten demnach nur für jene Bereiche, wo die wissenschaftliche Forschung noch nicht eingedrungen ist. Dem ist entgegenzuhalten, dass Gott wohl kein Bestandteil der Welt ist und darum in einem legitimen Weltbild der Einzelwissenschaften grundsätzlich nicht angetroffen werden kann. Denn diese Wissenschaften haben sich mit ihren verschiedenen Methoden nach den weltlichen Ursachen ihrer Gegenstände zu halten. Es wäre auch ein Fehler, für Tatbestände oder Ereignisse, deren Ursachen noch unbekannt sind, sofort Gott als Erklärungsfaktor herbeizuholen. In einem solchen Fall würde man Gott zum Lückenbüßer vorläufigen Nichtwissens degradieren. Die Sinnfrage des menschlichen Lebens kann allerdings durch die Wissenschaft nicht gelöst werden.
Anders argumentiert der emotionale oder apodiktische Atheismus (zweite Variante). Nach ihm kann es keinen Gottesglauben geben, weil das Übel und die Absurdität des Daseins einen allmächtigen und allgütigen Gott ausschließe. Der Hunger, das Leid, der Krieg, Bosheit, Brutalität und Katastrophen schließen aus, dass es einen allmächtigen und gütigen Gott gibt.
Wieder anders argumentiert der sogenannte postulatorische Atheismus (dritte Variante), der dem zuvor genannten emotionalen Atheismus verwandt ist. Nach ihm darf es keinen Gott geben, denn sonst müsste der gegenwärtige Zustand der Welt und der menschlichen Gesellschaft mit allen Missständen als Ausdruck des göttlichen Willens angesehen werden. Ein Vertreter dieser Auffassung ist Albert Camus, der zur Revolte gegen Gott aufrief in der Meinung "wer an Gott und die Hoffnung glaubt, hält die Weltübel für gottgewollt und erträgt sie gottergeben. Wir sind aber für das Wohlergehen aller Menschen mitverantwortlich und daher verpflichtet zum Kampf gegen Krankheit, Unwissenheit, Elend und Krieg".
Dazu kommt noch folgende Überlegung: Die Befreiung des Menschen in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht wird durch die Religion verhindert, weil sie die Hoffnung des Menschen auf ein künftiges und trügerisches Leben richtet und dadurch vom Aufbau der irdischen Gesellschaft abzieht. Diese Auffassung vertritt der marxistische Sozialismus, der den Atheismus für die Erziehung der Jugend und für das gesellschaftliche Leben verpflichtend macht.
Eine andere Form (vierte Variante) des Atheismus ergibt sich schließlich aus der Auffassung, dass wir von Gott nichts wissen und sagen können (Agnostizismus). Das ist so zu verstehen, wie die Neu-Positivisten es ausdrücken: "Wenn ich behaupte, Gott existiert, so widerspräche das den Regeln der Semantik und Syntax, denn der Satz sei weder verifizierbar noch falsifizierbar und müsse daher als sinnlos bezeichnet werden."
Die Meinung, dass von Gott nicht sinnvoll geredet werden könne, ist durch die sogenannte "Gott-ist-tot-Theologie" auch in christliche Kreise eingedrungen (William Hamilton, Paul van Buren, Thomas Altizer, Dorothee Sölle). Sie sind der Meinung, dass wir in einem nach-theistischen Zeitalter leben, und klammern die Frage nach Gott aus. Sie bekennen sich aber zu Jesus, weil er die Liebe zum Nächsten in vollendeter Weise praktiziert hat, sie rufen zu seiner Nachfolge auf, obwohl sie ihn nur für einen Menschen halten und nicht für Gottes Sohn.
B. Vom Humanismus eine Definition zu geben, die von allen angenommen wird, ist nicht möglich. Unter Humanismus ist nicht nur der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu verstehen, sondern ebenso eine grundsätzliche Haltung, derzufolge die Bildung des Geistes, die Entfaltung aller menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten, den Menschen zum Menschen macht. Das besondere Leitbild hierfür sieht man in der griechisch-römischen Antike.
In unserer heutigen Vorstellung vom Humanismus kommt zum Ausdruck, dass das menschliche Leben menschenwürdig gemacht werden soll, sodass der Mensch immer mehr Mensch werde, dass er seiner Würde und seiner Bestimmung entsprechend auf menschliche Weise sein Leben einrichten könne.
Wenn man diese allgemeinen Hinweise als gemeinsame Grundlage des Humanismus ansehen kann, so beginnt die Schwierigkeit sofort dort, wo man die Frage stellt: Welche sind die wesentlichen Bestandsmerkmale der menschlichen Natur; worin besteht des Menschen Berufung, seine Bestimmung, sein letztes Ziel, und welchen Sinn hat das Dasein in der Welt? Aus den voneinander abweichenden Antworten ergeben sich nicht nur verschiedene Auffassungen vom Humanismus, sondern man kommt auch zu entgegengesetzten und einander widersprechenden Humanismusvorstellungen.
Zwei Unterscheidungen scheinen mir für die Gegenwart wichtig zu sein. Man kann zunächst unterscheiden zwischen einem universalen und einem partiellen Humanismus, je nachdem, ob man nur einzelne Aspekte der menschlichen Natur oder den Gesamtkomplex des Menschseins in Betracht zieht. Zu letzteren gehört also auch die Erfahrung der menschlichen Grenzen, das Schuldgefühl, der Tod, die Unsicherheit, Hoffnung und Angst, die innere Rastlosigkeit, ein Getriebensein von großen Plänen, Wünschen und Enttäuschungen.
Ein zweiter wesentlicher Unterschied besteht zwischen geschlossenem und offenem Humanismus. Der geschlossene Humanismus leugnet die Möglichkeit der Transzendenz, d. h. ein Übersteigen des irdischen und menschlichen Erfahrungsbereiches jenseits des Materiellen. Im Gegensatz dazu steht der offene Humanismus, der geöffnet bleibt auch für die transzendentalen, für die religiösen Werte. Er anerkennt die relative Autonomie des Menschen, bleibt aufgeschlossen für kulturelle und geistige Werte, für technischen Fortschritt, ohne aber eine letzte Hinordnung auf einen Schöpfergott zu leugnen. Mit anderen Worten: der geschlossene Humanismus spricht dem Menschen eine absolute Autonomie zu, der offene eine relative. Der offene Humanismus weist darauf hin, dass aufgrund von Religionsgeschichte und Religionswissenschaft die Religion den Menschen vom Beginn seiner Geschichte an in verschiedener Form und Weise begleitet. Der Mensch hat Religion nicht erfunden oder als Nebenprodukt seiner Entwicklung erzeugt, sondern sie gehört zu seinem inneren Wesen. Homo est anima religiosum. Ein Erfahrungssatz der Religionswissenschaft.
Es gibt heute humanistische Vereinigungen, die über nicht sehr große Zahlen verfügen, die aber vom relativen bis zum absoluten Atheismus reichen. Dazu gehört beispielsweise The World Union of Free-Thinkers, die vor allem ihre Stützpunkte in den angelsächsischen Ländern haben, aber auch in verschiedenen Staaten des europäischen Kontinents. Die Weltunion wurde 1880 gegründet. Sie stand eher im Gegensatz zum Christentum als zur Religion im allgemeinen Sinne des Wortes. Sie befindet sich heute in einer Verteidigungsstellung. Der deutsche Freidenkerverband wurde 1933 aufgelöst und zählte damals an die 600.000 Mitglieder. Heute soll die Zahl in der Bundesrepublik Deutschland 6.000 betragen. Ein Dachverband ähnlich gesinnter Gruppen wurde 1949 als Deutscher Volksbund für Geistesfreiheit ins Leben gerufen. Die Devise dieses Verbandes lautete: Dogmenfreie Religiosität auf freier ethischer Grundlage. In die Nachbarschaft der World Union of Free-Thinkers gehört die International Humanist and Ethical Union, 1930 in Amsterdam gegründet, mit verschiedenen nationalen Zweigorganisationen. Die Tendenz dieser humanistischen Verbände ist nicht so sehr antireligiös oder antikirchlich, sondern agnostisch und areligiös. Der Deutsche Humanistenbund, 1906 durch Ernst Haeckel begründet, wurde 1933 aufgelöst und 1946 wieder neu begründet. Er ist zahlenmäßig klein, aber sehr regsam in der sogenannten intellektuellen Schicht.
Sofern von religiösen Humanisten in diesem Zusammenhang die Rede ist, versteht man darunter eine dogmenfreie Religion oder einen religiösen Liberalismus im weitesten Sinne des Wortes. Verfechter dieser Strömung sind z. B. Bertrand Russell in seinem Buch Warum ich kein Christ bin oder J. Huxley, der Neffe des Biologen Th. Huxley. Er gilt als der Vertreter des angelsächsischen Atheismus.
In den sozialistischen Staaten Osteuropas meidet man den Ausdruck Atheismus und spricht von einem sozialistischen Humanismus, hinter dem sich allerdings der kämpferische Staatsatheismus verbirgt.
So sehr die geschichtlichen Ursprünge des Atheismus wie des Humanismus verschieden sind, so bezeichnen diese beiden Wörter heute - wenn wir den christlichen Humanismus ausklammern - eine mehr oder weniger gleiche Sache.
Das Wort Atheismus ist aus der Vergangenheit belastet durch eine Abwertung, weil es gesellschaftlich unpassend war, sich als Atheist auszugeben. Daher gibt man heute dem Worte Humanismus den Vorzug, um das weite Feld des Nichtglaubens, der religiösen Indifferenz oder des Agnostizismus zu bezeichnen. Die weite Verbreitung religiöser Gleichgültigkeit (praktischer Atheismus), die Annahme, dass heute immer weniger Menschen ihr Leben nach religiösen Vorstellungen gestalten, ist mitbedingt durch das Klima der modernen Kommunikationsmittel, des Fernsehens, des Films, der Presse. Sie sind die modernen "Kanzeln", von denen dieser zeitgenössische Humanismus indirekt propagiert wird.
Die Meinung, christlicher Glaube und Religiosität seien im ständigen Rückgang begriffen, wird heute wieder infrage gestellt. Einige Fakten und Tatsachen seinen angeführt. Ich nenne nur am Rande: Das wachsende Interesse für Religion in weiten Kreisen der jungen Generation in Russland, das Phänomen von Taizé, das Pentecostal Movement in den evangelischen und in der katholischen Kirche Amerikas, das Verlangen nach Meditation und Gebet in den Kreisen der kirchenfremden jungen Generation im deutschen Sprachgebiet, die Bewegung der Focolarini im Bereich der katholischen Kirche. Die Parole, dass die Schwäche des menschlichen Geistes die Basis aller Probleme sei in Verbindung mit der heute propagierten transzendentalen Meditation verfehlt ihren Einfluss auf die junge Generation nicht. Die Gesellschaft zur Vereinigung des Weltchristentums oder die Children of God üben auf Studenten und junge Akademiker große Anziehungskraft aus. Esoterische und geistig anspruchsvolle Weltanschauungen, die Anthroposophie z. B., kommen der Frage nach der Sinndeutung des Lebens und der Welt entgegen. Dabei übt die Gestalt Jesu in verschiedenen Kreisen der jungen Generation ohne Zweifel eine neue Faszination aus. Und hier wieder ist - vor allem bei jungen Menschen - die Gegenüberstellung von Christentum und den nicht-christlichen Religionen von geringer Bedeutung. Der Gegensatz von Religion im weitesten Sinne des Wortes und Areligiosität im Sinne des radikalen absoluten Atheismus ist heute für die nachkommende Generation charakteristisch.
Das postchristliche Zeitalter, der praktische Atheismus, ist vordergründig weit verbreitet. Im Hintergrund aber ist eine neue, noch nicht deutlich artikulierte Religiosität im Begriffe, neue Positionen zu beziehen.
III.
Wenn heute der praktische Atheismus (religiöser Indifferentismus) - mit den Spielarten eines a- oder antichristlichen Humanismus - sowie der militante Atheismus das Christentum in die Schranken fordern, wenn behauptet wird, dass ein postchristliches Zeitalter angebrochen ist, so wollen wir versuchen, noch eine Bilanz zu ziehen aus der faktischen Konfrontation zwischen Christentum und einem weit verbreiteten Unglauben oder ungläubigen Humanismus. Ich will das in folgende Punkte zusammenfassen.
1. Das II. Vatikanische Konzil war die erste weltweite Kirchenversammlung der katholischen Kirche, die sich veranlasst sah, das Anliegen des Atheismus aufzugreifen und sich mit dieser in rascher Verbreitung begriffenen geistigen Haltung auseinanderzusetzen. In der Pastoralkonstitution über Kirche und Welt sind die Kapitel 10, 20 und 21 ausschließlich dem Atheismus oder dem atheistischen Humanismus gewidmet. Man müsse den Atheismus zu den "ernstesten Gegebenheiten dieser Zeit rechnen und daher auf das sorgfältigste prüfen". Ohne Polemik werden die verschiedenen Formen des Atheismus untersucht und die Haltung der Kirche ihm gegenüber dargelegt. Die Schuldfrage wird kurz berührt und dabei auf die Schuld der Christen verwiesen: "Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben, insofern man sagen muss, dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren."
Das Heilmittel gegen den Atheismus kann nur durch eine situationsgerechte Darlegung der Lehre und durch ein integres Leben der Kirche und ihrer Glieder erwartet werden, d. h. das Phänomen des Atheismus ist Anlass zu einer sachlichen Konfrontation und damit zu einer Gewissenserforschung innerhalb der christlichen und katholischen Kirche.
2. Das eben genannte II. Vatikanische Konzil hat zur Bildung von drei Sekretariaten geführt. Das erste zur Förderung der christlichen Einheit, also mit ökumenischer Zielsetzung, das zweite für nichtchristliche Religionen und das dritte, mit Zweigstellen in allen Kontinenten und Sprachgruppen der Erde, dient der Konfrontation mit der nichtgläubigen Welt (Pro non credentibus). Meine Aufgabe ist es, diesem Sekretariat für Nichtglaubende vorzustehen. Die Existenz dieses Sekretariates, das 1965 ins Leben gerufen wurde, ist eine Auswirkung des Konzils und der faktischen Konfrontation der christlichen Welt mit dem Atheismus. Aufgabe dieses Sekretariates ist es nicht, einen Kreuzzug gegen den Atheismus zu predigen. Es geht vielmehr darum, alle Möglichkeiten zu ergründen, um der Religion ihren Platz in der menschlichen Gesellschaft zu sichern. Es geht darum, die Voraussetzung für ein menschliches Gespräch mit Nichtglaubenden zu suchen. Es scheint zunächst keine gemeinsame Basis zu geben, auf der sich Gläubige und Ungläubige treffen können. Aber die menschliche Natur, die menschliche Ebene ist das Gemeinsame, auf der sich beide treffen können. Es ist - um noch einmal das Konzilsdokument Kirche in der Welt zu zitieren - "fast einmütige Auffassung der Glaubenden und Nichtglaubenden, dass alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittelpunkt und Höhepunkt hinzuordnen ist." Auf dieser Ebene gibt es in der einswerdenden Welt auch gemeinsame Aufgaben, sowohl für Gläubige wie für Nichtglaubende: Die Sicherung des Weltfriedens, das gemeinsame Bemühen um eine friedliche Weltordnung, um ein friedliches Zusammenleben, das Streben nach Gerechtigkeit; das Ringen um eine bessere Welt soll indirekt ebenfalls eine Frucht der Zusammenarbeit zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden sein.
Schließlich bleibt die Hoffnung, dass es auf der Ebene des menschlichen Kontaktes auch gelinge, die Intoleranz des militanten Atheismus in eine tolerantere Haltung zu wandeln. Gegenüber Menschen mit religiöser Weltanschauung ist die Intoleranz des militanten Atheismus leider immer noch ein Wesensmerkmal.
3. Da die Uneinigkeit unter den Christen ein häufiger Anlass war, um dem praktischen Atheismus Nahrung zu geben, erhält gerade das ökumenische Anliegen unserer Zeit durch die Konfrontation mit dem Unglauben einen starken Auftrieb. Es freut mich, darauf hinweisen zu können, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Sekretariat zur Förderung der christlichen Einheit und dem Weltkirchenrat in Genf ausgezeichnet funktioniert; das gute Klima einer verständnisvollen Zusammenarbeit hat den Eindruck bei nichtgläubigen Humanisten nicht verfehlt. Auch das dritte Sekretariat - für Nichtglaubende - ist dazu angetan, ökumenische Zusammenarbeit in jeder Weise zu fördern. Verschiedene Schritte in dieser Richtung sind bereits geschehen.
Die Bilanz der weltweit gewordenen Konfrontation zwischen christlicher und ungläubiger Weltanschauung möchte ich als positiv bezeichnen: vonseiten des Christentums nimmt man, wie etwa die Vatikanische Kirchenversammlung gezeigt hat, den Atheismus ernst, man setzt sich ohne Verketzerung mit seinen Argumenten auseinander und sieht darin einen Ansporn, die ökumenische Arbeit zu fördern. Die Bilanz ist positiv auch für die ungläubige Welt: Das Christentum sucht die gemeinsame Basis, das ist der Mensch, die menschliche Natur, und strebt eine Zusammenarbeit im Interesse des Menschen für eine friedliche und gerechtere Welt an.
IV.
Aber in unserer Zeit kommt eine neue Konfrontation herauf, die sowohl den Atheismus und seine humanistischen Weggenossen wie Religion und Christentum auf je verschiedene Weise herausfordern. Es geht um die Frage, ob der Fortschritt, der Glaube an eine immer bessere Welt, ein Dogma der Ideologie des Atheismus, heute nicht in eine Sackgasse führt. Diese Konfrontation scheint mir an den Kern der Dinge zu gehen. Das sogenannte postchristliche Zeitalter begegnet damit ganz unerwartet christlichen Positionen unter anderen Vorzeichen.
Noch vor 10 Jahren war die Welt erfüllt von futurologischen Büchern, die geradezu mit Begeisterung die Situation des Jahres 2000 beschreiben wollten. Man träumte von einem technischen und wirtschaftlichen Paradies. Heute werden andere Bücher geschrieben. Diese neuen Bücher signalisieren den Beginn eines ganz anderen Bewusstseins. Man weiß um die Umbruchsituation. Ich denke zum Beispiel an den Bericht des Klubs von Rom zur Lage der Menschheit mit dem Buchtitel Die Grenzen des Wachstums. In ähnlicher Weise bewusstseinsbildend ist heute auch der inoffizielle Umweltbericht (Freeman, Thinking at the Future), der unter Mitwirkung von 124 Beratern aus 48 Ländern im Auftrag des Generalsekretärs der UNO-Umweltschutzkonferenz erschienen ist. Auch dieses Buch hat großes Aufsehen erregt und ist in deutscher Sprache unter dem Titel Wie retten wir unsere Erde? erschienen. Mit diesen Büchern zeichnet sich der Beginn einer weltweiten Diskussion über kritische Menschheitsprobleme unserer Tage ab. Es ist der Beginn eines neuen Bewusstseins und zugleich das Ende eines kritiklosen Fortschrittsglaubens. Man entdeckt heute, dass wir in einer begrenzten Welt leben und dass wir diese Grenzen (Rohstoffmangel, Umweltverschmutzung) in unserer Generation erreichen. Diese Erkenntnis wird von der heutigen Menschheit wie ein Schock erlebt. Unsere Industriegesellschaft steht in einer Entwicklung, bei der sich immer stärker äußere und innere Grenzen abzuzeichnen beginnen, die eine weittragende Bedeutung für die Zukunft des Menschen haben. Zum ersten Male in der Geschichte ist es lebensnotwendig geworden, nach dem Preis unbeschränkten materiellen Wachstums zu fragen und Alternativen zu suchen, die dieses Wachsen nicht endlos fortsetzen. Heute sieht sich die Menschheit gezwungen, die Begrenztheit des von ihr bewohnten Planeten zur Kenntnis zu nehmen. Dadurch ist eine Herausforderung an unsere Generation gegeben, die nicht an die nächste einfach weitergeschoben werden darf. Wesentliche Änderungen müssen noch in diesem Jahrzehnt erreicht werden, dies ist die Meinung führender Männer in allen Bereichen der Wissenschaft.
Dazu kommen die inneren Grenzen. "Die Völker der westlichen Welt", so Christa Mewes, "sind von einer seelischen Erkrankung bedroht, die umso gefährlicher ist, als sie weder diagnostiziert noch im Ausmaß ihrer Verbreitung bekannt ist. Diese seuchenähnliche Gefahr heißt neurotische Verwahrlosung. Das typische Fehlverhalten dieser neurotischen Symptome ist: Anfälligkeit für Eigentumsdelikte, mangelnde Durchhaltefähigkeit, starke Verminderung der Opferbereitschaft, Abusus im Konsumstreben, Machtstreben und Sexualität, Neigung zu gewalttätigen und undifferenzierten Racheakten sowie Anfälligkeit für betäubende Süchte: Alkohol, Nikotin, Rauschgift, Lärm und Orgien."
Wenn nun die inneren und äußeren Grenzen des Wachstums gleichzeitig in Sicht kommen, so liegt darin aber nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance. Beide Grenzen verlangen nämlich eine Änderung unseres Fortschrittskonzepts in eine Richtung, bei der der Begriff der Qualität mehr und mehr Bedeutung gewinnt gegenüber den quantitativen Maßstäben des Wohlstandes. Qualität statt Quantität lautet eine der Hauptaussagen des sogenannten Brooks-Report der OECD. In eine ähnliche Richtung gehen Stellungnahmen wie die des EWG-Präsidenten Mansholt und vieler anderer Männer der Wissenschaft und Politik. Auf solche Weise wird die Natur selbst zum Bundesgenossen des Menschen. Sie zwingt die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme, den immer problematischer gewordenen Fortschrittsglauben zu modifizieren.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass von nun an das geistige Wachstum in besonderer Weise unsere Aufgabe sein wird. Auch der einzelne Mensch erfährt mit 18 oder 20 Jahren das Ende seines Längenwachstums, seines materiellen Wachstums. Aber das heißt nicht, dass sein Wachstum von nun an beendet ist. Ganz im Gegenteil, das geistige Wachstum dieses einzelnen Menschen soll sich nun entfalten bis an sein Lebensende. Vor einer ähnlichen Aufgabe steht heute die gesamte Menschheit. Sie erfährt das Ende ihres materiellen Wachstums. Das geistige Wachstum der Menschheit führt weder zu einer Ausbeutung der materiellen Rohstoffe, noch zu einer Verseuchung der materiellen Umwelt, noch zu einem Wettrüsten mit modernen Waffen, bewirkt keine Atomdrohung, führt zu keinen sozialen Spannungen, bewirkt keine psychisch-seelische Zersetzung des Menschen. Am geistigen Wachstum wird keiner gehindert, durch geistiges Wachstum wird keiner vom anderen verdrängt.
Ich glaube daran - und hier stehen wir plötzlich wieder vor religiösen Fragen -, dass dieser notwendige geistige Wachstumsprozess der Menschheit in sehr enger Verbindung mit den religiösen Erfahrungen der ganzen Menschheit stehen wird. Denn gerade die Religionen der Menschheit waren ja immer der oft heroische Versuch, dem geistigen auf die Spur zu kommen und die geistige Entfaltung zu ermöglichen. Die Weisheitsbücher und religiösen prophetischen Schriften der ganzen Menschheit sind verstärkte Zeugnisse für die Suche des Menschen nach dem Geist, nach der geistigen Entfaltung, nach dem geistigen Wachstum. Auch unsere eigenen religiösen Erfahrungen zeigen uns, dass jenes geistige Umdenken und geistige Wachstum, das heute notwendig ist, in religiösen Bereichen seine tiefste Heimat und Wurzel hat. Ich bin daher tief überzeugt, dass jenes geistige Wachstum und jene geistige Umwälzung von kopernikanischem Ausmaß, von dem das Buch Die Grenzen des Wachstums spricht, nur gelingen wird, wenn sich die Menschheit jener tiefsten religiösen, prophetischen Erfahrungen bewusst wird und sie diese tiefreligiösen Erfahrungen aufgreift, innerlich erneuert und verwirklicht. Nur wenn die Menschheit zu jenen tiefsten Quellgründen des Geistes hinabsteigt, die sie in ihren geistvollsten Vertretern im Laufe der Jahrtausende schon entdeckt hat, wird ihr diese geistige Entfaltung gelingen.
Als gläubiger Christ bin ich davon überzeugt, dass in diesem Zusammenhang die geistigen Erfahrungen der Christenheit sich als unerschöpfliche Quellen erweisen werden. Wer aus diesen Quellen schöpft, dem wird vieles wie Schuppen von den Augen fallen. Er wird Zusammenhänge in weltweitem Ausmaß erkennen. Es werden jene weisen Menschen sein, die imstande sind, den Marsch der Menschheit durch die Wüsten der Zukunft zu leiten und Wege zu weisen.
Damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Der Mensch, der sich selbst zu Gott macht, bringt in seinem Fortschrittsglauben sich und die Welt in Gefahr. Doch es treten hier - wenn nicht alles täuscht - Religion und Christentum als Künder einer geistigen und religiösen Weltordnung für den Menschen neu auf den Plan.