Die Gottesfrage klopft wieder an unserer Tür
Der internationale Club of Rome - eine 1968 ins Leben gerufene Weltgemeinschaft anerkannter Vertreter der Wissenschaft und Forschung - gedachte am 1. April 1998 der vor 30 Jahren erfolgten Gründung. Das Anliegen dieser Forschergemeinschaft aus allen Kontinenten ist es, in unserer rasch sich wandelnden Zeit die auf uns zukommenden großen Probleme zeitgerecht zu erkennen und entsprechende Entscheidungen vorzubereiten für alle internationalen und nationalen Entscheidungsträger.
Bei dieser festlichen Versammlung auf dem Kapitol wurde unter anderem hingewiesen auf die weltweite Sorge in Bezug auf Wasservorräte der Erde, auf die Zukunft unserer Ozeane angesichts der bekannten Umweltschäden. Vor allem aber war man besorgt angesichts einer steigenden Gleichgültigkeit, einer fehlenden Orientierung ohne allgemein gültige ethische und religiöse Werte, angesichts von zunehmender Intoleranz und Rassenhass, von Gewaltverbrechen und Drogen in vielen unserer Städte. Daher stellte sich die Frage, ob nicht durch Fernsehen und Nachrichtendienste das gesellschaftliche Bewusstsein bei uns verändert würde.
Bei allem Fortschritt in Bezug auf Verbesserung der Lebensverhältnisse, Seuchenbekämpfung, Verbesserung von Schulen und Erziehung auf Weltebene, wollte das genannte Forum einen Appell an alle Verantwortungsträger auf kontinentaler und globaler Ebene nicht unterlassen, um den Schutz menschlicher Würde und Freiheit für die Zukunft zu sichern.
In ähnlicher Weise meinte seinerzeit Albert Einstein, in Erinnerung an den großen Schock, den der Abwurf der ersten Atombombe 1945 auslöste: Die entfesselte Kraft des Atoms habe alles verändert, nur nicht unser Denken; letzteres aber müsse sich ändern, wenn die Menschheit überleben will. - Eine Änderung unseres Denkens, so füge ich hinzu, kann sich aber nur auf unsere ethische und religiöse Verantwortung beziehen.
Aber seit dem Ende der sechziger Jahre spricht man eher von einer wachsenden Säkularisierung. Das heißt, die Zahl der Kirchenaustritte, die Zahl der Ungetauften ist im Ansteigen; Ehe und Familie verlieren an Stabilität. Oder: Immer weniger Menschen bekennen sich zu einer religiösen Überzeugung, beachten religiöse Gebote und beteiligen sich an religiösen Tätigkeiten. Diese Tendenz spiegelt weniger eine Feindschaft gegen die Religion wider als vielmehr eine vollkommene Gleichgültigkeit. Und doch ist eine europäische Kultur durchdrungen von christlichen Begriffen, Werten und Praktiken. Dies ist die Meinung des amerikanischen Politologen und Historikers Samuel P. Huntington in seinem bekannten Buch "Kampf der Kulturen". Man befürchte, heißt es weiter, dass Europa durch die Schwächung seines zentralen Elements, des Christentums, in eine schwere Krise geraten oder unterminiert werden könne. Denn anders als in anderen Kontinenten dränge die westliche Wohlstandsgesellschaft in Europa den religiösen Glauben immer mehr an den Rand des Geschehens. Nach der Meinung der Medien habe Religion kaum mehr Bedeutung, denn Religion sei im Grunde Privatsache, über die man nicht spricht.
Dieser These eines europaweiten Niederganges religiösen Glaubens und Lebens steht aber heute eine ganz andere Auffassung gegenüber, nämlich: Weltweit gesehen gäbe es eine religiöse Erneuerung, sei eine religiöse Renaissance bereits im Gange. Eine solche Auffassung vertritt der Franzose Gilles Kepel in seinem Buch "Die Rache Gottes" (La revanche de Dieu). Diese Meinung vertreten mit Überzeugung der amerikanische Historiker George Weigel sowie auch Huntington selbst in seinem genannten Buch, ohne auf Europa Bezug zu nehmen. - Nur Religion, so meint er, biete auf die Frage nach dem Sinn des Lebens überzeugende Antworten. Das Wiederaufblühen der Religion weltweit sei einfach eine Reaktion auf Säkularismus, auf moralischen Relativismus und Hemmungslosigkeit, sei zu sehen als eine Bekräftigung von Werten wie Ordnung, Disziplin, Arbeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität.
Dazu bringe ich zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit: Ich nenne einerseits die ökumenische Bewegung der jungen Generation von heute; sie hat ihr Zentrum in Taizé in Südfrankreich. Das letzte Treffen Ende 1997 in Wien brachte an die 80.000 junge Menschen aus dem westlichen und östlichen Europa zu einer Begegnung - mit allen Zeichen einer religiösen Erneuerung unter dem Stichwort "Versöhnung". - Und eine solche Versöhnung deutet nicht nur auf die getrennten Christen hin, sondern auch auf die Spannungen, die heute zwischen einem westlichen und einem östlichen Europa bestehen.
Auch das Jugendtreffen im Sommer vergangenen Jahres in Paris mit dem Papst wurde - trotz aller Komplexität der Motive - zu einem Weltereignis. Die zahlreichen Kommentare, die sich in jenen Tagen in der Weltpresse fanden, mussten feststellen, dass sich solches mit den Ereignissen der sechziger Jahre oder mit dem französischen Laizismus nicht verbinden lasse. Dies, so hieß es, deute in die Richtung eines sonst schwer erklärlichen religiösen Aufbruchs.
Diese Beispiele wiegen heute umso mehr, als wir oft der Angst begegnen, dass in der Anonymität der Großstadt sich jener entwurzelte Typus ausbreitet, dem wir schon oft begegnen: der haltlose Mensch, der in seinem Leben kaum noch Sinn sieht; der gewissenlose Mensch, der keine innere Verpflichtung mehr spürt; der aggressive Mensch, der seine innere Spannung und geistige Not an anderen abreagiert. - Ja, wir begegnen noch öfter einem wahrheitsunfähigen Menschen, der ohne persönliche Überzeugung sich nur der Meinung anderer anpassen kann.
In dieser unruhigen und verunsicherten Zeit stoßen wir auf eine interessante literarische Diskussion in Italien, die in der großen Presse und in der Öffentlichkeit ein beachtliches Aufsehen erregt hat. Der Text dieser Auseinandersetzung liegt hier nun in deutscher Übersetzung vor. Damit begegnen wir einem Thema, das das westliche Europa in verschiedener Weise beschäftigt; das heißt, es ist das breite Spannungsfeld zwischen religiöser Indifferenz und religiöser Renaissance.
Zwei sehr bekannte Namen - es ist einerseits der Mailänder Kardinal Martini, andererseits der bekannte Romancier und Philosoph Umberto Eco von der Universität Bologna. Beide führten in kürzeren Abständen einen literarischen Dialog, der in der Zeitschrift "Liberal" veröffentlicht wurde. Diese auf hohem Niveau geführte Diskussion drehte sich um die Frage, ob eine humanistische Ethik im Sinne der griechisch-abendländischen Tradition in der Lage ist, eine ähnliche Sicherheit zu geben, wie es im abendländischen Christentum nur der religiöse Glaube geben kann.
Während Kardinal Martini in seiner Antwort auf den einleitenden und fragenden Brief Umberto Ecos zu verstehen gibt, dass man an der Gottesfrage nicht vorbeikomme, wenn man nach einer gültigen Antwort auf die großen Fragen und Probleme unserer Zeit suche -, so stellt Umberto Eco selbst die Frage, ob nicht auch der Nichtglaubenden letzte Werte und Maßstäbe besitze, an denen er sich orientieren könne, um zum Beispiel zwischen Gut und Böse in eigener Verantwortung unterscheiden zu können.
Mit Noblesse, ohne Apologetik oder verletzende Bemerkungen wird hier darum gerungen, worauf es in unserer Zeit ankommt, um zu verstehen, woran man sich halten könne, wenn man sich auf nichts mehr verlassen kann.
Im Grunde stehen wir damit vor der Gottesfrage, die im multireligiösen Umfeld unserer Zeit, europaweit, aus der psychologischen Immanenz als religiöses Erlebnis oder religiöse Beliebigkeit - der Agnostiker Freud sprach von Religion als psychischer Neurose - ausgerechnet durch das Ergebnis der Naturwissenschaften wieder in die menschliche Transzendenz durch die Sinnfrage menschlicher Existenz gehoben wird.
Wir begegnen heute, besonders in der westlichen Welt, einer ausgesprochenen Skepsis in Bezug auf wissenschaftlichen Fortschritt und wissenschaftliche Erkenntnis, die kaum mehr in der Lage sei, uns eine früher vermutete Sicherheit zu geben. Von dieser Skepsis gegenüber moderner Wissenschaft spricht der französische Molekularbiologe und Nobelpreisträger J. Monod in seinem Buch "Zufall und Notwendigkeit" (1970); er stellt fest: Der Mensch von heute sei in seiner Gesamtschau der Evolution ein Zufallsprodukt. Der Mensch müsse endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen, um - wörtlich - "seine Verlassenheit, seine totale Fremdheit zu erkennen". - Daher "wendet sich der moderne Mensch von der Wissenschaft ab oder vielmehr gegen sie. Er kann jetzt ihre schreckliche Zerstörungskraft ermessen, die sich nicht nur gegen den Leib, sondern auch gegen den Geist richtet." Solches ist das Bild eines einsamen Menschen, der, von der Wissenschaft enttäuscht, weder Weg noch Ziel des Lebens kennt.
Im Gegensatz dazu erhält die Gottesfrage als Frage nach dem Sinn - in diesem Zusammenhang taucht der Name des französischen Mathematikers Blaise Pascal auf - eine neue Dimension durch die Hinweise der Atomphysik und der Astronomie, aufgrund neuester Forschungen. Es ist nicht nur der Kopf mit seinem rationalen Erkennen und Zweifeln, es ist das aus der menschlichen Existenz stammende Ahnen und Staunen, das unserem Fragen neue Akzente verleiht: "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?" - Zwei Beispiele können das näher erläutern.
Es ist dies einerseits die Feststellung eines anderen Nobelpreisträgers für Physik, des Generaldirektors des Europäischen Forschungszentrums für Atomwissenschaft (CERN), Charles Rubia. In der "Neuen Zürcher Zeitung" stellte er in einem Gespräch fest: "Wenn wir die Galaxien der Sternenwelt zählen oder die Existenz von Elementarteilchen beweisen, so sind das wahrscheinlich keine Gottesbeweise. Aber als Forscher bin ich tief beeindruckt durch die Ordnung und die Schönheit, die ich im Kosmos finde, sowie im Inneren der materiellen Dinge. Und als Beobachter der Natur kann ich den Gedanken nicht zurückweisen, dass hier eine höhere Ordnung der Dinge im Voraus existiert. Die Vorstellung, dass dies alles das Ergebnis eines Zufalls oder bloß statistischer Vielfalt sei, das ist für mich vollkommen unannehmbar... Es ist hier eine Intelligenz auf einer höheren Ebene vorgegeben, jenseits der Existenz des Universums selbst."
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Albert Einstein. Er gehörte selber keiner kirchlichen Gemeinschaft an. In seinem letzten Aufsatz, "Science and Religion", stellt er fest: "Meine Religion besteht in meiner demütigen Bewunderung einer unbegrenzten geistigen Macht, die sich selbst in den kleinsten Dingen zeigt, die wir mit unserem gebrechlichen und schwachen Verstand erfassen können. Diese tiefe, emotionelle Überzeugung von der Anwesenheit einer geistigen Intelligenz, die sich im unbegreiflichen Universum eröffnet, bildet meine Vorstellung von Gott."
Vor dem säkularisierten Hintergrund eines aufgeklärten Europa gibt es die getrennten christlichen Kirchen - durch den ökumenischen Dialog aufeinander bezogen -, es gibt die drei großen monotheistischen Religionen der Christen, Juden und Muslime, die durch ihren Glauben an den einen Gott eine mögliche Nähe erkennen könnten. Noch mehr aber ist es der einzelne Mensch, losgelöst von geschichtlicher religiöser Gemeinschaftsbildung, der heute in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit rückt. In der Vielfalt geistiger Strömungen, Meinungen, Weltanschauungen sieht man viele Fragezeichen: Ob der Blick über das Ich, über die vergängliche Welt des Menschen hinausführen soll in eine transzendente, bleibende Wirklichkeit, ob dort noch etwas zu erwarten ist auf die letzten Fragen nach dem Sinn des Lebens.
Ja, hier stehen wir vor der Gottesfrage des modernen und einsamen Menschen: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen? - Er, Gott, steht an deiner Tür und klopft, er wartet, bis du ihm öffnest.