Ökumene – Entwicklung, Chancen und Zukunft
Mein Vortrag steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz. Seit einigen Wochen liegt die zweite Auflage des Arbeitsdokumentes für diese große Versammlung bereits vor. Die umfangreichen Vorbereitungen lassen uns auf einen neuen bedeutenden Schritt hoffen, um die im Laufe der Geschichte entstandenen Trennungen, Spaltungen der christlichen Kirchen aus europäischer Sicht allmählich zu überwinden. Der Weg ins neue Europa kann an einer solchen Aufgabe nicht uninteressiert vorübergehen.
Die erste offizielle Versammlung der getrennten christlichen Kirchen dieser Art im europäischen Rahmen fand vor acht Jahren in Basel statt und stellte sich dem Thema „Frieden in Gerechtigkeit“. Im damaligen Schlussdokument von Basel heißt es: „So tief die Wunden der Vergangenheit in Europa sind, so haben sich die Bande, die uns in Christus einen, als stärker erwiesen. Eine Gemeinschaft ist im Wachsen, die uns Hoffnung gibt.“ Hier in Graz, wie damals in Basel, ist eine solche Versammlung getrennter Kirchen, Konfessionen durch die enge Zusammenarbeit der „Konferenz europäischer Kirchen“ (KEK) und auf katholischer Seite durch den Rat der europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) möglich geworden. Eine solche Form der Zusammenarbeit wäre meines Erachtens vor zwanzig Jahren kaum vorstellbar gewesen.
Das alles ist in noch größeren Dimensionen unserer Zeit zu sehen; denn auch heute sind religiöse Gegensätze in Gefahr, in Verbindung mit ererbten Feindbildern für politische Konflikte instrumentalisiert zu werden. Oder wenn uns für die nächste Zeit ein weit reichender Kampf der Kulturen - clash of civilizations - vorausgesagt wird. Dieser Kampf der Kulturen - so Samuel Huntington in seinem gleichnamigen Buch - werde ein „Stammeskonflikt im Weltmaßstab sein“. Mancher denkt dabei an die Spannungen zwischen Islam und Christentum angesichts der 30 Millionen muslimischen Gläubigen in Europa. Und eine ganz andere Perspektive, die sich bei Hans Küng, Tübingen, findet, kommt zu demselben Schluss: „Ohne Religionsfriede kein Weltfriede.“ Vor einem solchen Hintergrund gewinnt daher eine Beschäftigung mit der ökumenischen Bewegung eine noch größere Bedeutung.
ZUR GESCHICHTE DER ÖKUMENE
Lassen Sie mich daher mit einer kurzen Vorbemerkung beginnen: Die Selbstverständlichkeit, mit der wir – auch als katholische Christen – heute über die ökumenische Bewegung und ihre Aufgaben sprechen, hat in unserer Erinnerung die Tatsache verdrängt, dass die Gemeinschaft christlichen Glaubens, das geeinte Christentum, im Rahmen der Weltgeschichte durch tausend Jahre eine weltumspannende Einheit war. Diese Einheit war gewiss keine Gleichförmigkeit weder im geografischen noch im geschichtlichen Sinne. Aber der Bogen des christlichen Glaubens und der christlichen Einheit reichte von Byzanz bis Rom, von Afrika bis ins Baltikum. Es war die Geschichte einer Einheit in großer sprachlicher und kultureller Vielfalt.
Erst im Jahre 1054 erfuhr diese Einheit durch das sogenannte morgenländische (abendländische) Schisma einen schweren Einbruch. Es kam zum ersten Mal zu einer großen Spaltung in eine abendländische und morgenländische christliche Kirche. Das Jahr 1054 ist so das kirchengeschichtliche Datum jener Trennung, die durch eine bereits lange vorausgehende Entfremdung zwischen Ost und West vorbereitet worden war. Die beiden Bannbullen von damals bezogen sich zwar nur auf Personen, aber die Entfremdung zwischen Ost und West galt damit zeichenhaft als besiegelt.
Byzanz wurde in der Folge das Zentrum byzantinischer christlicher Kirchen mit einem ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel als Oberhaupt – heute Patriarch Bartholomaios I. – und Rom Mittelpunkt der lateinischen westlichen christlichen Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Insgesamt gibt es fünfzehn autokephale, das heißt rechtlich selbstständige orthodoxe Kirchen. Der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., ist heute das Oberhaupt der Weltorthodoxie. Andere im Zuge der Ereignisse der letzten Jahre bei uns bekannt gewordene Patriarchen sind Aleksij Il. von Moskau und Patriarch Pavle von Belgrad.
Die orthodoxen Kirchen sind durch nationale Interessen gebunden, was Vor- und Nachteile hat; ihre Führungskräfte versammeln sich fallweise, oft nach langen zeitlichen Abständen, zu einer panorthodoxen Konferenz.
Diese geschichtlich gewachsene und durch rund 900 Jahre verfestigte Entfremdung zwischen einem orthodoxen Osten und einer lateinisch-katholischen Kirche im Westen wurde auf dem Zweiten Vatikanischen Ökumenischen, das heißt, Allgemeinen Konzil deutlich. Am Schluss des Konzils kam es zu einem ersten wichtigen Schritt der Wiederannäherung. Dazu ein persönliches Erlebnis: Am 7. Dezember 1965, dem feierlichen Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) kam es zu einem bedeutenden Versöhnungsgestus zwischen den orthodoxen Kirchen und der katholischen Kirche in Rom. Der damalige ökumenische Patriarch Athenagoras in Konstantinopel sowie Paul Vl. hatten zuvor vereinbart, die Aufhebung der beiden Bannbullen des Jahres 1054 in Konstantinopel bzw. in Rom am gleichen Tag und zur gleichen Stunde zu verkünden. Ich werde den brausenden Beifall in St. Peter nie vergessen, der dieser Ankündigung folgte – in Anwesenheit eines Vertreters des Ökumenischen Patriarchen, in seiner schönen liturgischen Kleidung. Gewiss wurde durch diese beiderseitige Erklärung die Geschichte zwischen Byzanz und Rom nicht verändert bzw. ungeschehen gemacht, aber es wurde immerhin ein symbolischer Gestus gesetzt, der zu einem hoffnungsvollen Zeichen für die ökumenische Bewegung wurde.
Der zweite Einbruch in der Einheit der christlichen Kirche erfolgte zur Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert. Verfallserscheinungen in der Kirche von damals gaben dazu den Anstoß. Die beachtliche Zahl der im späteren Verlauf entstandenen protestantischen Kirchen führte besonders in den Missionsgebieten außerhalb Europas zu größeren Schwierigkeiten. Die miteinander konkurrierenden christlichen Kirchen suchten daher einen Ausweg, um das Konkurrenzdenken in ein gewisses Miteinander zu verwandeln. Nach längeren und vielfältigen Bemühungen in dieser Hinsicht kam es nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1948 zur Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam (ÖRK, Ecumenical Council of Churches). Dieser Ökumenische Rat der Kirchen mit etwa 320 selbstständigen christlichen Kirchen ist bis heute wohl die wichtigste Institution der Ökumene, so weit es sich um nichtkatholische Kirchen und kirchliche Gemeinschaften handelt. Die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates sind neben der großen Gruppe der Orthodoxie die verschiedenen Kirchen der anglikanischen Gemeinschaft mit dem Erzbischof von Canterbury an der Spitze, sind weiters die Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes, des reformierten Weltbundes, der methodistischen Gemeinschaft, die Weltpfingstbewegungen und andere mehr.
Der Ökumenische Rat der Kirchen einigte sich seinerzeit auf folgende gemeinsame christliche Grundlage: „Eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus, gemäß der Heiligen Schrift, als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Eine spätere Versammlung des Weltkirchenrates in Neu Delhi (1961) fügte den Hinweis auf die „Wiederherstellung der Einheit“ hinzu. Damit sollte der Ausdruck , „Rückkehr zur Einheit“ vermieden werden. Die katholische Kirche ist bis heute nicht Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen, aber seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nimmt sie offiziell und sehr engagiert teil an den Arbeiten des Ökumenischen Rates.
Ein zweiter, wichtiger Schritt nach der Gründung des Weltrates der Kirchen des Jahres 1948 erfolgte circa fünfzehn Jahre später durch die Öffnung der katholischen Kirche zur Mitarbeit an der ökumenischen Bewegung aufgrund des Zweiten Vatikanischen Konzils. In einem eigenen Konzilsdekret über die Ökumenische Bewegung (Dekret über den Ökumenismus), das am 21. November 1964 in einer feierlichen Schlussabstimmung mit 2137 Ja- und nur elf Nein-Stimmen angenommen worden war, entschloss man sich zur offiziellen Mitarbeit. Damit erfolgte allerdings kein Beitritt als Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen.
Das Konzilsdekret über den Ökumenismus, „Unitatis redintegratio“, beginnt mit den Worten: „Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils. Denn Christus, der Herr, hat eine einige und einzige Kirche gegründet“, denn die bestehende Spaltung „widerspricht ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen“ (Nr. 1). – In diesem Dekret wurden die Richtlinien der Mitarbeit für katholische Christen an den ökumenischen Arbeiten festgelegt. Daraus ergibt sich für die Praxis, dass es keine katholische ökumenische Bewegung gibt, wohl aber katholische Grundsätze für diese wichtige Mitarbeit. (Es geht unter anderem darum, negative Urteile, Aussagen und Taten zu unterlassen, welche nicht der Wahrheit und der Gerechtigkeit gegenüber den getrennten Brüdern entsprechen.)
Nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) wurde beim Weltrat der Kirchen die Mitarbeit der katholischen Kirche offiziell begonnen. Es wurde ein Konsultativausschuss mit katholischen Mitgliedern eingerichtet. Dadurch ergab sich für die katholischen Christen die Möglichkeit, vor allem in der Kommission des Ökumenischen Rates für Glaube und kirchliche Verfassung sowie in anderen Kommissionen intensiv mitzuarbeiten.
Von besonderer Wichtigkeit innerhalb der katholischen Kirche wurde damit vor allem die Mitarbeit eines unmittelbar vor Konzilsbeginn durch Papst Johannes XXIII. eingerichteten Sekretariates – heute Päpstlichen Rates – zur Förderung der Einheit der Christen, genannt „Einheitssekretariat“. Dieser Päpstliche Rat im Vatikan ist heute jene Stelle, wo alle ökumenischen Interessen und Bemühungen seitens der katholischen Kirche zur Förderung der christlichen Einheit – im Dialog mit allen getrennten christlichen Kirchen – zusammenlaufen. Von großer Bedeutung für den Beginn dieser Tätigkeit war der deutsche Kardinal Bea, war die Mitarbeit des heute emeritierten, aber besonders verdienstvollen Präsidenten des Päpstlichen Rates aus Holland, Kardinal Willebrands. Heute steht der australische Kardinal Cassidy als Präsident an der Spitze dieses Päpstlichen Rates. Sein Amt verfügt über eine kleine Zahl ausgezeichneter Mitarbeiter, vor allem für die dort speziell eingerichteten Sektoren. Aus historischen Gründen verblieb die Sonderkommission für den Dialog mit Juden beim Einheitssekretariat.
DIE CHANCEN DER ÖKUMENE HEUTE
Besondere Beachtung in Bezug auf den ökumenischen Dialog verdient das persönliche Interesse Papst Johannes Pauls II. als Oberhaupt der katholischen Kirche, der wiederholt aufmerksam gemacht hat, dass für ihn die Ökumene Priorität habe. In einem seiner letzten Rundschreiben, „Ut unum sint“, hat er die getrennten Christen eingeladen, gemeinsam mit ihm die Frage der Ausübung des päpstlichen Primates zu überdenken, um gerade diesen für die Ökumene schwierigen Punkt zu überdenken.
Es wäre aber ein Missverständnis aus österreichischer Sicht zu meinen, die ökumenische Zusammenarbeit beziehe sich nur auf Gespräche und Kontakte mit den aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen getrennten christlichen Kirchen seitens der katholischen Kirche und umgekehrt und eventuell noch mit den orthodoxen Kirchen. Das ökumenische Bemühen umfasst ebenso die christlichen Kirchen in den USA sowie jene Kirchen, die zur anglikanischen Gemeinschaft in England und im Ausland gehören.
Besonderes Interesse wendet man den autokephalen orthodoxen Kirchen zu, weil diese praktisch dasselbe Glaubensbekenntnis wie die katholische Kirche besitzen. Die Verehrung der Gottesmutter Maria in der Liturgie der orthodoxen Kirche ist oft noch ausgeprägter als bei katholischen Christen. Daher sind die Glaubensunterschiede zu den orthodoxen Kirchen in der Regel kleiner als zu jenen aus der Reformation stammenden Kirchen. Eine schwierige, leidvolle Frage im Zusammenhang mit dem ökumenischen Dialog zwischen Orthodoxie und katholischer Kirche ist allerdings die Existenz der unierten Kirchen.
Die Euphorie der nachkonziliaren Zeit, mit der Freude über neue Formen ökumenischer Zusammenarbeit, die nun möglich waren, – ich erinnere an ökumenische Gottesdienste, an ökumenische Trauungen, an gemeinsames öffentliches Auftreten bei Segnungen und Einweihungen katholischer und evangelischer Geistlicher, an die Zusammenarbeit bei gesellschaftlichen und karitativen Aufgaben – diese Euphorie schwächte sich ab durch einen, wie es hieß, allmählichen Rückgang des ökumenischen Interesses. Und dies sowohl auf katholischer wie auf nichtkatholischer Seite. In den Berichten der Medien sowie in persönlichen Gesprächen kann man gelegentlich einen solchen Eindruck gewinnen.
Demgegenüber bin ich der Meinung: Wenn ich an die Anfänge meiner seelsorglichen Tätigkeit denke, so hätte man damals das für undenkbar und unmöglich angesehen, was durch die ökumenische Bewegung bis heute erreicht wurde und was für uns heute selbstverständlich ist. Die nun eingetretene scheinbare Stagnation ist natürlich nicht gegen die ökumenische Bewegung als solche gerichtet.
Die Vielfalt der ökumenischen Arbeit ist zu wenig bekannt. Ich weise auf Folgendes hin: Vor einigen Jahren erschien ein großes zweibändiges Werk von je 700 Seiten unter dem Titel Dokumente wachsender Übereinstimmung. Der erste Band sammelte Dokumente und Materialien aus den ersten Jahrzehnten bis zum Jahre 1982, der zweite Band setzte die Sammlung bis zum Jahr 1990 fort. Aus einer auch nur flüchtigen Durchsicht dieser reichhaltigen Bände sieht man, dass die ökumenische Arbeit auf Welt- wie regionaler Ebene mit Zuversicht und in steigendem Umfang fortgesetzt wird. Die menschlichen Kontakte werden zahlreicher und persönlicher. Die geschichtlichen und menschlichen Schwierigkeiten, die sich im Laufe der Generationen anhäuften, werden geringer. Das intensive und gemeinsame Studium der Heiligen Schrift und Überlieferung führt auf beiden Seiten zu neuen Einsichten. Kardinal Willebrands, der bekannte Experte dieser Materie, meinte, eine so bedeutende Veröffentlichung beweise allerdings auch die Unmöglichkeit, die gegenwärtige ökumenische Situation in ihrer ganzen Breite auch nur annähernd auf wenigen Seiten zusammenfassen zu können.
Was die katholische Kirche angeht, so sind in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren zahlreiche Gespräche mit zehn größeren Gruppen christlicher Kirchen aufgenommen worden und die Vertreter der katholischen Kirche nehmen an allen ständigen Rats- und Kommissionssitzungen teil. Ich verweise hier auf einige Namen, um Umfang und Zeit dieser ökumenischen Arbeit ein wenig anzudeuten: Es geht hier zum Beispiel um die gemischte Kommission mit den Ostkirchen, der koptischen Kirche, der anglikanischen Gemeinschaft, dem Lutherischen Weltbund, dem Weltbund der reformierten Kirchen, dem Weltrat der Methodisten, den Jüngern Christi, dem Weltbund der Baptisten, den Weltpfingstbewegungen und den Evangelikalen. Die Namen allein sagen uns bereits, welchen Umfang die ökumenische Arbeit des Sekretariates zur Förderung der christlichen Einheit heute zu bewältigen hat.
Das weist uns aber zugleich auf die Aufgaben hin, die noch vor uns liegen. Wenn zum Beispiel schwierige theologische Fragen, Glaubensfragen auf höchster oder mittlerer Ebene behandelt werden, so fehlt immer noch – und das möchte ich besonders betonen – das Interesse, die Rezeption an der Basis, das heißt, im Bereich unserer Kirchengemeinden bzw. Pfarrgemeinden. Dazu kommen noch größere Unterschiede des ökumenischen Interesses in verschiedenen Ländern und Gebieten; so besteht ein starkes Gefälle zwischen dem Westen und dem östlichen Bereich der ehemals kommunistischen Länder. Dazu kommen noch die verschiedenen geschichtlichen und kulturellen Differenzen.
Was das deutsche Sprachgebiet angeht, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland und Österreich, so wächst in der letzten Zeit zwischen den christlichen Kirchen – und damit auch der katholischen Kirche – ein Netz der ökumenischen Zusammenarbeit in vielen praktischen Dingen wie zum Beispiel für „Bruder in Not“. Im Bereich der russisch-orthodoxen Kirche ist allerdings eine pan-slawistische Bewegung nicht nur gegen den Westen gerichtet, sondern sie lehnt ausdrücklich jede Form einer ökumenischen Zusammenarbeit ab.
Es wäre aber falsch, die Wiederherstellung der Einheit der christlichen Kirchen ausschließlich als eine Sache von Verhandlungen und Beschlüssen anzusehen. Es geht vielmehr darum, immer wieder aufmerksam zu machen, dass ökumenische Arbeit ein geschichtlicher Prozess ist, der sowohl die theologischen Einsichten wie christliche Erfahrungen und persönliche Frömmigkeit umfasst. Das Ökumenismus-Dekret des Vatikanischen Konzils (Nr. 4) macht darauf aufmerksam. Es gehe zunächst darum, Worte, Urteile und Taten zu unterlassen, die der Lage der getrennten Brüder nach Gerechtigkeit und Wahrheit nicht entsprechen.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit die Schwierigkeiten ansprechen, die durch die Absage des Österreich-Besuchs des Ökumenischen Patriarchen entstanden sind. In schmerzlicher Weise hat sich dabei gezeigt, dass es gefährlich wäre, an das ökumenische Gespräch mit alten Kategorien des Machtdenkens und der Kabinettspolitik heranzugehen. Was wir brauchen ist jener Geist der Liebe, der gegenseitigen Rücksicht und Demut, der den großen Vorkämpfern der ökumenischen Bewegung in allen Kirchen geholfen hat, Gräben zu überbrücken. Wenn wir in der Ökumene weiterkommen wollen, dann brauchen wir wechselseitigen Respekt vor den geschichtlichen Gegebenheiten unserer Kirchen und jene Eigenschaften, die am besten mit dem Begriff „Herzenstakt“ umschrieben werden.
ZUKUNFT DER ÖKUMENE
Damit versuche ich, noch einen kurzen Blick auf die Zukunft der Ökumene zu werfen. Nach den Anfangsschwierigkeiten zu Beginn unseres Jahrhunderts erfolgte der erste und entscheidende Schritt durch die Gründung des Weltrates der Kirchen im Jahr 1948, ohne mit der Mitgliedschaft der katholischen Kirche rechnen zu können. Und fünfzehn Jahre später bekundete, wie schon eingangs erwähnt, auch die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil ihr großes Interesse an einer engeren Mitarbeit in der ökumenischen Bewegung. In der jüngsten Vergangenheit erfolgte ein zweiter entscheidender Schritt durch die Zusammenarbeit der Konferenz Europäischer Kirchen, KEK genannt, und dem Rat der europäischen Bischofskonferenzen auf katholischer Seite, CCEE. Durch die gute Zusammenarbeit dieser beiden wichtigen Gremien kam es vor acht Jahren zur ersten ökumenischen Kirchenversammlung Europas in Basel; und damit wird auch die zweite europäische ökumenische Begegnung in Graz möglich.
Ein wichtiges Arbeitsdokument für Graz bringt eine Fülle von Anregungen zum Thema der Versöhnung. Es umfasst soziale Gerechtigkeit ebenso wie das Ringen mit der neuen Armut und kann das Entstehen neuer Konflikte in politischen wie in wirtschaftlichen Bereichen nicht ausklammern. Versöhnung schließt heute auch immer mehr die ökologische Verantwortung, die Versöhnung mit der Schöpfung mit ein. Und dies alles gilt für ein Europa, das nicht identisch ist mit der EU, das nicht gleichgesetzt werden kann mit der Geschichte des westlichen Christentums ohne die Orthodoxie; ein Europa, das weder Juden noch Moslems ausgrenzen kann; es geht um ein Europa, in dem sich Menschen nach dem Zusammenbruch der marxistischen Ideologie neu orientieren und finden müssen, vor allem dort, wo eine unsichtbare Mauer Ost und West immer noch trennt.
Aber dieses neu zu ordnende Europa ist eine positive Herausforderung, gerade für die ökumenische Bewegung. Zuversichtlich heißt es daher mit Recht in dem genannten Arbeitsdokument: „Wer hätte vor acht Jahren, als in Basel die erste europäische ökumenische Versammlung stattfand, zu hoffen gewagt, dass wir uns in einem so tiefgreifend veränderten Europa wieder begegnen würden. ... Wir begrüßen die neuen Möglichkeiten einander kennenzulernen, miteinander zu leben und voneinander zu lernen.“
Ein in ökumenischer Zusammenarbeit der letzten Jahre entstandenes Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen gibt einen Einblick in die zunehmende religiöse Vielfalt unserer säkularisierten Welt im deutschen Sprachgebiet. Auf dem Weg nach Europa stellt sich uns die Frage nach dem gemeinsamen geistigen Erbe der Vergangenheit als Aufgabe für die Zukunft. Dabei soll es nicht nur um eine Betonung der gemeinsamen Abwehr gegenüber den Sekten und der damit Hand in Hand gehenden Orientierungslosigkeit gehen, sondern es geht um die positive Kraft, die aus einer „echten“ Ökumene hervorgeht; es geht um die Herausforderung durch die Gottesfrage, als Antwort auf die großen Lebensfragen aller Menschen: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Welchen Sinn hat mein Leben? Welches ist das große Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ Ein wachsendes Gefühl der Gemeinsamkeit der getrennten Kirchen verstärkt den Wunsch nach Eintracht, nach Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen.
Für diese Gemeinsamkeit Zeugnis geben zu können, ist ein wachsender Auftrag an die Christenheit an der Schwelle des dritten Jahrtausends. Denn eine unversöhnte Christenheit „widerspricht dem Willen Christi, ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums an alle Geschöpfe“.
Und damit wollen wir mit Zuversicht unseren Blick auf Graz in der letzten Juniwoche richten.
Gedruckt in: Franz Kardinal König, Unterwegs mit den Menschen / hrsg. von Annemarie Fenzl und Reginald Földy. Wien, Dom Verlag 2001, S. 155-165.