Einheit und Vielfalt der Kirche Gottes an der Schwelle des dritten Millenniums
Zum Thema, das im Bereich der Katholischen Kirche bei verschiedenen Anlässen immer wiederkehrt, gehört die Frage: Welchen Führungsstil braucht die Katholische Kirche, um die Einheit in einer sich rasch ändernden Welt zu wahren, und welche Formen der Vielfalt sind möglich, ohne die Einheit an der Schwelle des dritten Jahrtausends ernstlich zu gefährden? Ein solches Thema geht in zwei Richtungen: Während das ökumenische Bemühen die eigentliche Schwierigkeit in der Existenz und Ausübung des römischen Primates sieht, ist innerhalb der Katholischen Kirche, im weltweiten Bereich, die Frage schon lange aktuell: Wie kann oder soll die heute bestehende Form der obersten, in diesem Jahrhundert zentralistisch gewordenen Kirchenführung in Richtung einer graduellen Dezentralisierung geändert oder verbessert werden?
Es handelt sich also um ein doppeltes Anliegen: Einmal geht es um eine Stärkung der kollegialen Mitsorge und Mitverantwortung für die Gesamtkirche aufgrund der vom Konzil aufgezeigten kollegialen Verfassung des Hirtenamtes. Andererseits geht es aber gleichzeitig um eine Stärkung der orts- und regionalkirchlichen Zuständigkeit der einzelnen Bischöfe in ihrer uneingeschränkten Verantwortung als Hirten ihrer Teilkirche. Denn daraus ergibt sich auch die Darstellung der Gesamtkirche als eine "Communio ecclesiarum". Die Darstellung der Gesamtkirche als eine Communio der Teilkirchen hat Prof. H. Pottmeyer (Bochum) überzeugend dargestellt in seinem kürzlich erschienenen Buch "Towards a Papacy in Communion". Die Verbindung von Vaticanum I und Vaticanum II ist eine zusätzliche Stärkung seiner Argumente. - Für den Bereich der orts- und regionalkirchlichen Zuständigkeit geht es daher unter anderem auch um das Mitwirken bei der Ernennung von Bischöfen, geht es um eine Beachtung des Subsidiaritätsprinzipes und geht es schließlich auch um die nähere Bestimmung der Zuständigkeit der Bischofskonferenzen.
Während innerhalb der katholischen Kirche die Existenz des Petrusamtes mit einem notwendigen, der Zeit angepassten Instrumentarium, das heißt, einem vielfältigen behördlichen Apparat, keine Schwierigkeiten macht, wird der "Führungsstil" eben dieses päpstlichen Apparates, bzw. der kurialen Behörden des Vatikans mit der Vielfalt der Diözesen oft als mangelhaft bezeichnet. Nach Lumen gentium Nr. 23 sind die Bischöfe gehalten, "zum Wohl der Gesamtkirche ihren Beitrag" zu leisten. Aus verschiedenen Gründen gingen die diesbezüglich in die Bischofssynoden gesetzten Erwartungen nicht in Erfüllung.
Paul VI. hatte in seinem Bemühen, den Wünschen des Konzils zu entsprechen, mit seinem Rundschreiben Sollicitudo omnium ecclesiarum Mühe aufgewendet, um die kurialen Behörden nach den Wünschen des Konzils entsprechend auszurichten, in ihrer beratenden und kontrollierenden Funktion neu zu ordnen. In der nachkonziliaren Zeit haben aber verschiedentlich Bischöfe zum Ausdruck gebracht, dass die vatikanischen Behörden, mehr als sonst, nach Selbstständigkeit und zentraler Führung trachten, sodass das Anliegen von Sollicitudo omnium ecclesiarum nicht entsprechend zur Wirkung kommen konnte.
Es geht also auch hier um "das Wohl der Gesamtkirche", wenn solche Defizite zu vermelden sind. Es müsse, so heißt es, Anliegen des Bischofskollegiums sein, im Sinne des letzten Konzils den Inhaber des Petrusamtes, den Bischof von Rom, in der Kirchenführung weltweit zu unterstützen. Denn der heute praktizierte Stil einer weltweiten Kirchenführung entspreche nicht in allem den Vorstellungen des Konzils, wie es in Lumen Gentium Nr. 23 heißt: "Als Glieder des Bischofskollegiums und rechtmäßige Nachfolger der Apostel sind sie (d. h. die Bischöfe) aufgrund von Christi Stiftung und Vorschrift zur Sorge für die Gesamtkirche gehalten" - wenn es sich dabei auch nicht um einen hoheitlichen Akt handle, so trage diese Sorge "doch im höchsten Maß zum Wohl der Gesamtkirche bei" (LG, Nr. 23).
Dazu ist allerdings der Hinweis zu beachten, der sich in Apostolos suos vom 23. Juli 1998 (Osservatore Romano, 24. 7. 1998) findet. Hier heißt es: Die Gewalt des Bischofskollegiums über die ganze Kirche ergibt sich "nicht aus der Summe der Gewalten der einzelnen Bischöfe ... sie ist eine vorgegebene Wirklichkeit, an der die einzelnen Bischöfe teilhaben, die nur kollegial über die ganze Kirche entscheiden" (AS, Nr. 12). - Diese scheinbar einschränkende Feststellung weist im Grunde auf die Bedeutung des Kollegiums der Bischöfe hin.
In welcher Weise die "Sorge um die Gesamtkirche" in der Praxis wahrgenommen werden kann, hat das Konzil nicht näher behandelt. Dies gehört wohl zu den Aufgaben der nachkonziliaren Zeit.
Die Bischofssynoden in der heute bestehenden Funktion haben nicht zum beabsichtigten Ziel führen können, obwohl es sich um einen sehr beachtenswerten Vorschlag Papst Pauls VI. handelte. Heute geht es darum, der Bischofssynode neue Formen der Mitwirkung für das Gesamtwohl zu suchen. Auch die Vorgangsweise bei der Ernennung neuer Bischöfe hatte gelegentlich zu Schwierigkeiten geführt, weil der Kontakt zur betreffenden Bischofskonferenz oder ähnlichen Gremien nicht oder kaum stattgefunden hat.
An der Schwelle des neuen Millenniums, mit dem Blick auf die notwendige Einheit und mögliche Vielfalt in der Katholischen Kirche, werden einerseits die Schwierigkeiten deutlich, aber auch die Chancen sichtbar, die es zu erfassen gilt. Ich möchte dies etwas ausführlicher begründen.
1. Aus einer europazentrierten Kirche ist nach der Zerstörung Europas durch den letzten Krieg, durch das Ende der europäischen Kolonialgebiete und der daraus folgenden Eigenständigkeit der außereuropäischen Kontinente - ist aus der so gewachsenen Kirche die Weltkirche im letzten Konzil eindrucksvoll in Erscheinung getreten. Die Kirche Christi mit dem Petrusamt hat das europäische Kleid abgelegt oder ist noch damit beschäftigt.
2. Der vatikanische Zentralismus als ein Instrument der Kirchenführung, zuhanden des Bischofs von Rom als Inhaber des Petrusamtes, hat ebenso sein europäisches Gepräge aufgegeben und ist international geworden; er besitzt eine reiche menschliche und christliche Erfahrung, die seit Jahrhunderten gewachsen ist. Im Kampf gegen Rationalismus und Nationalismus, als Defensor der kirchlichen Einheit, ist die vatikanische Bürokratie stark und mächtig geworden. Das hat aber auch zu einer Schwierigkeit aus heutiger Sicht geführt.
Denn die Verantwortung und Sorge für die Gesamtkirche stellt heute wachsende Anforderungen an das römische Petrusamt, was auch die vatikanische Bürokratie mittragen muss. Hier sollte die Mitsorge des Kollegiums der Bischöfe weltweit im Sinne von LG, Nr. 22 und 23 - "aufgrund von Christi Stiftung und Vorschrift zur Sorge für die Gesamtkirche gehalten" - effektiv werden. Dies ist aber mit der Einführung der Bischofssynoden nicht wirklich realisiert worden. Denn die römischen Behörden sind in Richtung eines zentralistischen Apparates weiter ausgebaut worden. Aus europäischer Sicht und aufgrund der Schwierigkeiten in Europa ging es immer darum, die Einheit der Kirche zu wahren; dies stand fast ausschließlich im Vordergrund. Es war die Angst vor einem Zerfall der Einheit; sodass die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Vielfalt in dieser Einheit kaum beachtet wurde. Aus diesem Grunde hat die vatikanische Bürokratie - bewusst oder unbewusst, de facto, aber nicht de iure - die Aufgaben eines Kollegiums der Bischöfe in Verbindung mit dem Papst und im Sinne von LG, Nr. 22 und 23 an sich gezogen, übernimmt de facto fast alle Aufgaben eines Kollegiums der Bischöfe. Die Diskussion um die Kollegialität der Bischöfe in der obersten Kirchenführung darf daher keineswegs als antirömischer Affekt oder antirömische Kritik verstanden werden.
3. Man könnte es als eine providentielle Fügung bezeichnen, dass durch die Verbindung von Vaticanum I und Vaticanum II im letzten Konzil eine ausführliche Darstellung der gesamtkirchlichen Bedeutung und Aufgabe des Bischofskollegiums in Verbindung mit dem römischen Petrusamt möglich wurde, um so den neuen Anforderungen einer Weltkirche besser zu entsprechen.
Das Anliegen, das mit der konziliaren Kollegialität der Bischöfe verbunden ist, hat eine zweifache Bedeutung: Erstens geht es in die Richtung der komplexen ökumenischen Bewegung im Sinne des Zweiten Vatikanums. Andererseits aber geht es auch um das innerkirchliche Anliegen der katholischen Glaubensgemeinschaft, nämlich: die oberste Kirchenführung zu entlasten - vor allem wegen der bereits bestehenden Überforderung des päpstlichen Dienstes.
Es gibt ja heute schon praktische Beispiele, wie die Kollegialität der Bischöfe tätig werden kann: Die zweite europäische und ökumenische Kirchenversammlung in Graz 1997, ein so bedeutendes ökumenisches Ereignis, wurde vorbereitet und durchgeführt durch eine Zusammenarbeit des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) in Zusammenarbeit mit der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) auf Europa-Ebene. Und dies geschah, so heißt es, ohne offizielle Beteiligung der vatikanischen Behörden an den Vorbereitungen.
Die Aktualität des Themas "Bischofskollegium und der bisherige Führungsstil in der katholischen Kirche" wurde in der letzten Zeit durch folgende Namen noch bewusster gemacht:
a. Der Vorsitzende der belgischen Bischofskonferenz, Kardinal G. Daneels, hat in der Zeitschrift "Il Regno" (Frühjahr 1996) einen Beitrag veröffentlicht zum Thema der kirchlichen Strukturen und stellt unter anderem fest: Die Bischofssynode hätte das nicht erreicht, was Papst Paul VI. damit erreichen wollte. Es gehe darum, neue Überlegungen anzustellen, um das Bischofskollegium besser in der kirchlichen Führung wirksam werden zu lassen - im Sinne von LG, Nr. 22 und 23. Dadurch ergebe sich ein allmählicher Umbau im Stile der obersten kirchlichen Führung. Dies betreffe, so stellt er ausdrücklich fest, in keiner Weise die glaubensmäßig begründete Existenz des Petrusamtes in der Katholischen Kirche. - Aber gelegentliche Schwierigkeiten bei der Ernennung neuer Bischöfe, das weltweite Problem der Sekten, die zunehmende Macht der Medien und neue Formen der Kommunikation, der wachsende Gegensatz von reich und arm auf Weltebene sowie Probleme der Dritten Welt - all dies gäbe Anlaß zur Frage, wie weit die zentrale Kirchenführung diese Probleme bewältigen kann, ohne das Bischofskollegium in der angegebenen Weise fallweise zur Mitwirkung heranzuziehen.
b. Im gleichen Jahr hat der emeritierte nordamerikanische Erzbischof von San Francisco, John Quinn, zu diesem Thema in seiner Oxford-Lecture - 29.6.1996 - Stellung bezogen. Quinn war 28 Jahre Erzbischof von San Francisco und drei Jahre Vorsitzender der gesamten katholischen Bischofskonferenz der USA. In seinem Oxford-Vortrag "Considering the Papacy" stellte er sich die Frage, wie das Bischofskollegium der Weltkirche - angesichts der raschen Änderungen in der Welt und der wachsenden Anforderungen an die Gesamtkirche auf Weltebene - in der Kirchenführung auch außerhalb des Konzils wirksam werden könne. Er erinnert dazu an den wachsenden Einfluss der Medien, wodurch die öffentliche Meinung gesteuert wird, in einer immer stärker säkularisierten Welt. Er erinnert an den wachsenden Gegensatz von arm und reich, an die vielen Eheprobleme und die psychischen Veränderungen in unserer Zeit. Auch er sieht Schwierigkeiten in der "römischen Kurie", deren Dienstfunktion ein Bestreben habe nach größerer Eigenständigkeit und sozusagen ein "tertium quid" zwischen Papst und Bischofskollegium werden könne. Es sei ein bleibendes Verdienst Pauls VI. gewesen, die römische Kurie zu internationalisieren. Seine Funktion und Aufgaben habe er in Sollicitudo omnium ecclesiarum näher umschrieben. Wenn aber heute eine Tendenz zu größerer Selbstständigkeit festgestellt wird, so ist dies - ich füge das hinzu - wohl auch ein Zeichen, dass die römische Kurie sich genötigt sieht, die nicht vorhandene Funktion eines Bischofskollegiums mit zu übernehmen. Die wachsende Zahl von Dokumenten der verschiedenen Abteilungen im Vatikan ist ebenso ein Hinweis auf das Defizit an Kollegialität und Subsidiarität. Großen Wert aber legt Quinn auf den Hinweis, dass Kollegialität und Subsidiarität heute in ihrer möglichen Gemeinsamkeit näher zu untersuchen seien. - Eine neuere Arbeit, die in die gleiche Richtung geht, wurde unlängst veröffentlicht vom Herausgeber der englischen Wochenschrift "The Tablet", John Wilkins, The Papacy and the People of God (Orbis-Verlag). Der Autor macht sich zum Sprecher des gleichen Anliegens, das auch im englischsprachigen Bereich heute viel diskutiert wird. Dazu kommen drei ganz neue Publikationen in Amerika: Ich nenne eine Weiterführung der von Erzbischof Quinn ausgelösten Diskussion im Anschluss an seine Oxford-Vorlesung. Es ist dies "The Exercise of the Primacy" als "continuing the dialogue", herausgegeben von Phyllis Zagano und Terrence W. Tilley, und "Papal Primacy and the Episcopate" von Michael J. Buckley.
c. In diesem Zusammenhang ist das päpstliche Rundschreiben Ut unum sint (1995) von großer Bedeutung. Das Dokument weist hin auf die ökumenische Verpflichtung gerade auch der Katholischen Kirche. Der Papst stellt im abschließenden dritten Kapitel die Frage: Wir könnten uns fragen, "wie lang der Weg ist, der uns noch von jenem segensreichen Tag trennt, an dem die volle Einheit im Glauben erreicht sein wird" (Nr. 77). Jedenfalls verbindet er damit die Überzeugung, dass sich die Katholische Kirche "unumkehrbar" dazu verpflichtet habe, den Weg der Suche nach ökumenischer Einheit einzuschlagen (Nr. 3). Um das ausgesprochene oder oft auch nicht ausgesprochene Misstrauen gegen einen diktatorischen Herrschaftsanspruch des Papstes über seine Kirche zu entkräften, legt er Wert darauf, an die Verbindung des Petrusamtes des römischen Papstes mit dem Kollegium aller Bischöfe wiederholt zu erinnern. Sein Amt, so stellt er fest, könne nicht getrennt werden von jener Sendung, "die allen Bischöfen anvertraut ist", weil sie "gleichfalls Stellvertreter und Gesandte Christi sind". Und um nicht missverstanden zu werden, fügt er hinzu: "Der Bischof von Rom gehört zu ihrem Kollegium und sie sind seine Brüder im Amt" (Nr. 95).
Diese weitreichende Verbindung des päpstlichen Amtes mit dem Kollegium der Bischöfe solle, so meint er wohl, die Angst vor einer übertrieben zentralistischen Führung der Kirche durch einen "unfehlbaren" Papst abbauen helfen. Aufgrund einer solchen Verbindung des Papstes mit dem Kollegium der Bischöfe macht er den getrennten Christen den "brüderlichen" Vorschlag: der römische Papst, als Inhaber des Petrusamtes, erklärt seinen ökumenischen Dialogpartnern, sie mögen "mit mir einen brüderlichen, geduldigen Dialog aufnehmen"; denn es gehe darum, "eine neue Form der Primatsausübung zu finden, die keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber der neuen Situation öffnet" (Nr. 95). Das heißt, ohne die Existenz des Petrusamtes grundsätzlich infrage zu stellen, will er zur Diskussion einladen, um eine entsprechende Form der Ausübung des Petrusamtes zu finden, die den anderen Kirchen weniger Schwierigkeit mache. Es gehe darum, den päpstlichen Primat immer in Verbindung mit dem Bischofskollegium zu sehen - und so den Verdacht loszuwerden, dass das päpstliche Amt einen absoluten Herrschaftsanspruch über die Kirche verlange. Ein solcher Vorschlag, so gesteht der Papst selber, sei "eine ungeheure Aufgabe, die wir nicht zurückweisen können und die ich allein nicht zu Ende bringen kann" (Nr. 96).
Genau besehen, ist sein so ungewöhnliches Angebot gleichzeitig ein Hinweis auf das oberste Leitungsamt in der Katholischen Kirche, ein Hinweis auf die heutige Form der Ausübung des Petrusdienstes. Auch hier geht es um eine Aufgabe - ich zitiere -, "die ich allein nicht zu Ende bringen kann". - Darin sehe ich einen Hinweis des Papstes selber, der sich nicht zuletzt auch auf Schwierigkeiten in der Führung der eigenen Kirche bezieht. Solche Schwierigkeiten sind nur zu lösen in kollegialer Mitsorge und Mitverantwortung für die Gesamtkirche.
Um solche und ähnliche Überlegungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, muss man, so glaube ich, das Prinzip der Subsidiarität auch innerhalb der Kirche - als gesellschaftliches Ordnungsprinzip - noch besonders beachten. Das Prinzip der Subsidiarität ist grundlegend für den Bereich der katholischen Soziallehre und daher auch für die Kirche. Es gilt als Bauprinzip der menschlichen Gesellschaft, wie es Pius XI. in seinem Rundschreiben Quadragesimo anno (1931) in seiner klassischen Form beschrieben hat. Die entsprechende Stelle lautet: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen, ... Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach subsidiär. Sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." - Das ist der bekannte Text, wie er später des Öfteren, zum Beispiel in Mater et Magistra, aufscheint.- Dieses "Prinzip der Subsidiarität" ist im Jahre 1992 im Maastrichter Vertrag zur Europäischen Union im Abschnitt "Grundsätze" als Leitidee in das Vertragswerk aufgenommen worden.
Übrigens hat bereits die Bischofssynode des Jahres 1969 ebenfalls in ihrem Votum zum Ausdruck gebracht, dass das Prinzip der Subsidiarität für die Neuausgabe des Kirchenrechtes des Codex Iuris Canonici Verwendung finden solle. Und zwei Jahre später, 1971, gab es bei der damaligen Bischofssynode ein Votum, dieses Grundgesetz auch in der Verbindung mit den Bischofskonferenzen zu verwenden. In der Einleitung zu dem neuen Codex des Jahres 1983 heißt es: Zu den grundlegenden Prinzipien des neuen Kirchenrechtes gehöre auch das Prinzip der Subsidiarität.
Nun ist die Kirche aber nicht ein Verein oder eine Gemeinschaft wie jede andere; denn sie besteht nicht aus zwei verschiedenen Größen, sondern ist, wie es in Lumen Gentium Nr. 8 heißt, "eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst". Sie ist also hier auf Erden eine "sichtbare Versammlung und eine geistliche Gemeinschaft zugleich". In LG, Nr. 8 heißt es dazu: Sie ist "hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst" und trägt so die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. - Für dieses sichtbare Gefüge, der einzigen komplexen Wirklichkeit, kann daher das Prinzip der Subsidiarität in analoger Weise verwendet werden. Subsidiarität, mit der lateinischen Wurzel "subsidium", Hilfe, Dienstleistung, besagt, dass auch im kirchlichen Bereich, "als sichtbar verfasstes Gefüge", eine übergeordnete Struktur nicht an sich ziehen soll, was die untergeordnete selber leisten kann und leisten soll. Wohl aber soll die übergeordnete Ordnung der untergeordneten Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit sie ihre spezifische Eigenleistung auch erbringen kann.
Später war es Pius XII., der aufmerksam gemacht hatte, dass das Prinzip der Subsidiarität auch für das Leben der Kirche mit ihrer hierarchischen Struktur gelte. In einer Ansprache (20.12.1946) nahm er Bezug auf seinen Vorgänger und wiederholte die bereits klassisch gewordene Formulierung des Subsidiaritätsprinzips. Dann fuhr er wörtlich fort: "Solche Worte sind in der Tat erhellend; sie gelten für den Bereich der Gesellschaft, aber auch für das Leben der Kirche in ihrer hierarchischen Struktur."
Mit einer solchen Feststellung wollte Pius XII. nicht zuletzt auch auf Freiheit und Würde der menschlichen Person Bezug nehmen, die inmitten der gesellschaftlichen Strukturen und Organisationen nicht unterdrückt werden dürfe.
Eine neue Untersuchung an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom (M. Krebs, Subsidiarität und kirchliches Leben. Das Subsidiaritätsprinzip in Anwendung auf die Kirche nach Pius XII., 1992) hat festgestellt, dass damit die Eigenständigkeit, die eigene Initiative und die eigenen Kräfte des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, aber auch der kleineren Gruppe gegenüber der Großgruppe gesichert werden sollte; G. Gundlach, ein Mitarbeiter und Berater Pius XI., wie Pius XII., Professor an der Gregoriana, meinte in Verbindung mit dem Subsidiaritätsprinzip: Die Gefahr des Zentralismus gäbe es auch in der kirchlichen Verwaltung. Denn wer in den kirchlichen Raum hineinschaut, könne nicht übersehen, dass es solche Erscheinungen auch dort gäbe. Und das dürfte mit dem Hineinwirken der industriellen Gesellschaft in den kirchlichen Raum zusammenhängen, meint er. Und er fügt hinzu: es entstehe dadurch ein Herrschaftsanspruch "eines zentralen kirchlichen Dirigismus". - Damit meinte er wohl, dass es in den katholischen Verbänden die Möglichkeit gäbe, dem "Prinzip der Subsidiarität auch innerhalb der Kirche mehr Geltung zu verschaffen". Etwas Ähnliches gelte für die Diözesen, für die religiösen Orden oder auch andere Gemeinschaften der Gesamtkirche. Die Abwehr eines "Zentralismus in der Kirche", im Sinne von Gundlach, legt den Hinweis nahe, auf einen entsprechenden Freiraum für die Laien in der Kirche Bedacht zu nehmen. Bereits lange Zeit vor dem Konzil meinte er - ganz im Sinne des späteren Lumen Gentium: Man möge den Laien jene Aufgaben übertragen, die sie ebenso gut oder noch besser als Priester erfüllen können; mit dem Blick auf das Gemeinwohl der Kirche sollten sie "frei handeln und ihre Verantwortung wahrnehmen können" (a.a.O., S. 78).
Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sei mit Nachdruck festgehalten, dass der ausführliche Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip kein kollegiales Mitwirken der Bischöfe an der Gesamtkirche begründet. Wohl aber soll dieses Prinzip hier in Verbindung mit dem Kirchenbegriff der Dogmatischen Konstitution über die Kirche des Zweiten Vatikanums (LG, Nr. 8) gesehen werden. Das heißt, das Subsidiaritätsprinzip meint im Gegensatz zu einem Zentralismus eine entsprechende Dezentralisierung auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft. Solche Überlegungen verweisen zusätzlich auf die uneingeschränkte Verantwortung des Bischofs für seinen Bereich.
Denn von den Bischöfen heißt es in LG, Nr. 27: "Sie sind nicht als Stellvertreter der Bischöfe von Rom (das heißt wohl, des jeweiligen Bischofs von Rom) zu verstehen, denn sie haben eine ihnen eigene Gewalt inne und heißen in voller Wahrheit Vorsteher des Volkes, das sie leiten. Folglich wird ihre Gewalt von der obersten allgemeinen Gewalt nicht ausgeschaltet, sondern im Gegenteil bestätigt, gestärkt und in Schutz genommen."
Damit wird mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass Bischöfe nicht Gesandte des Papstes sind und nicht dazu da, - wie manche behaupten, - um die Instruktion des Papstes auszuführen. Denn sie sind Zeugen und Lehrer des Glaubens, in Verbindung mit dem Papst, im Namen Christi. Die heute übliche Praxis im Verhalten zwischen Kurie und Diözesanbischof scheint nicht immer dieser Auffassung zu entsprechen. Im Sinne des Konzils sollte das Kollegium der Bischöfe die Last und Verantwortung des Papstes mittragen. Und dies nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat. Praktische Taten solcher Art zu setzen, würde nicht nur in ökumenischer Hinsicht positiv aufgenommen, sondern ebenso in der innerkatholischen Situation. Dazu kommt noch der Einfluss der Medien in positiver Hinsicht. Im Falle der kollegialen Mitsorge und Mitverantwortung für die Gesamtkirche kann es ein großer Vorteil sein, wenn das Kollegium der Bischöfe in geeigneter Form nicht nur zur Mitberatung, sondern auch zur Mitentscheidung herangezogen wird. Solches scheint sich besonders in unseren Tagen nahezulegen, wenn die Bischöfe eines ganzen Kontinentes zu einer speziellen Synode versammelt werden und der Papst ein Schlussdokument den Bischöfen übergibt, das er allerdings in eigener Verantwortung und allein redigiert. Ein solch kollegiales Zusammenwirken von Bischöfen und Papst im Sinne der Kollegialität würde gleichzeitig ein mächtiger Impuls für das ökumenische Anliegen sein. Auch dies ist nicht eine In-Fragestellung der Loyalität, sondern der Vorschlag, eine solche Bewusstseinsbildung mit dem Papst und nicht gegen den Papst zu entscheiden. Und hier kommen wieder die oben zitierten Texte aus Ut unum sint zu Hilfe.
Bei diesen Überlegungen geht es nicht um eine Philosophie, sondern um die Gemeinschaft des Glaubens, der nicht von oben vorgeschrieben wird, sondern von allen entsprechend mitzutragen ist. Je mehr in unserer Kirche zu spüren ist, dass das Kollegium der Bischöfe in die Mitverantwortung der obersten kirchlichen Führung hineingenommen wird, je mehr Vielfalt in der Einheit erkennbar ist, desto mehr wird man damit auch der Ökumene selber dienen.
Innerhalb der einen und geeinten Katholischen Kirche gibt es ja schon lange verschiedene Beispiele eines möglichen Pluralismus: Nicht nur der Papst wird gewählt, sondern ebenso die Äbte der Klöster und Stifte. Es gibt eine Verschiedenheit in der Liturgie zwischen Ost und West, die die grundsätzliche Einheit nicht stört. Religiöse Orden und Gemeinschaften haben eine große Autonomie, um ihre Lebensform und innere Struktur selber zu bestimmen. Mehr als 1000 Jahre lang wurden Bischöfe vom Volke gewählt und dann vom Papst bestätigt. Das Dekret über die katholischen Ostkirchen des Zweiten Vatikanischen Konzils weist darauf hin, dass die Ostkirchen mit ihren Einrichtungen und liturgischen Ordnungen, mit ihren Überlieferungen und ihrer Lebensordnung in der Katholischen Kirche hoch geschätzt werden. Diese haben nicht nur ihre eigenen Riten, sondern auch ihr eigenes Kirchenrecht und verheiratete Priester.
Und noch einmal: Das Anliegen einer Dezentralisierung angesichts eines überspannten Zentralismus geht in zwei Richtungen: Es ist einerseits das Anliegen einer Stärkung der kollegialen Mitsorge und Mitverantwortung der Bischöfe für die Gesamtkirche im Sinne des Zweiten Vatikanums; andererseits geht es ebenso um eine nicht geschmälerte Zuständigkeit der orts- und regionalverantwortlichen Bischöfe als Leiter ihrer Kirche. In diese Richtung weist, um es noch einmal zu sagen, die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, das Mitwirken bei der Ernennung von Bischöfen, die Rolle der Bischofskonferenzen in der Kirche.
Angesichts eines gegenseitigen Misstrauens, einer Angst im kurialen Bereiche selber, dass der innerkirchliche Dialog die Einheit gefährde und die Loyalität der Zusammenarbeit untergrabe, muss auch aus meiner Sicht hingewiesen werden:
Ohne das Petrusamt in der Katholischen Kirche, ohne römischen Papst würden wir alle in Bedrängnis geraten: Wer hätte sonst ein Zweites Vatikanisches Konzil einberufen können, außer Papst Johannes? Wer hätte auf internationaler Ebene so eindrucksvoll für Menschenrechte, menschliche Freiheit und Würde gesprochen, in Verbindung mit der Botschaft Christi, als der römische Papst, Johannes Paul II.? - Es geht hier nicht um eine Eliminierung des römischen Papstes als Garant und Zeichen der Einheit, sondern darum, jene neue und im Grunde auch alte Form kirchlicher Führung zu finden, die in besonderer Weise auch dem ökumenischen Anliegen dient. Wenn nicht das Kollegium der Bischöfe mitverantwortlich wird in Verbindung mit dem römischen Bischof, so werden weder Orthodoxe, noch Anglikaner, noch protestantische Kirchen an der Fortführung der Ökumene mit praktischen Schritten in Richtung Einheit interessiert sein.
Heute geht es darum, die Aufgabe des Bischofs von Rom zu sehen in Verbindung mit der kollegialen Mitsorge, Mitverantwortung der Bischöfe, für die Gesamtkirche, im Sinne des Konzils; aber nicht nur das: es geht gerade an der Schwelle des neuen Millenniums darum, die notwendigen Folgerungen für die Praxis in Angriff zu nehmen.
Solche Überlegungen ändern nichts an der Struktur der Kirche selber, sondern sprechen für eine Rückkehr zu einer dezentralisierten Form der obersten kirchlichen Führung früherer Jahrhunderte - und das scheint mir - angesichts der Weltkirche - ein Gebot der Stunde zu sein.