Gedanken zur Erneuerung der Seelsorge
Das Herzstück der Erneuerung wird die Hinführung jedes einzelnen Menschen zur eigenen religiösen Erfahrung sein. So wie die Wissenschaft (deren Erkenntnisprinzip die methodische Erfahrung ist) den Grundton der modernen technisch-industrialisierten Gesellschaft darstellt, so wird die eigene religiöse Erfahrung den Grundton kommender Gläubigkeit darstellen. Der Mensch von heute und morgen wird gläubig sein, wenn es ihm gelingt, zu diesen eigenen religiösen Erfahrungen zu gelangen. Wenn ihm dies nicht gelingt, wird er den Worten Christi in immer krasserem Unverständnis gegenüberstehen. Die eigene religiöse Erfahrung ist die Schlüsselstelle, das Herzstück, das Zentrum und die Bedingung kommender Erneuerung im Glauben. Ein bloßer Autoritätsglaube wird dem Menschen unserer Zeit innerlich fremd, innerlich unmöglich. Die Seelsorge muss dem Menschen helfen, zum Sinn und zur Liebe zu finden, zu Werten und zur Entfaltung der eigenen Anlagen.
Der neue Weg der Seelsorge
Die Seelsorge im Zeitalter der Agrarkultur konnte sich auf die formende religiöse Kraft des Dorfes, der Dorfgemeinde verlassen. Die religiöse Formung des einzelnen geschah hauptsächlich durch das religiöse Brauchtum und Klima der Umwelt. Die Seelsorge konnte also immer die Gesamtgemeinde im Auge haben. Die Ziele dieser Seelsorge (die wir weder belächeln noch kritisieren) waren daher: das Mittun des einzelnen mit der Dorfgemeinde. Das heißt im Einzelnen: die Anwesenheit des einzelnen beim Gemeinde-Gottesdienst, bei den Prozessionen, das Mittun im religiösen Brauchtum der Familie, des Dorfes, des Landes. Das Grundziel dieser Seelsorge in der Agrarkultur lautete: der Gehorsam gegenüber der religiösen Autorität und das Mittun, das Sich-führen-Lassen von dieser religiösen Autorität.
Das Kernstück der Erneuerung im Glauben wird darin bestehen, dass die Seelsorger grundsätzlich das neue Ziel bewusst ins Auge fassen und eine gigantische Mühe auf sich nehmen: In Zukunft wird es nicht mehr darum gehen, dass der einzelne religiöse Mensch mit-tut, sondern das Grundziel der kommenden Seelsorge und der kommenden Seelsorger wird sein müssen: dass der einzelne Mann, die einzelne Frau, das einzelne Kind zu eigenen religiösen Erfahrungen gelangen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Umstellung ist uns heute wohl kaum noch bewusst.
Der Seelsorger der Zukunft wird in erster Linie ein Geistlicher sein müssen! Das heißt, ein Mensch, der selber über reiche, tiefe eigene religiöse Erfahrung im Geiste Gottes verfügt. Der Seelsorger der Zukunft wird so viel Autorität haben, als er religiöse Erfahrung hat und die Menschen zu eigenen religiösen Erfahrungen anleiten kann. Die Seelsorge wird daher immer mehr einem Verhältnis zwischen Meister und Lehrling ähnlich werden. Die bloße "An-Sprache", das bloße "Verkündigen" wird zu wenig sein. Es wird nicht darum gehen, eine Überfülle von Worten Christi zu "predigen", sondern zur eigenen Erfahrung und eigenen Ein-Sicht in diese Worte Christi hinzuführen. Bildlich ausgedrückt könnte man so sagen: Der Lehrling hat nichts davon, wenn ihm der Meister einen Vortrag hält, wie man mit der Drehbank, mit Feile und Schleifmaschine umgeht, sondern der Lehrling erwartet sich, dass man ihm die Handgriffe "beibringt", dass man ihn anlernt, dass man ihn in seinen eigenen Schwierigkeiten korrigiert, ihm hilft. Mit einem Wort: Es geht um eine richtige Ausbildung, um eine richtige Lehrzeit. Bis man "Geselle" und schließlich "Meister" geworden ist. Meister in der religiösen Erfahrung, Meister in der eigenen Einsicht.
Es wird also nicht darum gehen, traditionelle An-Sprachen über tausend Dinge zu halten, sondern zielstrebig zu arbeiten, damit jeder einzelne zu eigener religiöser Erfahrung gelangen kann. Und da wird es sehr ins Konkrete gehen müssen. Man wird konkrete Punkte vorlegen müssen, konkrete Anweisungen vorlegen müssen, die wir im folgenden Artikel näher besprechen wollen. Diese Aufgabe wird die neue Seelsorge nur dann bewältigen, wenn sie sich ganz bewusst auf dieses Ziel (Hinführung zur eigenen religiösen Erfahrung) einstellt und umstellt. Und wenn Meister der religiösen Erfahrung vorhanden sind.
aus: Franz Kardinal König, Der Aufbruch zum Geist, Styria, 1972, S. 160-162