Kirche im Spannungsfeld. Zentralismus statt Kollegialität?
Gerne habe ich die Einladung der Katholischen Akademie in Bayern angenommen, der Tagung "Kirche zwischen Zentralismus und Kollegialität" einige einleitende Überlegungen voranzustellen. Damit möchte ich aber auch der Katholischen Akademie meine Anerkennung aussprechen, dass sie versucht, die mit diesem Thema angedeuteten Spannungen der letzten Zeit fruchtbar zu machen für Lösungen und Antworten, die von beiden Seiten anzustreben sind. Entgegengesetzte Positionen können zu einem Justamentstandpunkt führen, sie können aber auch Anlass sein, das Gemeinsame höher zu schätzen als das Trennende. Das gilt besonders dann, wenn um die Einheit des christlichen Glaubens gerungen wird. Nach meiner Meinung geht es hier nicht so sehr um einen Gegensatz von Wahrheit und Irrtum, von authentischem, christlichem Glauben und verwaschenen Kompromissen. Ich halte mich an Papst Johannes XXIII., der zum Anfang des Konzils meinte, man müsse unterscheiden zwischen der Wahrheit einerseits und der Art und Weise ihrer Verkündigung andererseits.
Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, auf Themen und Fragestellungen der Tagung selbst einzugehen; ich möchte mich darauf beschränken, hinzuweisen auf Zeichen der Zeit, die nicht den Glaubensinhalt infrage stellen, sondern eher Schwierigkeiten meinen, in die eine Weltkirche zusehends gerät, ja vielleicht sogar geraten muss. "Kirche und Welt" bedeutet nicht nur, die Welt in ihrer heutigen Gestalt ernst zu nehmen, sondern auch, auf die sich wandelnden geistigen Einflüsse Rücksicht zu nehmen, die die Kirche selber vor neue Herausforderungen stellt.
1. Ich beginne mit der in der Einladung zu dieser Tagung angedeuteten Spannung zwischen vatikanischem Zentralismus und bischöflicher Kollegialität. Die unierten Kirchen des Ostens sind diesbezüglich ohne Zweifel in einer anderen Lage. Die Idee der Kollegialität ist im Anschluss an das I. Vaticanum vom II. aufgegriffen und ausführlich behandelt worden. Ein Ergebnis z. B. ist jener Passus in der Dogmatischen Konstitution des II. Vaticanums über die Kirche (LG 22 und nota 1), in dem es heißt: "Wie nach der Verfügung des Herrn der heilige Petrus und die übrigen Apostel ein einziges apostolisches Kollegium bildeten, so sind in entsprechender Weise der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, und die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, untereinander verbunden. Schon die uralte Disziplin, dass die auf dem ganzen Erdkreis bestellten Bischöfe untereinander und mit dem Bischof von Rom durch das Band der Einheit, der Liebe und des Friedens Gemeinschaft hielten, ... (weist) auf die kollegiale Natur und Beschaffenheit des Episkopates hin" (also nicht nur die Ökumenischen Konzilien der Kirchengeschichte, so füge ich hinzu). Eine solche Vorstellung von Kollegialität hat beim letzten Konzil nicht nur theologisch, sondern auch praktisch ihren guten Ausdruck gefunden.
Die Schwierigkeit beginnt allerdings später: nämlich vom konziliaren, kollegialen Zusammenwirken der Bischöfe mit dem Zentrum beim Konzil selber einen weiteren Weg für die spätere Zeit, außerhalb und nach dem Konzil, zu finden. Es war ein Gedanke Papst Pauls VI., dem die Kollegialität besonders am Herzen lag, deren praktische Ausübung nach dem Konzil in der Form von Bischofssynoden zu versuchen. Eine größere oder kleinere Teilnehmerzahl von Bischöfen, z.B. die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen der verschiedenen Länder, sollte diesen Gedanken in die Tat umsetzen. Bei diesen Zusammenkünften, so wende ich ein, also bei Bischofssynoden oder ähnlichen Gremien, ging es aber praktisch immer um die Kirche im universalen, globalen Sinn. Die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten beginnen in jenem Falle, wo es sich um Probleme einer oder mehrerer Diözesen handelt, wie z.B. in Mittel- und Westeuropa nach dem Konzil. Eine allgemeine Berufung auf Kollegialität wird in solchen Fällen nicht ausreichen, um Lösungen zu finden. Die Schwierigkeiten der letzten Zeit, z.B. Bischofsernennungen, deuten auf noch zu lösende theologische und praktische Aufgaben hin. Das heißt: Wie ist Kollegialität von der globalen, universalen Ebene der Kirche zu übertragen auf örtliche Bischofskonferenzen oder Gruppen von Bischofskonferenzen? Ich sehe hier eine Schwierigkeit, eine Aufgabe nicht nur für Rom, sondern auch für die regionale Ebene. Für beide Seiten geht es auch hier um Einheit in Vielfalt.
2. In den letzten Jahren ist das Stichwort von der Inkulturation wiederholt aufgetaucht. Dabei geht es um verschiedene Kulturen, die geprägt sind durch je eigene Sprache, Tradition und Volkstum. Hier geht es um eine Einwurzelung der einen Kirche in die verschiedenen Kulturkreise und geistigen Welten, ebenfalls Einheit in Vielfalt. Das gilt meiner Meinung nach nicht nur für die Missionsländer, sondern für alle Teile der Welt, auch für Westeuropa.
Im Oktober 1988 hat die Internationale Katholische Theologenkommission mit dem Placet des Präfekten der Glaubenskongregation ein Dokument verabschiedet. (1) Der Text trägt die Überschrift "Der Glaube und die Inkulturation". Er wurde zusammen erarbeitet mit dem neugebildeten "Päpstlichen Rat für Kultur". In diesem Text wird unter anderem darauf hingewiesen, wie sehr die Inkulturation dem Papst selber ein Anliegen sei und wie er wiederholt davon gesprochen habe. Im Dokument geht es um konkrete Fragen der Inkulturation, wie z. B. Volksfrömmigkeit, Begegnung mit nichtchristlichen Religionen, junge Kirchen mit ihrem alten Erbe der Stammeskulturen. Das Schlusskapitel "Der Glaube und die Moderne" nimmt deutlich Bezug auf die westeuropäisch-amerikanische Situation von heute. Die Kirche müsse sich, so heißt es, mit "Sympathie den Kulturen unserer Zeit öffnen". Das bedürfe eines mutigen Prozesses im Sinne der Inkulturation, damit das "Evangelium in das Zentrum der Kultur selber eindringen kann" (2).
Die technisch veränderte Welt, die Verbreitung städtischer Lebensgewohnheiten, so meint man, stellen uns vor die dringende und schwierige Aufgabe, die moderne Kultur mit ihren positiven und negativen Merkmalen zu verstehen, damit aber auch das Verborgene, steigende Verlangen nach geistigen Werten, nach dem Evangelium Christi zu erkennen. Die geänderten Lebensverhältnisse unserer modernen Zeit, die Kulturformen unserer sogenannten Moderne sind es, in die die Kirche von morgen hineingebaut werden soll.
Aber auch das, so stelle ich jetzt fest, kann nicht von oben allein geschehen, sondern in enger Zusammenarbeit mit jenen Teilbereichen der Universalkirche, die durch die gleiche Sprache und Lebensgewohnheiten sich als Moderne verbunden fühlen. Das deutet wieder hin auf die notwendige Zusammenarbeit von Zentrum und regionalen Bischofskonferenzen - gewiss unter Beachtung der hierarchischen Rangordnung. Eine Europäische Bischofskonferenz scheint mir diesbezüglich überfordert. Es geht nicht nur um schriftliche Informationen, sondern um mündliche Kontakte im beiderseitigen Interesse.
Die Begegnung von Glaube und moderner Kultur reicht ohne Zweifel weit hinein in die Aufgaben eines modernen Laienapostolates. Der schriftliche Dialog mag in allen diesen Fällen gut sein, der mündliche Dialog im Interesse der Einheit und Vielfalt ist heute mehr denn je notwendig. Meine Frage: Sind damit zu guter Letzt die heute bestehenden Strukturen im Vatikan samt den Nuntiaturen nicht überfordert?
Damit möchte ich die zusätzliche Frage stellen, ob nicht unsere säkularisierte und pluralistische Gesellschaft auch positiv gesehen werden kann.
Sie ist eine durch die Medienwelt geprägte Kultur mit neuen Lebensgewohnheiten. Es ist eine Kultur, in der wir leben und für die wir ebenfalls die Inkulturation des Evangeliums immer wieder neu überlegen müssen. Das kann aber - ich beziehe mich auf den Jesuitenpater Sorge von Palermo - nicht allein von oben, sondern vor allem durch eine innere Umkehr der Menschen von unten geschehen.
3. Der englische Kirchenhistoriker C. Butler (3) meinte am Schluss seiner historischen Darlegungen über das I. Vaticanum, einem späteren Konzil gebe er den Rat, seine Verhandlungen nicht hinter verschlossenen Türen zu führen, um sich nicht durch ein Konzilsgeheimnis von der Öffentlichkeit abzuschirmen; auf solche Weise könne man einigermaßen verhindern, dass Gerüchte und irreführende Kommentare die öffentliche Meinung gegenüber der Kirche überwiegend negativ beeinflussen. Das II. Vaticanum ist nach anfänglicher Unsicherheit zu der Erkenntnis gekommen, es habe wirklich keinen Sinn, sich hinter einem Konzilsgeheimnis zu verstecken. Es öffnete die Pforten den Nachrichtendiensten, den Medien, richtete ein Pressebüro ein und veranlasste regelmäßige Pressekonferenzen. Es veröffentlichte bald ein eigenes Dekret über soziale Kommunikationsmittel. Das Weltinteresse am II. Vaticanum war nicht zuletzt aus diesem Grunde überaus groß.
Seit der Zeit haben sich die Medien aller Vorgänge innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche bemächtigt. Sie verfolgen mit den ihnen eigenen weltlichen Maßstäben die Beziehungen von Kirche und Welt oder umgekehrt. Dies umso mehr, als im Dokument "Gaudium et spes" der Satz steht: Die katholische Kirche "erfährt sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte ganz eng verbunden". Mit dieser Art und Weise der Informationen, einer Prägung der öffentlichen Meinung durch die modernen Kommunikationsmittel, müssen wir leben, ob wir wollen oder nicht.
Meine Frage: Haben wir schon gelernt, mit der Welt der Medien als Christen, als katholische Christen, aufgeschlossen, aber auch kritisch, sehr kritisch, umzugehen? Für diese unsere Welt, in Wort und Tat, das Glaubenszeugnis abzulegen, ist heute gewiss anders zu verstehen als in der nachapostolischen Zeit oder auch noch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Gibt es in dieser durch Medien geprägten geistigen Umwelt nicht auch Missverständnisse infolge einer medialen Vereinfachung, einer oftmals irreführenden Umsetzung einer komplexen Wirklichkeit, nämlich des Göttlichen und der menschlichen Elemente in der Kirche, in die politische Alltagssprache? Gibt es nicht immer wieder interpretative Veränderungen kirchlicher Sachverhalte durch die Berichterstatter? (Ohne böse Absicht, so möchte ich zunächst annehmen.) Man kann nicht alle kirchlichen Nachrichten nach dem Schema von kurzlebigen Sensationen wiedergeben. Daher bedarf es heute innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft nicht nur schriftlicher Berichterstattung, sondern mündlichen Kontaktes als Richtigstellung bzw. Relativierung der medial gemachten öffentlichen Meinung.
4. In diesem Zusammenhang taucht schließlich die Frage auf, wie das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche zu verstehen ist. Walter Kasper hat erst kürzlich darauf hingewiesen, (4) dass das Prinzip der Subsidiarität auch für den Bereich der Ortskirche in Relation zur Universalkirche gültig ist. Wie bekannt, geht es bei diesem Prinzip um das rechte Verhältnis von personaler (regionaler) Eigenverantwortung und übergeordnetem Gemeinwohl. Ich gehe mit den Theologen davon aus, dass der Charakter des Mysteriums in der Kirche (5) den Sozialcharakter der Kirche nicht auslöscht. Nach der Darlegung von "Lumen gentium" ist die Kirche als "komplexe Wirklichkeit" zu sehen, die aus göttlichen und menschlichen Elementen sich aufbaut. Die Kirche ist - so das II. Vaticanum - nicht nur ein Mysterium, sondern auch eine societas (LG 23). Übrigens war es Pius XII. - sicher nicht vom II. Vaticanum beeinflußt -, der in seiner großen Rede vom 20. Februar 1946 feststellte: "Auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur, gilt das Subsidiaritätsprinzip." (6) Ich zitiere dazu W. Kasper: "In besonderer Weise gilt das Prinzip der Subsidiarität vom Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche. So wenig sich die Ortskirche von der Universalkirche trennen und einen eigenen Weg gehen kann, ebensosehr lebt die Universalkirche nur in Ortskirchen ..." (7) Für unsere Gespräche scheint es mir wichtig zu sein, dass wir uns vor Augen halten: Hier sind noch eine Reihe von theoretischen Fragen vor uns, die für die Zukunft der Kirche von großer Bedeutung sind, vor allem für das Verhältnis von Bischofskonferenzen und Vatikan. Die Frage der Inkulturation ist davon verschieden, aber benachbart. Ich zitiere die letzten Sätze aus dem angeführten Beitrag von W. Kasper: "Die Sache, um die es geht, ist die Freiheit in der Kirche. Es gilt herauszustellen, dass und wie christliche Freiheit und Gemeinschaft in der konkreten katholischen Kirche sich nicht fremd sind, sondern unlösbar zusammengehören. Nicht zuletzt davon hängt heute die Glaubwürdigkeit der Kirche entscheidend ab." (8)
Hier ist der neuralgische Punkt, um auf die Frage von Angst und Misstrauen in der Kirche hinzuweisen: Die Sorge um den rechten katholischen Glauben in der hierarchischen Ordnung ist für die gesamte Kirche vom Papst bis zum Pfarrer eine ganz vitale Angelegenheit. Diese Sorge wird getragen vom Glauben und der Hoffnung, aber auch von dem Satz im Johannesevangelium: "Euer Herz lasse sich nicht verwirren, glaubt an Gott und glaubt an mich" (Joh 14,1). Wenn aber die Sorge um die Kirche und das gläubige Wissen um den Beistand des Heiligen Geistes abgelöst wird durch Unsicherheit, Angst, Misstrauen, dann stimmt etwas nicht. Auch in der Welt von heute sind Kleingläubigkeit und Verzagtheit nicht die Tugenden der Christen.
Ich verweise auf den Schluss von "Gaudium et spes": Das alles "verlangt von uns, dass wir vor allem in der Kirche selbst, bei Anerkennung aller rechtmäßigen Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht pflegen, um so ein immer fruchtbareres Gespräch zwischen allen in Gang zu bringen, die das eine Volk Gottes bilden, Geistliche und Laien. Stärker ist, was die Gläubigen eint, als was sie trennt. Es gilt (mit Johannes XXIII.) im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe" (GS 92).
Anmerkungen
(1) La foi et l'inculturation. Document de la Commission théologique internationale, in: La Documentation Catholique 86 (1989) 281-289.
(2) Vgl. ebd. 288.
(3) The Vatican Council, 2 Bde., London 1930.
(4) W. Kasper, Zum Subsidiaritätsprinzip in der Kirche, in: Internationale Katholische Zeitschrift (1989) 155-162.
(5) Siehe den Beitrag von J. Kremer, S. 20-23.
(6) AAS (1946) 144.
(7) A.a.O. 161.
(8) A.a.O. 162.