Eine Kirche für alle?
Nach den ersten drei Jahrhunderten der Verfolgung und der heldenhaften Märtyrer wurde die Kirche zur Volkskirche: vom Staat gefördert, im engen Bündnis von Thron und Altar. Bischöfe waren zugleich Reichsfürsten, Berater des Kaisers, Beamte und Mitarbeiter des Kaisers. Und umgekehrt: Der Landesherr wusste sich zugleich verantwortlich, dass in seinem Gebiet überall Kirchen gebaut und Priester bestellt wurden und die Seelsorge voranging. Staat und Kirche waren eng verbunden, mit allen Vor- und Nachteilen.
Licht und Schatten der Volkskirche
Die Kirche hat sich über diese enge Bindung an den Staat gefreut, denn es geschah dadurch viel Gutes. Das ganze Volk, bis zum letzten Bauernhof, kam mit dieser Kirche in enge Berührung: Die Roratemessen waren ein Volksfest, die Prozessionen des Landvolkes ein Anliegen der ganzen Gemeinde, die Volksprediger hatten Zulauf, Kloster neben Kloster barg die Idealisten des Volkes. Fastenzeit, Ostern, Auferstehung, Flursegnung: alles war durchwoben vom Brauchtum des Volkes, stand beim Volk in Ehren, hat die Menschen jener Zeit geprägt. Sie fanden an ihrem Glauben eine Stütze, sie wussten sich geborgen, wussten sich aufgerufen und gefordert, wussten um Gewissen, Verantwortung und reichen Lohn bei jenem Vater, der über ihnen wacht. Es war das langsame Heranreifen all jener Worte, die später Mode machen sollten: Brüderlichkeit, Menschenwürde, Menschenrechte, Gleichheit aller Menschen vor Gott, Gewissen, Barmherzigkeit, Verantwortung für die Armen, Schule, Bildung, Liebe zu aller Kreatur ...
Aber es gab auch die andere Seite. Denn eine große Masse ist schwer zu lenken und kaum zu den Tiefen der Gotteserfahrung zu führen. Und deswegen ist in diesen Zeiten der Volkskirche die Versuchung zur Oberflächlichkeit und Veräußerlichung der Religion allzeit präsent gewesen: Man wollte eben nur das predigen, was alle verstehen. Aber das ging vielfach auf Kosten der Tiefe, des Geistes, des Innerlichen.
Wir verstehen wohl, dass damals die Gebote der Liebe oft zu Faustregeln herabsanken: zu einfachen Gesetzen und Normen, ähnlich wie beim Staat; obwohl Jesus das keineswegs so gemeint hat; aber es sollten eben Faustregeln sein, die jedermann schon in der Volksschule lernt und bis in sein Greisenalter behält und erfüllt.
Ähnlich war es bei den Sakramenten. Die Gefahr der Veräußerlichung, des Missverstehens als Automaten Gottes lag überall dort nahe, wo die tiefinnere Erfahrung fehlte.
Ähnlich war es mit der Führung des gläubigen Volkes, mit dem Hirtenamt. Um so viele Menschen auf die Wege Gottes zu leiten, braucht es große Autorität. Wir begreifen, dass es angesichts dieser Millionenmassen oftmals eine harte Autorität wurde, bis zum Despotismus. Es war oft nicht jenes brüderliche "Dienen", das Jesus gezeigt hatte. Aber wir begreifen auch: Es war nicht einfach, die große Masse der Menschen wirklich zu führen.
Darf die Kirche überhaupt eine Volkskirche sein?
Heute hört man viele Stimmen, die das Ende der Volkskirche wünschen. Die Gegner dieser Volkskirche führen mehrere Gründe an:
Erstens: Eine Kirche des ganzen Volkes könne niemals, so sagen jene, das Ideal verwirklichen, das Christus gemeint hat.
Zweitens: Eine Volkskirche könne der Versuchung zur Macht nicht widerstehen, der Versuchung zum Reichtum, der Versuchung, ein ungutes Bündnis mit dem Staat einzugehen. (So sagen sie.) So eine Volkskirche wird dann gutheißen, was der Staat seinen Bürgern an Unrecht zufügt: Unterdrückung, soziale Ungerechtigkeit, Kriege, Ausbeutung, Unfreiheit, fehlende Mitbestimmung usw.
Drittens: Diese Volkskirche sei ohnedies schon vor dem Zusammenbruch. (So sagen sie.)
Viertens: Eine Volkskirche kann nur dadurch entstehen, dass man schon die kleinen Kinder tauft. Aber diese Kindertaufe, so behaupten jene, sei Verrat an jenem Glauben, den Jesus gemeint hat. Die Kindertaufe (so behaupten jene) degradiert die Taufe zu einem bloßen Volksbrauch, der keine religiöse Bedeutung mehr habe.
Wir verstehen, was diese vier Einwände meinen. Und es ist klar, dass jene Leute den Finger an wirkliche Wunden der Kirche legen. Aber ich glaube nicht daran, dass die "Abschaffung" der Volkskirche bessere Zustände schaffen würde! Im Gegenteil. Nicht die Volkskirche ist daran Schuld, dass es tatsächlich manchen Missstand, manches schreiende Elend in der Kirche gibt. Die Ursache liegt tiefer. Es fehlt an der Kraft und am Tiefgang des Gottesgeistes! Wenn dieser Geist Gottes hinreichend in den Menschen lebendig ist, dann wird auch die Volkskirche eine gute Kirche sein, Kirche nach dem Herzen Gottes. Wenn dieser Geist aber fehlt, dann nützt auch die Abschaffung der Volkskirche nichts. Dann wird auch eine Zwerg-Kirche im Wesentlichen dieselben Mängel aufweisen wie die Volkskirche; nur dass dann andere, noch ärgere Mängel dazukommen. Eine sogenannte "Elitekirche" würde dann gerade jene Menschen anlocken, von denen Jesus nicht viel gehalten hat: die Überheblichen, die Selbstgerechten, die sich gegen die anderen abkapseln und mit den "Zöllnern" nicht am selben Tisch essen wollen. Die Kirche wird nicht dadurch besser, dass sie kleiner wird, sondern dass sie Geist-voller wird, in die Tiefe gräbt.
Jesus wollte Hoffnung für alle bringen!
Ich glaube nicht daran, dass die Kirche dadurch besser wird, dass man alle sogenannten "Fernstehenden" aus ihr vertreibt. Denn das wäre gegen die Absicht Christi. Er hat nämlich gerade jene gesucht, die sich im religiösen Leben selber nicht mehr helfen können! Er hat von sich gesagt: "Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder" (Mt 9,13). Jesus wusste sich gerade zu den "Kranken" gesendet, zu den religiös Schwachen, zu den religiös Blinden: "Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken!" (Mt 9,12). Er ist als der Barmherzige gekommen, der Mitleid hatte mit den Menschen, die nicht mehr zu Gott finden können, sich verlaufen haben, an Gott gescheitert sind: "Gehet hin und lernt verstehen, was das heißt: Barmherzigkeit will Ich und nicht Opfer" (Mt 9,13). Er wollte nicht den "glimmenden Docht löschen" und nicht das "geknickte Rohr brechen" (Mt 12,20). Jesus wäre der letzte, der diese religiös Armen, Heruntergekommenen oder nie Entfalteten aus der Kirche davonjagen würde. Es wäre gegen Sein Denken, gegen Sein Herz.
Im Gegenteil. Damit Seine Jünger begreifen, was Er von diesen religiös "Armen" hält, hat Er ihnen ein Gleichnis erzählt: "Wenn du ein Mittagessen oder ein Abendmahl gibst, so lade nicht deine Freunde, noch deine Brüder, Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich ein und vergelten es dir. Nein: Wenn du ein Gastmahl gibst, so lade die Bettler, Krüppel, Lahmen und Blinden ein! Wohl dir alsdann!" (Lk 14,12-14). Gott selber gibt für uns so ein "Gastmahl" (Lk 14,15-24). Er lädt uns dazu ein, obwohl wir religiös blind, lahm und verkrüppelt sind, mit leeren Händen dastehen: "Geht schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und holt die Bettler und Krüppel, die Blinden und Lahmen herein" (Lk 14,21). Die Kirche soll der Anfang des Gottesreiches sein, Anfang jenes "großen Gastmahles". Gerade deswegen will die Kirche nicht jene verstoßen, um die Jesus sich so sehr gesorgt hat: die Fernstehenden und Sünder, Halbgläubigen und Suchenden.
Jesus wollte alle haben, alle. Er hat sich nicht mit den 99 Schafen begnügt, die Er besitzt, Er wollte auch noch das hundertste! "Wenn einer von euch hundert Schafe besitzt und davon eines verliert, geht er nicht dem verlorenen nach, bis er es findet?" (Lk 15,4). Jesus will nicht die 99 Prozent, sondern die 100 Prozent! Jesus meint die Hoffnung für alle, weil Er alle beschenken will, allen Sein Leben reichen will, alle an Seinen Tisch laden will. Jesus hat nicht einmal jene aus der Gemeinschaft Gottes verstoßen, die nach der Meinung der Menschen auf der untersten Sprosse standen. Sogar das Gebet des Zöllners hat Er gutgeheißen: "Gott sei mir armen Sünder gnädig!" Jesus hat versichert: "Dieser Mann ging gerechtfertigt nach Hause" (Lk 18,14). Haben wir das Recht, den aus der Kirche auszuschließen, den Jesus gutgeheißen hat?
Jesus hat von vielen Menschen gesagt, dass sie vor Gott einen schweren Stand haben werden. "Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes" (Lk 18,25). "Wer kann dann noch gerettet werden?" fragen Seine Jünger. "Was für Menschen unmöglich ist, ist möglich für Gott", sagt Jesus (Lk 18,27). Er hat Seinen Jüngern damit zu verstehen gegeben: Es gibt wirklich "unmögliche" Menschen, mit einem Herzen aus Stein; und dennoch gibt es auch für sie noch Hoffnung: "Was für Menschen unmöglich ist, ist möglich für Gott."
Deswegen glaube ich an die Volkskirche. Sie beherbergt viele "Zöllner", "Reiche", religiös "Lahme", religiöse "Krüppel", religiös "Verlaufene", die von Gott und Seinem Reich wenig verstehen. Aber gerade an diesen Menschen wollte Jesus die Macht Seiner wunderbaren Liebe erweisen. Auch sie sollen an Seinem großen Gastmahl teilnehmen.
Die Voraussetzungen für eine echte Volkskirche in dieser Zeit
Die Volkskirche von morgen kann nicht mehr unter denselben Voraussetzungen leben wie die Volkskirche vergangener Jahrhunderte. Vor allem fehlt die enge Bindung zwischen Thron und Altar. Die Volkskirche von morgen wird daher auf manche äußere Stütze verzichten müssen. Sie muss auf eigenen Füßen stehen: Vor allem müssen jene kleinen religiösen Gemeinschaften, von denen wir früher gesprochen haben, allerorten und in großer Zahl aufgebaut werden. Sie müssen der heiße Kern der Kirche sein, der Ofen, der das ganze Klima der Kirche wärmt, durchglüht, lebendig macht. Die zweite Bedingung für eine echte Volkskirche von morgen ist der Aufbau einer echten Seelsorge an jenen, die der Seelsorger nicht namentlich kennt, die ihm fremd sind von Angesicht zu Angesicht, die er daher nur als "Masse" ansprechen kann, obwohl er jeden einzelnen von ihnen meint. Die Kirche hat die Wege zu dieser Seelsorge durch Massenmedien noch nicht gefunden. Ein römisches Rundschreiben hat vor kurzer Zeit diese Tatsache ganz ehrlich, wenn auch traurig, ausgesprochen. Diese Seelsorge durch Fernsehen, Presse, Hörfunk, Plakate usw. ist nämlich eine sehr kostenreiche Angelegenheit. Es fehlen uns die hinreichenden Mittel.
Ob der Aufbau der Volkskirche von morgen gelingt, wird weitgehend von uns allen abhängen. Es wird wie eine Volksabstimmung sein: ob sich die Menschen zur Verfügung stellen und ob sie die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die für eine so tiefgehende Seelsorge unbedingt notwendig sind. Nur wenn sich unser Volk dazu entschließt, mehr als bisher mitzuhelfen, wird diese "Volksabstimmung" die Volkskirche von morgen ermöglichen. Von Ihnen allen wird es abhängen, ob und in welchem Maße wir dieses Aufbauwerk beginnen können und durchhalten.
aus: Franz Kardinal König, Das Zeichen Gottes. Die Kirche in unserer Zeit, Styria, 1973, S. 78-84