Clemens Maria Hofbauer: konservativ und progressiv
Es ist ein weiter Weg, den die Kirche von Wien in den 150 Jahren seit dem Tode des hl. Clemens Maria Hofbauer zurückgelegt hat. Es war nicht immer ein geradliniger Weg aufwärts. Es hat Rückschläge gegeben und immer wieder neue Anfänge. Die Kirche hat aus beidem gelernt: aus dem, was sie getan, und aus dem, was sie versäumt hat, aus ihren Wegen und ihren menschlichen Umwegen. Sie hat in ihrer irdischen Gestalt, die sie ja auch ist - hineingestellt in Zeit und Umwelt -, dieser Zeit und dieser Umwelt ihren Tribut gezollt: Sie hat Bindungen geschlossen und gelöst, sie hat viel Richtiges getan und hat sich manchem, was sie hätte tun sollen, versagt. Sie hat vieles gesehen und manches übersehen. Sie hat in ihrer menschlichen Gestalt den Weg des Volkes in Glück und Unglück, in Irrtum, Schuld und Sühne begleitet.
Die Kirche von Wien war immer zugleich beides: Kirche des Volkes von Wien und Teil der Weltkirche. Sie war beides, vielleicht nicht immer in ausreichendem Maße. Sie hat ihre Aufgaben in beiden Bereichen vielleicht nicht immer ganz bewältigt. Sie ist, weil sie ja eine Kirche der Wiener und Österreicher ist, der Entwicklung manchmal mehr nachgehinkt als ihr vorangeschritten. Aber immer hat sie gewusst, dass sie Kirche nur sein kann, wenn sie Verbindung mit der Weltkirche und ihrem Oberhaupte hält.
Die Verbindung mit dem Volke, das hieß einmal Volkskirche. Eine Kirche, die sozusagen hineingewoben war in alle Lebensäußerungen des Volkes: in sein Denken und Fühlen, in Sitte und Brauchtum, in den Glauben und manchmal auch in die Fehlhaltungen des Volksglaubens. In diese Kirche wurde man hineingeboren. Das war die Kirche des Väterglaubens, die Kirche, der der Staat die moralische Erziehung des Volkes anvertraute, und die sich dem Staat gegenüber verbürgte, brave, anständige und folgsame Staatsbürger zu erziehen.
Diese kirchliche Lebensform gibt es heute bei uns nicht mehr, oder sagen wir: es gibt sie nur mehr in letzten Resten. Noch wird man in diese Kirche hineingeboren und hineingetauft. Aber wirksam für den Menschen selbst und auch für die Kirche wird diese Taufe erst dann, wenn ihr die persönliche Entscheidung eines mündigen Menschen nachfolgt; eine Entscheidung, die heute durchaus nicht mehr vorgeprägt ist durch Umwelt, Gesellschaft und konventionelle Verhaltensformen. Aus der Volkskirche wurde eine Kirche der Gemeinde, eine Kirche für einen kleineren Kreis von Menschen, die versuchen, bewusst nach ihrem Glauben zu leben. Aber auch diese Kirche muss insofern immer Volkskirche bleiben, als sie stets über sich hinausblickt, als ihr Denken und Handeln immer auch nach außen gerichtet sein muss, auf das ganze Volk hin; sonst läuft sie als Gemeindekirche Gefahr, zur Gemeindesekte zu werden.
Verbindung mit der Weltkirche
Diese Kirche hat auch immer Verbindung mit der Weltkirche gehalten und muss auch heute Verbindung mit der Weltkirche und dem Nachfolger Petri halten. Auch in den Formen dieser Verbindung hat sich ein gewisser Wandel vollzogen. Die Verbindung, die man früher mehr mechanisch oder automatisch gesehen hat, wird immer mehr zu einer organischen, lebendigen Verbindung. Verbindung halten drückt sich in erster Linie nicht in einem Befehls- und Gehorsamsmechanismus aus, sondern in einer selbstgewollten und freiwillig angenommenen Bindung und Verpflichtung. Menschliche Verbindung ist auch keine Einbahnstraße von oben nach unten, die Verbindung vollzieht sich ebenso von unten nach oben und untereinander. Das Konzil war Ausdruck einer solchen Verbindung. Die Diözesansynoden sollen es ebenfalls sein.
Jede Verbindung und Bindung im gesellschaftlichen und institutionellen Bereich braucht beides: die Freiheit und die Autorität. Ohne Freiheit und ohne Zustimmung erstarrt Autorität in sterilen Mechanismen, in bloß äußerer Herrschaft, in Diktat und Willkür. Aber ohne Autorität ist Freiheit ziellos, wirkungslos und mündet selbst wieder in Willkür.
Die Ausübung der Autorität
Man spricht heute vielfach von einer Autoritätskrise in der Kirche. Die Krise, das Unbehagen, das In-Frage-Stellen betrifft zunächst nicht die Autorität an sich, sondern die Formen der Ausübung der Autorität. Hier hat sich ein Wandel vollzogen. Hier müssen wir von mechanischen Vorstellungen wieder zu organischen zurückfinden; man kann auch sagen: zu menschlicheren Formen. Autorität selbst kann nicht infrage gestellt werden und wird, so glaube ich, auch heute nicht infrage gestellt. Wer Autorität zerstört und jede Autorität prinzipiell ablehnt, ist ein Wegbereiter neuer und vielfach härterer und unmenschlicherer Herrschaft. Ein Blick in die Geschichte zeigt uns das.
Autorität muss und kann in unserer unzulänglichen Welt nicht immer identisch sein mit dem Idealbild eines Autoritätsträgers. Auch ein menschlich unzulänglicher Vorgesetzter muss in der Gesellschaft, im Staat, in der Wirtschaft und auch in der Kirche Autorität besitzen, die aus seinem Amt, aus seinem Dienste erwächst. Autorität wird umso größer sein, je weniger sie es notwendig hat, sich äußerer Machtmittel zu bedienen, um sich durchzusetzen. Aber im äußersten Fall müssen ihr auch diese Mittel zur Verfügung stehen.
Man sagt oft, Jugend lehne heute jede Form der Autorität ab. Das kann man, so scheint mir, nicht so einfach und ohne Einschränkung sagen. Man kann nicht sagen, dass Jugend sich immer und überall heute jeder Aufgabe entziehe und nur ihrem Vergnügen leben will. Was die Jugend ablehnt, und ich glaube, mit Recht ablehnt, ist Manipulation, Mangel an echten Aufgaben, sich selbstverständlich gebende Verfügungen, das Nicht-gefragt-Werden, das Eingespannt-Werden in angebliche Automationen einer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Sie lehnt eine perfektionierte Welt ab, in der Fragen sinnlos scheinen, weil alle Antworten schon vorprogrammiert sind. Fragen aber ist das erste und letzte Recht, das menschlichste Recht eines jeden Menschen. Sollte es da nicht zuerst ein Recht der Jugend sein?
Fragen sind nicht immer bequem, auch Fragen an die Kirche nicht, und auch in der Kirche fragt die Jugend viel. Das uns selbstverständlich Scheinende ist ihr nicht immer selbstverständlich. Sie will zu allem einen eigenen und neuen Zugang haben. Wer mit autoritärer Entscheidung allein der Jugend das Fragen abgewöhnen will, der treibt sie erst recht in Trägheit oder Entartung, in Amusement oder in die Revolte. Wer aber der Jugend Aufgaben stellt, wer ihr diese Aufgaben menschlich begreiflich macht, auch schwierige Aufgaben - und es ist noch immer schwieriger, einen alten Menschen zu pflegen, ihm wirklich zu helfen oder einem Kind die Tränen abzutrocknen, als Programme und Resolutionen zu entwerfen -, wer solche Dienste, Aufgaben und harte Einsätze von der Jugend verlangt, der wird nicht enttäuscht werden und auch jene Autorität finden, jene natürliche Autorität, die man sonst so sehr zu vermissen meint.
Die Autorität muss flexibel sein, sie muss daher immer auch den Wandel in der Bewusstseinslage des Menschen, sie muss die Entwicklung in Rechnung stellen.
Die Methoden der Kirche wandeln sich
Das Selbstverständnis der Kirche ist heute ein anderes als vor 100 Jahren, und wird in 100 Jahren wieder anders sein als heute. Mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft müssen sich auch die Methoden der Kirche wandeln, mit denen die Kirche ihrem Auftrag der Verkündigung entsprechen will. Ein viel zitiertes Wort Hofbauers lautet: "Das Evangelium muss immer neu gepredigt werden." Sie kann sich nicht heute jener Formen und Methoden bedienen, nicht auf jene Art reagieren, wie es den Menschen und den Zuständen vor zwei oder drei Generationen entsprach.
Die Kirche muss daher stets auch nach neuen pastoralen Wegen und Formen suchen. Sie ist ja nicht in dem Sinne eine perfekte Gesellschaft, dass sie im menschlichen Sinne für immer vollendet wäre. Sie ist immer erst auf dem Wege zur Vollendung. Sie muss sich stets anpassen, sie darf sich aber nie in der Anpassung verlieren. Sie muss immer um die Zeitbedingtheit ihrer äußeren und oft sehr menschlichen Formen wissen. Sie darf solche Formen nie verabsolutieren, sie darf in ihren Methoden nie zu exklusiv werden; sie muss immer auf das Vergangene sehen, das ja nicht tot und begraben ist, sondern immer noch hineinreicht in unsere Gegenwart, auch in den Menschen. Und sie muss dem Neuen, dem Zukünftigen immer einen Weg offen halten.
Legitime Vielfalt der Liturgie
In Zeiten des Wandels muss die Kirche nicht nur einen möglichen Pluralismus der Theologie, gesellschaftlicher und politischer Formen zur Kenntnis nehmen, sie muss auch die legitime Vielfalt in der Liturgie zur Kenntnis nehmen und ihr auch Raum geben. Wir betrachten den Gebrauch der Muttersprache in der Liturgie als einen Fortschritt, aber viele Menschen unter uns hängen an den alten liturgischen Formen, in denen sie aufgewachsen sind, die ihnen ein Leben lang vertraut waren. Auch für sie soll die Kirche ein Haus sein, in dem sie sich auskennen, in dem sie sich wohlfühlen.
Auch hier sollten wir nicht exklusiv sein. Warum sollte nicht einmal am Sonntag auch eine Messe als lateinische Messe gefeiert werden? Sie ist ja nicht verboten. Warum sollten nicht in unseren Domen an Festtagen die Meisterwerke unserer österreichischen Kirchenmusiker erklingen? Sie erklingen ja ebenso zum Lobpreis Gottes wie das Gemeinschaftslied oder das Gemeinschaftsgebet. Wir sollten in den äußeren Formen das Neue nicht überbewerten und das Alte nicht allzu geringschätzen.
Die Kirche hat in den Augen vieler einen Nachholbedarf an Aggiornamento, an zeitlicher Anpassung. Aber mit einer gewaltsamen intoleranten Modernisierung, mit der Adaptierung außerkirchlicher gesellschaftlicher Formen an das kirchliche Leben ist noch nichts getan. In den Zeiten des Wandels ist die Toleranz ebenso notwendig wie der Mut. Und die Ehrlichkeit sollte immer noch mehr wiegen als die Taktik. Es ist ehrlicher zu bekennen, dass man nicht auf jede Frage gleich eine Antwort parat hat, als fragende Menschen mit Antworten aus der Vergangenheit abzuspeisen, die ihnen nichts mehr sagen. Es ist auch ehrlicher, nein zu sagen, als jedem die Antwort zu geben, die er gerne hören will. Solches sieht zwar diplomatisch aus, untergräbt aber jedes Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Kirche und damit auch in die Autorität. Diese Glaubwürdigkeit und diese Autorität werden natürlich auch nicht dadurch erhalten, dass man ganz einfach das Fragen, weil es lästig ist, als ungehörig unterbindet oder verbietet.
Ja zum Menschen - nein zu den Ideologien
Die Kirche als Kirche kann nicht allen alles sein. Das kann nur ein großer Heiliger wie Paulus als sein Ideal hinstellen und zu erreichen trachten. Es ist besser, wenn die Kirche das klar sagt, als wenn sie den Anschein erweckt, dass sie mit allem und jedem einverstanden ist. Wenn die einen das Interesse an einer Kirche verlieren, die nicht mehr ihrer angeblichen Hauptaufgabe, "Hüterin der bürgerlichen Gesellschaftsordnung" zu sein, nachkommt, so kann man ein solches Missverständnis eben sowenig mit Taktik ausgleichen wie auf der anderen Seite die Auffassung vertreten, die Kirche habe nur dann Sinn, wenn sie sich an die Spitze einer totalen politischen und gesellschaftlichen Revolution stellt. Die Kirche ist das eine nicht, aber auch nicht das andere. Sie kann sich nicht zum Werkzeug der einen oder anderen Vorstellung machen lassen. Sie muss immer ja sagen zum Menschen, sie muss immer auch die Kraft haben, zu den Ideologien nein zu sagen. Sie kann die Spannungen nicht aus der Welt schaffen und sie muss im geistigen Raum mit der Spannung leben.
Die Kirche ist immer beides: bewahrend und fortschreitend, konservativ und progressiv. Sie ist verpflichtet, die Offenbarung zu bewahren. Sie weiß aber auch, dass das Verständnis der Offenbarung sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat und weiter entwickeln wird. Sie weiß sich der Tradition verbunden, aber ebenso weiß sie, dass sie in ihrer menschlichen Gestalt immer reformbedürftig ist.
Kirche darf sich nicht selbst im Wege stehen
Die Kirche muss sich dagegen wehren, wenn jede Zeit eine neue Kirche erfinden will. Sie darf sich aber nicht sperren gegen ein neues zeitgemäßes Verständnis von Kirche. So gesehen, sind konservativ und progressiv einander ergänzende Strömungen in der Kirche; sie zu eliminieren oder sie einfach auf ein Missverständnis zurückzuführen, hieße, die Kirche der lebendigen Spannung und damit ihres Lebens zu berauben. Jahrhundertelang hat man in der Kirche nur eine konservative, eine bewahrende Kraft gesehen. An ihre Rockschöße hat sich zu manchen Zeiten alles geklammert, was abgestanden und überreif war. Heute versucht sie, all den unnötigen menschlichen Ballast abzuwerfen, um sich frei zu machen für die Aufgaben der Gegenwart und Zukunft. Aber ihre Zukunft kann nicht darin liegen, Motor einer totalen, aber auch bloß äußeren gesellschaftlichen Umwälzung zu sein. Sie kann sich nicht auflösen in ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Soziologie kann die Theologie nicht ersetzen, die Statistik nicht den Glauben. Die Kirche darf sich nicht selbst im Wege stehen, darf sich aber auch nicht von Vergangenheits- oder Zukunftsideologien aus dem Wege räumen lassen.
Ein Fremdarbeiter an den Seelen
Die Kirche ist zutiefst eine Gemeinschaft von Glaubenden. Dieser Glaube darf nicht in uns begraben werden. Er muss wirksam werden an unseren Mitmenschen. Der Herr wird uns beim jüngsten Gericht nach den Auswirkungen dieses Glaubens fragen, nicht zuletzt nach dem, was wir für unseren Bruder getan haben. Glaube ist aber nicht nur soziale Tat, und die Kirche nicht nur eine soziale Gemeinschaft allein. Vor Gericht werden wir jeder als einzelner stehen. Über das Christentum darf nicht der Christ vergessen werden, über der Gemeinschaft nicht der Mensch, der irrende, der zweifelnde, der strauchelnde und sündige, aber immer wieder hoffende und zur Liebe berufene Mensch.
Um diesen Menschen hat der hl. Clemens Maria Hofbauer in einer Zeit der geistigen Dürre, der institutionellen Erstarrung auch in der Kirche von Wien gerungen. Er war kein Gelehrter, kein großer Theologe, kein Programmatiker, kein Perfektionist, er war ein schlichter Arbeiter im Weinberg des Herrn. Er ist als Fremdarbeiter aus seiner mährischen Heimat nach Wien gekommen. Er ist zu einem Fremdarbeiter an den Seelen geworden. Er hat nicht zur Revolution gerufen, aber er hat eine wahre Revolution gemacht: Er hat aus einem dürren Acker eine neue Saat erweckt. Er besaß kein revolutionäres, soziales, wissenschaftliches, theologisches Programm. Sein Bestreben bestand in der Forderung: "Das Evangelium muss neu gepredigt werden!" Darin liegt eigentlich alles, darin liegt das Bewahrende und das Fortschreitende, darin liegt die immer wieder neu gestellte und immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe der Kirche, heute wie vor 150 Jahren.
zitiert nach: Franz Kardinal König, Der Mensch ist für die Zukunft angelegt. Analysen, Reflexionen, Stellungnahmen, Wien 1975, S. 205-211