"Die Friedensgebete von Assisi"
Der bekannte Kernphysiker an der Wiener Universität, Professor Higatsberger, Experte für Energie und Strahlenphysik, teilte mir kurz vor dem Ereignis von Assisi mit: Es gibt in Ost und West ein Bombenarsenal - das ist den Fachleuten bekannt und in Fachzeitschriften belegt -, in dem rund 50 000 Bomben lagern, das sind in der Summe 12 Milliarden Tonnen der herkömmlichen militärischen Sprengkraft. Sie reicht aus, um mehr als fünfzigmal Erde und Menschheit zu vernichten. (Vgl. dazu die 1986 erschienenen beiden Bände von Scope 28 "Environment consequences of Nuclear War".)
Die Gespräche über Langstrecken- und Mittelstreckenbomber, ihre Stationierung und ähnliches sind auf diesem Hintergrund eine Alibihandlung angesichts der viel größeren Gefahr noch dazu durch das vorhandene Plutonium. Die tödliche Dosis des Plutoniums liegt für den Menschen bereits im Mikrogramm-Bereich. Alle Bombentypen verwenden nach dem Prinzip der Wasserstoff-Fusion oder der Spalterreaktion Plutonium. Von diesem höchst gefährlichen Blutgift gibt es weltweit mehrere Millionen Kilogramm. Dazu beträgt die Halbwertzeit dieses Materials rund 24 000 Jahre. Hier liegen die akutesten und unmittelbarsten Gefahren.
Ein technisches, menschliches Versagen, die Rache eines Terroristen oder auch die verzweifelte Situation eines kleineren Staates können Anlass zur Vernichtung der Menschheit werden. Sie liegt im Bereich der unmittelbaren Möglichkeiten.
Nicht ohne innere Erregung habe ich daher die Ankündigung, die Vorbereitung und das Ereignis von Assisi am 27. Oktober 1986 mitverfolgt. Denn dort kam die Sorge um den Frieden unter den Völkern in einer neuen, bisher nicht gekannten Form zum Ausdruck. Bei der Begegnung von Vertretern der monotheistischen Religionen, der Christen mit Juden und Muslimen, und von Buddhisten und Hindus mit Vertretern der Religionen aus dem indischen und afro-asiatischen Raum - in Assisi, wo Franziskus am 3. Oktober 1226 starb, eingeladen durch das Oberhaupt der katholischen Christenheit - wollten die Vertreter der verschiedenen Religionen nicht miteinander sprechen, diskutieren und gemeinsame Erklärungen abgeben, sondern schlicht und einfach miteinander beten. Das heißt, die einzelnen Religionsgemeinschaften haben für sich Gebete gewählt und gesprochen, ohne damit eine Gebetssynthese oder eine gemeinsame Gebetsbasis ins Auge zu fassen.
Weltkongresse anderer Art hat es früher schon gegeben. So hatte bereits im Jahre 1921 der deutsche Religionshistoriker Rudolf Otto einen "Religiösen Menschheitsbund" begründet, um dadurch im Falle einer Kriegsgefahr das Weltgewissen zu mobilisieren. Vor Beginn des letzten Weltkrieges sprach Friedrich Heiler auf einem Kongress des "Weltbundes der Religionen" über die Einheit und Zusammenarbeit aller Religionen. Dabei war nicht von Gebet die Rede, sondern von Aktionen, die nationale Gegensätze überbrücken sollten. Ähnliche Versuche sind von Indien und Amerika ausgegangen. Das Bestreben solcher Weltkongress ging dahin, eine Art "Föderation der Religionen" zu erreichen. Im Jahre 1954 wurde in Japan ein Weltkongress der Religionen einberufen, um dem Weltfrieden durch die Zusammenarbeit der Religionen zu dienen. Die offizielle Parole lautete: "On the Foundation of a World Peace through Religion". In Amerika versuchte man in den fünfziger Jahren durch ähnliche Kongresse das liberale Christentum mit der Religionsfreiheit in Verbindung zu bringen, um zu zeigen, wie sehr die Weltreligionen ein bedeutsamer internationaler Faktor sind im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) veröffentlichte eine "Erklärung über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen" (1965). Die Gründung eines Sekretariates für nichtchristliche Religionen während des Zweiten Vatikanums hatte die Aufgabe, den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen und so mit allen Religionen zu fördern. Der Erzbischof von Canterbury beauftragte die Lambeth Conference 1968 im Bereich der anglikanischen Kirche zu überlegen, wie Verbindungen und Gespräche aufgenommen werden könnten mit dem Papst, dem Ökumenischen Patriarchen der orthodoxen Kirchen, dem Ökumenischen Weltrat der Kirchen in Genf und mit den nichtchristlichen Religionen. Die Absicht solcher Gespräche sollte sein, dem Frieden in der Welt in Verbindung mit den großen Religionen zu dienen. Kalkutta hat im gleichen Jahr mehrere größere und kleinere Religionen zu einem Gespräch geladen im "Dienste an einer besseren Welt". 1970 lud der Ökumenische Weltrat der Kirchen Vertreter der Christen, Muslime, Buddhisten und Hindus zu einer Konferenz in der Nähe von Beirut ein, um über gegenseitige Kontakte der Religionen im Sinne des Friedens zu sprechen. Sogenannte Friedenskonferenzen sind seit jener Zeit im fernöstlichen, japanischen, amerikanischen und auch im europäischen Bereich an der Tagesordnung. Eine ähnliche Konferenz in Löwen 1974 beschließt folgenden Text: "Indem jeder von uns sich hinwendet zu Gebet und Meditationen, streben wir nach einer Bekehrung des Herzens, um den Geist des Opfers, der Demut und der Selbstbeherrschung zu erlangen, der Gerechtigkeit, Befreiung und Frieden fördert."
Ein neuer Weg wurde in Assisi eingeschlagen. Das Motiv ist ungefähr das gleiche geblieben, das zu Zusammenkünften ähnlicher Art schon früher geführt hat. Es war nur dringend und drängender geworden angesichts der weiter steigenden Waffenrüstung, der zunehmenden Kraft und Reichweite der Zerstörung mit immer neuen technischen Erfindungen. Gleichzeitig steigern sich gegenseitiges Misstrauen und Angst der einzelnen Staaten oder Staatenverbände, nicht entsprechend gerüstet zu sein. Die Abrüstungsgespräche bleiben gegenüber dem Wettlauf moderner Waffen, der wachsenden Furcht vor dem nuklearen Selbstmord der Menschheit hilflos. Assisi scheint im Vergleich zu früheren Kongressen deshalb Aufsehen erregt zu haben, weil die Art der Einladung, das Drängen vonseiten der katholischen Kirche und das Gebet als einziges Tagesthema neu waren.
Wer Gelegenheit hatte, nach diesem Welttag des Gebetes Kommentare zu lesen, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, die sonst vom Christentum und der katholischen Kirche nichts Gutes zu berichten hatten, war erstaunt, dass weltweit von "echter Ergriffenheit" die Rede war. Man erinnerte sich jetzt auf einmal daran, dass der Papst bereits zu Beginn des Jahres bei seinem Besuch in Indien von Mahatma Gandhi sprach, dessen Leben der Gewaltlosigkeit weltweit nachwirkt. Damals betonte er, dass die katholische Kirche "anderen Religionen gegenüber von echtem Respekt getragen sei".
Ein Teil der Medien hat in der Zeit der unmittelbaren Vorbereitung des Tages von Assisi die Vorgänge eher mit einer gewissen Skepsis und Zurückhaltung registriert. Auf der anderen Seite aber wird immer deutlicher, dass die Weltpolitik mit ihrem defensiven Denken sich angesichts eines wachsenden weltweiten Misstrauens in einer ausweglosen Situation befindet. Das Wissen um eine Schicksalsgemeinschaft des Menschengeschlechtes wird heute durch Kommunikation, Wissenschaft und Verkehr deutlicher erkannt als früher. Die Gegensätze der Ideologien, der großen Politik, der Blockbildungen, die wirtschaftlichen Interessen sind aber so gelagert, dass sie auf dieser universalen Ebene einer solchen Einheit zuwiderlaufen.
Der Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche, das Zeichen der Einheit der katholischen Christenheit, hat als Förderer ökumenischer Bemühungen unter den Christen in den früheren Jahren immer wieder versucht, die Kraft der Religion durch seine Appelle und Reisen für den Frieden einzusetzen. Die Begegnung in Assisi aber wollte mehr; sie wollte, dass die Vertreter der großen Religionsgemeinschaften der Erde nichts anderes täten, als miteinander oder getrennt zu beten. Die Ahnung von einer in der Menschennatur vorhandenen Gemeinsamkeit aktiviert sich durch das Gebet als eine neue Brücke besonderer Art.
Sosehr menschliche Irrungen und Missbräuche auch diesen Aspekt menschlichen Suchens und Sehnens, Fragens und Hörens, und damit auch den Bereich des Gebetes ins Abseits drängen können, sosehr magische Vorstellungen, Macht und Politik, Fanatismus und Intoleranz bis hin zu Religionskriegen den 'homo religiosus' in eine hilflose Defensive gedrängt haben und drängen können, sosehr ein pervertiertes Welt- und Menschenbild bis in die Bereiche der Psychologie, der Soziologie und der Geschichtswissenschaft Missverständnisse aufhäufen können - so sehr haben sich plötzlich doch neue Einsichten aufgetan, kehren verdrängte Fragen und Antworten wieder zurück, wie sie uns die Religionsgeschichte und die vergleichenden Religionswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts bis zu M. Eliade in steigender Materialfülle aufgezeigt haben. Das Ereignis von Assisi hat eine Vielzahl religionsgeschichtlicher, rationalistischer und theoretischer Diskussionen um Methoden, Interpretationen und Fragestellungen der Religionswissenschaft aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast wortlos zur Seite geschoben - mit dem Hinweis auf die Grundlage einer jeden Religion, auf das Gebet. Es hat damit neue geistige Kräfte einer an sich selbst verzweifelnden Menschheit bewusst zu machen versucht. Namen wie J. von Görres, Schelling, F. M. Müller, N. Söderblom, R. Otto und G. van der Leeuw tauchen vor den Augen des Fachmannes als Wegbereiter neuerer Erkenntnisse auf. Der 'homo religiosus', in das Dickicht einer emotionellen Weltsicht verbannt, wird nach M. Eliade zum Künder und Deuter des 'sacrum', einer der bloßen 'ratio' nicht ganz zugänglichen Welt. So betrachtet, erscheint heute der Mensch in seiner Geschichtlichkeit, in seiner nur der wissenschaftlichen Analyse erschlossenen Existenz doch ergänzungsbedürftig in Richtung auf eine transzendente, transhistorische Dimension hin.
Auch in diesem Zusammenhang ist der Tag von Assisi als ein Tag des Menschen zu sehen, der auf der Suche ist nach dem Heiligen und Transzendenten - inmitten aller Verzerrungen durch krankhafte Veranlagung, Zwangsvorstellungen, falsche Schuldgefühle, verschiedene Formen des Aberglaubens, des Fanatismus und der Rechthaberei. Auch vor einem solchen Hintergrund bleibt das Ahnen, es müsse etwas geben, das - trotz der Gegensätze, allen Hasses und aller Feindschaft - von Einheit sprechen und hoffen lässt, das neue Wege andeutet jenseits der Ebene, auf der wir nur Misstrauen bis zum nuklearen Selbstmord der Menschen erkennen. Gerechtigkeit und Friede als Zeichen einer möglichen Einheit führen zu notwendigen Überlegungen angesichts der furchtbaren Katastrophe, des Abgrundes, vor dem alle Völker, die ganze Menschheit steht.
Der Friede ist nicht so sehr eine Sache des Dialogs, der Diskussion, der Organisation, sondern vor allem eine Sache der Reform der Gesinnung, des Herzens, eine Sache neuer menschlicher und gesellschaftlicher Werte, die im Religiösen wurzeln und durch das Gebet erkannt werden. Ihre theoretische Anerkennung allein genügt nicht. Gottes- und Nächstenliebe können das Verhalten der Menschen zueinander verändern. Franz von Assisi ist mit seiner Fernwirkung ein lebendiges Beispiel dafür. In diesem Zusammenhang finden wir als Christen bereits in der Bibel einen klaren Hinweis: "Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht! ... Das tut! Und der Gott des Friedens wird mit euch sein" (Phil 4,8).
Aber eine solche innere Ordnung wächst nicht aus dem Wurzelgrund des guten Menschen, sondern dort, wo Religion Ausdruck und Hinweis ist auf die Verbindung zwischen Gott und Menschen. Das Gottesbild, die Gottesvorstellung, beeinflussen wesentlich das Gebet. Neben der Opferhandlung ist das Gebet Zeichen und Fundament eines religiösen Menschen. Erst im Gebet entfaltet sich die Religion des Menschen. Je vollkommener und irrtumsfreier Religion ist, desto mehr strahlt es aus und verlangt es eine innere und äußere Ordnung des Friedens und der Versöhnung. Wenn ich gefragt werde, was die Grundlage persönlichen Glaubens und religiösen Lebens ist, so kann die Antwort nur lauten: Es ist das persönliche Gebet. Es geht dabei nicht nur um die Anerkennung, sondern um die Verehrung Gottes und die innere Bereitschaft, seine Gebote zu befolgen. Das Gebet ist der Gradmesser persönlichen Glaubens und persönlicher Religiosität. Ein Mensch, der nicht betet, hat im Grunde keine Religion.
Im Gebet spiegelt sich die Gottesvorstellung. In den Religionen der Menschheit lässt sich das menschliche Sehnen erkennen, Verbindung aufzunehmen mit einer Welt des Unvergänglichen, mit dem Reich der Gottheit, das Frieden und Geborgenheit schenkt. Im Gebet öffnet sich der Beter einzeln oder in Gemeinschaft einer anderen Wirklichkeit, einem sonst nicht zugänglichen Erfahrungsbereich. Gott antwortet dem Beter und schenkt ihm etwas, das sein Leben ändern kann.
Dem Christen wird dies noch deutlicher in einer Stelle beim Evangelisten Lukas: "Darum sage ich euch: Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet... Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten" (11,9). Oder bei Markus heißt es: "Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet - glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil" (11,24).
Wenn ich nicht das Gebet, sondern Religion als Ausdruck der Kultur, als geschichtlichen und nationalen Kult mit historischen Formenbildungen in den Vordergrund rücke, so kann es leicht Missverständnisse, Rivalitäten, ja sogar Kämpfe geben. Wenn ich das Gebet in das Zentrum rücke, können Missverständnisse und Rivalitäten kaum aufkommen. Das Gebet ist Fundament und Grundlage der Religion, ordnet auf Gott hin und sein Reich. Das aber ist ein Reich der Wahrheit und des Lebens, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens. Assisi mit dem Gebet der religiösen Menschen aus allen Teilen der Welt im Zentrum ist richtungweisend und als neuer Anfang einem friedlichen Verstehen unter den Völkern nähergekommen. Hier ist ein neuer Weg eingeschlagen, verschieden von der Arena der Weltpolitik. Dieser Weg führt zu einer Änderung der Gesinnung und des Herzens. Es ist ein neuer Weg menschlicher Möglichkeiten, der fortgesetzt werden muss.
Wien, am Weltfriedenstag 1987