Silvesteransprache 1975/76: Der Mensch ist für die Zukunft angelegt
Die Angst, die Unsicherheit hat auch vor den Toren der Kirche nicht haltgemacht. Mutlosigkeit und Kleingläubigkeit gibt es auch unter den Christen. Manchen flüchten in die Vergangenheit, in eine Vergangenheit der Kirche, wo alles so klar und einfach schien und stellen sich gegen die Kirche ihrer Zeit.
Aber der Mensch kann nicht nur aus der Vergangenheit leben. Der Mensch ist für die Zukunft angelegt. Die Kirche auf ihrer Wanderschaft durch die Zeit kann nicht zurück, sondern nur vorwärts gehen. Gott ist kein Gott der Toten, sondern ein Gott der Lebenden, heißt es in der Bibel, ein Gott auch der kommenden Geschlechter.
Die Angst macht den Menschen nicht frei. Gott aber hat die Menschen zur Freiheit berufen. Die Botschaft, mit der den Menschen in der Nacht die Geburt Jesu verkündet wurde, beginnt mit den Worten: "Fürchtet euch nicht!" Habt keine Angst. Gott hat sich mit den Menschen eingelassen.
Für den österreichischen Christen war das vergangene Jahr getragen von manchen Erwartungen, von manchen Enttäuschungen. Viele haben sich in einem Volksbegehren für ein Gesetz zum Schutz des Lebens ausgesprochen. Es ist zum größten Volksbegehren geworden, das es je in Österreich gab. Ich danke allen, die aus ihrem Gewissen heraus sich verpflichtet gefühlt haben, dieses Volksbegehren zu unterstützen. Für Verzagtheit, für Kleinmut ist kein Anlass. - Aber auch jene, die sich aus ihrem Gewissen heraus gegen das Volksbegehren gestellt hatten, trugen doch auch zur Klärung der Frage bei. So ist gerade durch die breite Diskussion eine weitgehende Meinung darüber erzielt worden, dass das im Mutterleib entstehende Leben zu jeder Zeit menschliches Leben ist und wert, geschützt zu werden. Über die bestmögliche Art des Schutzes dieses Lebens gehen die Ansichten auseinander, das Gespräch aber ist noch nicht abgeschlossen. Wir müssen in so vielen Dingen über die Grenzen unseres Landes schauen, vielleicht ergibt sich auch in dieser Frage eine europäische Lösung.
Da die Kirche bei der Fristenlösung im Gegensatz zur Regierungspartei steht, sprechen Zeitungen schon von einer drohenden Konfrontation zwischen Kirche und Staat. Vielleicht gibt es manche in Österreich, die an einem solchen Konflikt interessiert wären. Die Kirche ist es nicht und auch die verantwortlichen politischen Kräfte in diesem Lande sind es nicht. Die Kirche wird aber deswegen kein stummer Diener des Staates sein, sie wird dort reden, wo sie reden muss, sie wird vielleicht öfters und betonter reden als bisher, aber sie wird nicht gegen den Staat zu Felde ziehen, der auch ihr Freiheit und Frieden garantiert. Und sie wird nicht Verbündeter einer oder Gegner einer anderen Partei sein. Die Zeit eines politisierenden Katholizismus, einer politisierenden Kirche, mit Wahlhirtenbriefen und Parteiempfehlungen ist vorbei.
Aber die Kirche wird wieder die Gläubigen an ihre politische Verantwortung erinnern, wo sie politisch auch stehen, an die Verantwortung, die der einzelne dafür trägt, welche Politik in einer Partei und welche Politik in Österreich gemacht wird. Es gibt Gott sei Dank Menschen in Österreich, die auch in der Politik aus christlicher Verantwortung zu handeln versuchen, wobei christliche Verantwortung auch immer Verantwortung für den Menschen bedeutet.
Es ist ja nicht so, dass der einzelne nichts tun kann. Auch das ist eine Parole der Angst. Immer wird es auf den einzelnen Menschen ankommen, seinen Mut, seine Verständigungsbereitschaft, seine Hilfsbereitschaft, seine Liebe und seine Güte.