Silvesteransprache 1968/69: Die Unruhe in der Kirche ist Zeichen der Lebendigkeit
Liebe Zuhörer, liebe Mitbürger in Stadt und Land!
(Mit einem flüchtigen Blick über die Grenzen unseres Landes im Norden, Osten und Süden darf ich auch Sie, liebe Freunde und Nachbarn, herzlich aus Wien grüßen. Für den Wiener Erzbischof ist es eine schöne Gelegenheit, zum Jahreswechsel ein besinnliches, ein gutes Wort an Sie alle richten.)
Lassen Sie mich zunächst in dieser Stunde, während das alte, müde gewordene Jahr langsam zerrinnt und hinter der Schwelle der Mitternacht ein neues auf uns wartet - in den Stunden, da wir alle die Vergänglichkeit und oft auch die Vergeblichkeit menschlichen Tuns stärker spüren als sonst - lassen Sie mich ein paar schlichte Worte sagen, ein Wort des Trostes, ein Wort der Zuversicht und des gläubigen Vertrauens. Vielleicht brauchen wir heute solche menschlich tröstende Worte. Viele von uns hatten mit dem vergangenen Jahr ein Stück Hoffnung, ein Stück Freude begraben, einen lieben Menschen, vielleicht eine Mutter, einen Gefährten, ein Kind. Wie oft sind wir vor der Situationen gestanden, einem Menschen, den wir lieben, helfen zu wollen in einer schweren Stunde, ohne ihm dann doch wirklich helfen zu können. Der Weg von Mensch zu Mensch ist oft weiter und schwieriger als der Weg von der Erde zum Mond.
O, es war gewiss etwas Faszinierendes, diese Mondfahrt. Wir alle haben sie verfolgt am Bildschirm und in der Zeitung. Wir haben die Präzision der Technik bewundert und den Mut der Menschen. Aber wird dadurch, dass wir die Unendlichkeit des Weltenraumes gewissermaßen am äußersten Saum berührt haben, wird dadurch ein Problem auf dieser Erde gelöst, der Krieg, der Hunger, die Verfolgung? Wird eines Menschen Herz getröstet, eines Menschen Leid gelindert? Und ist das letztlich nicht wichtiger? - Denn was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt, das ganze Weltall gewinnt, an seiner Seele, in seiner Menschlichkeit aber Schaden erleidet - in seiner Fähigkeit, die Herzen zu trösten, das Leid zu lindern, den Hunger zu stillen, Frieden zu stiften und Freude zu geben?
"Siehe, ich verkünde euch eine große Freude", so erging nach dem Weihnachtsevangelium an die Hirten auf dem Felde die Botschaft, um ihnen die Geburt Jesu zu verkünden. Eine große Freude, eine frohe Botschaft. Wo ist sie geblieben, diese große Freude, was haben wir gemacht aus der frohen Botschaft? In den Augen der Kinder leuchtet sie noch auf und sie lassen uns die Freude miterleben. Am Leuchten ihrer Augen sehen wir, was wir schon verlernt haben. Frohe Botschaft heißt das griechische Wort "Evangelium", das vielen nur ein Fremdwort ist. Evangelium heißt nichts anderes, als dass sich Gott um uns Menschen kümmert. Diese frohe Botschaft berichtet von der Tatsache, dass Gott auf vielfache und mannigfaltige Weise vor Zeiten durch die Propheten zu uns gesprochen hat. In dieser Endzeit hat er durch seinen Sohn zu uns gesprochen (Hebr 1,1-2) - "Er wollte durch seinen Tod den entthronen, der des Todes Gewalten in den Händen hält" (Hebr 2,14).
Auf diese frohe Botschaft, auf dieses Evangelium, ist auch unsere Kirche gegründet, und zu dieser frohen Botschaft wird die Kirche immer zurückkehren müssen, wenn sie sich selbst befragt und sich ihres Weges besinnt. In der Kirche scheinen heute nicht wenige die frohe Botschaft nicht mehr zu spüren. Gibt es nicht heute auch in der Kirche stärker denn je Unruhe, Unsicherheit, Auseinandersetzung? Hat die frohe Botschaft ihre Kraft verloren, ist die Kirche in sich selbst unsicher geworden?
Dazu möchte ich Ihnen ein Wort der Beruhigung, der Zuversicht und des Trostes sagen. Wir müssen in der Kirche ein menschliches und ein göttliches Element unterscheiden. Was uns Gott mitgeteilt, geoffenbart hat, durch Christus als sein Reich in die irdische Geschichte eingepflanzt hat, das ist umgeben, eingehüllt durch die breite Front des Menschlichen in der Kirche. Wäre das Christentum nur Menschenwerk, dann wäre es schon längst zerfallen und zugrunde gegangen. In ihrer irdischen und menschlichen Gestalt besteht die Kirche aus Menschen mit ihren Schwächen, ihrer Unrast und ihren Sehnsüchten. In ihrer irdischen Gestalt ist die Kirche auch der Geschichte unserer Zeit unterworfen, unsere Zeit aber ist eine Zeit der Unruhe und der Verworrenheit.
Wenn die Zeit unruhig ist - und wie unruhig sie ist, haben wir gerade in diesem Jahr gespürt -, ist es dann ein Wunder, wenn die Kirche auch davon berührt wird? Wenn die Menschen ihre Umwelt zu verändern trachten, ist es dann nicht natürlich, dass dadurch auch die Kirche in Mitleidenschaft gezogen wird? Ist doch die Kirche auch ihr Haus, in dem sie wohnen wollen. Wenn die Jugend überall in der Welt gegen den Zwang zur Anpassung an vorgegebene Formen revoltiert, warum sollte das nicht auch in der Kirche Wellen schlagen? Wenn die Menschen immer wieder mehr fragen als sonst, sollen sie da in der Kirche stumm sein? Wären sie dies, wären sie stumm, würden sie alle vorgegebenen, rein menschlichen Formen, die zum Teil Formen und Ausdrucksweisen einer vergangenen Zeit sind, widerspruchslos hinnehmen, wollten sie ihre Kirche in dem, was menschlich und veränderlich an ihr ist, nicht die Züge ihrer Zelt aufprägen, würden sie mit ihren Sorgen, mit Unruhe und Unsicherheiten nicht auch in die Kirche kommen - dann, liebe Freunde, dann könnte dies ein gefährliches Zeichen sein, dass die Kirche tot ist und für sie nichts mehr bedeutet.
Wird jemand in ein Museum gehen, um sich Antwort auf die Nöte der Gegenwart zu holen? Nein. Dass die Kirche für viele Menschen heute kein Museum mehr ist, kein bloß ehrwürdiges Denkmal der Vergangenheit, sondern ihr Haus, in dem sie leben wollen, mit ihren Sorgen und Problemen, mit ihren Fragen und Diskussionen, das sollte uns nicht nur mit Sorge erfüllen, sondern auch mit Trost und Zuversicht. Wo Leben ist, da ist Bewegung, da ist Unruhe. Das weiß die Mutter, die die Bewegung ihres Kindes unter ihrem Herzen spürt, nur der Tod ist absolute Ruhe. Die Kirche geht deswegen nicht in die Irre, weil sie vorwärtsschreitet! Sie ist ja das wandernde Volk Gottes, wie wir heute sagen. Als solches ist sie auf der Wanderschaft durch die Zeit und darf nicht stehen bleiben. Sie ist das Zeichen Gottes unter den Völkern, sie darf kein Totenpfahl sein, sondern ein Zeichen des Lebens. Leben aber ist Bewegung und Spannung.
Es kommt allerdings darauf an, wohin diese Bewegung führt. Es kommt darauf an zu wissen, was sich verändern kann und was immer gleich bleiben muss. Im wechselnden Antlitz der Zeit müssen wir immer die gleiche Wahrheit sehen und erkennen.
Viele setzen die äußere menschliche Schale mit dem göttlichen Kern, das äußere Kleid mit dem Leibe Christi gleich. Manche scheinen nur die Äußerlichkeit und die bergenden Hüllen zu sehen. Manche haben alles, auch das rein Menschliche, in der Kirche als unveränderlich betrachtet und gemeint, die Form der äußeren Hülle, der Schnitt und Schmuck des Kleides, ihre Baustile und Liturgie, das wäre die unveränderliche und ewige Kirche. Wir unterscheiden heute deutlicher, was in der Kirche menschlich ist, was äußeres Kleid, was veränderungsmöglich und reformbedürftig ist. Das betrifft nicht nur die äußere Form der Organisation, der Verwaltung und der Herrschaft der Kirche, der Gestalt und Sprache des Gottesdienstes, veränderlich und erneuerungsbedürftig sind für uns heute auch die zeitlichen Ausprägungen zeitloser und notwendiger Einrichtungen wie die Ausübung und Form des Lehr- und Hirtenamtes in der Kirche, die Auswirkung und Handhabung der geistlichen Autorität. Auch die Theologie versucht in ihrer Sprache immer aufs neue der ewigen Wahrheit auf neuen und besseren Wegen näherzukommen.
Unwandelbar aber ist die Offenbarung und die darauf fußende Lehre, der Kern der frohen Botschaft Jesu Christi, unwandelbar ist der mystische Leib der Kirche, in der Christus fortlebt. In diesem Sinne wird die Kirche immer die gleiche bleiben, heute so wie gestern und morgen. Im Glaubensbekenntnis der Messe geben wir dieser Überzeugung immer wieder aufs neue Ausdruck. Dieser innere Glaubenskern der Kirche wird sich auch niemals dem Verstand restlos erschließen. Ein Glaube, der vollkommen rationalistisch aufgelöst werden könnte, wäre kein geoffenbarter Glaube mehr. Der Glaube reicht über das Wissen hinaus. Zum Glauben gehört auch das Geheimnis, das Mysterium, das für den Verstand nicht mehr ganz ergründbar ist und das dem prüfenden Auge des Geistes nicht mehr restlos erfassbar ist. Von ganzem Herzen glauben zu können, ist letztlich eine Gnade Gottes.
Wenn ihr euch um das Schicksal der Kirche, um den Bestand des Glaubens Sorge macht, seid nicht ängstlich und kleingläubig! Vieles muss euch ja verwirren, wenn ihr diese oder jene Meinung in der Zeitung lest, - in unserer Zeit wird ja jedes Wort sensationell zugerichtet und in alle Welt hinausposaunt, oft aus dem Zusammenhang gerissen und dadurch missverständlich - seid nicht ängstlich und kleingläubig, wenn ihr Alarmrufe von allen Seiten hört.
Wenn wir glauben, dass Christus die Kirche gestiftet hat, dann glauben wir auch an das Wort Christi: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt." Es ist seine Kirche, er wird sie leiten und aus der Verworrenheit in die Klarheit, aus der Unruhe in die Ruhe, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit führen.
Bei Matthäus 12 wird uns berichtet, dass die Gegner Jesu ihm den Vorwurf machen, er besitze eine besondere Macht, weil er mit dem Teufel im Bunde stehe. Diesen hat er in aller Schärfe geantwortet: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich." Dieses Wort Jesu verlangt auch von uns in der Unruhe dieser Zeit eine grundsätzliche Gemeinsamkeit aller, die zur Kirche Christi gehören. Es gibt natürlich Tendenzen und Behauptungen, die an die gemeinsame Basis des katholischen Glaubens rühren und sie infrage stellen. Es gibt ohne Zweifel auch gelegentlich theologische Aussagen, über die man nicht mehr debattieren kann, weil sie den Boden des Christentums verlassen. Solchen gilt unser entschiedenes Nein.
Es gibt aber auch ein anderes Wort bei Markus 9, wo die Jünger Christi ein wenig eifersüchtig von einem, der nicht zu ihrem Kreise gehörte, dem Herrn berichteten, dass er im Namen Jesu Teufel auszutreiben versuche. In diesem Fall antwortete Jesu: "Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns." Das heißt auf unsere Zeit angewendet: Wenn die gemeinsame Basis des christlichen Glaubens gewahrt bleibt, dann darf man nicht eng sein, dann muss man auch tolerant und duldsam sein können. Diese innerkirchliche Toleranz - der rechte Glauben ist dabei immer vorausgesetzt - ist ein sicheres Zeichen jener Liebe, die Christen auszeichnen muss. - Und gerade diese Haltung vermisst man heute bei den sogenannten Progressiven und Konservativen. Ist nicht bereits eine solche Abstempelung schon ein Zeichen dafür, dass es an der gegensätzlichen Bereitschaft zum Verstehen und zur Zusammenarbeit fehlt?
Vor 150 Jahren ist in einer kleinen Salzburger Kirche zum ersten Mal das Lied von der stillen, von der heiligen Nacht gesungen worden, von einem Armeleutepriester gedichtet und von einem Schullehrer vertont. Ein Gelegenheitslied, das zum größten Geschenk geworden ist, das Österreich der Welt gemacht hat. Dieses Lied schließt mit den Worten "Christus, der Retter, ist da". Christus, der Retter, ist da! Und wenn er bei uns ist, vor wem sollen wir uns dann fürchten?
Er ist auch jener Granat jenes Friedens, von dem der Heilige Vater in diesen Tagen so eindringlich gesprochen hat.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Ich wünsche Ihnen und Ihren Angehörigen einen frohen Abend, ein gutes, ein glückliches, ein friedliches und ein trostreiches Neues Jahr.