Domkurat DDr. Franz König - Jugendseelsorger in schwerer Zeit
Nach seinen philosophischen und theologischen Studien in Rom, wo er auch am 29. Oktober 1933 zum Priester geweiht wurde, kehrte Franz König in seine Heimatdiözese St. Pölten zurück. Von 1934 bis 1937 war er in den Pfarren Altpölla, Neuhofen an der Ybbs, St. Valentin und Scheibbs als Kaplan tätig. Daneben vollendete er seine Dissertation und wurde 1936 zum Doktor der Theologie promoviert.
1938 wurde er zum Domkuraten in St. Pölten ernannt und besonders mit der Jugendseelsorge betraut. Unter schwierigsten Verhältnissen – nach dem "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 waren Kirche und Seelsorge in Österreich mit einem immer mehr kirchenfeindlich agierenden Regime konfrontiert – und unter höchstem persönlichen Einsatz war Domkurat König bemüht, seine "Junge Kirche" gegen ein totalitäres Regime zu stärken und zu bewahren.
Karl Dillinger: Erinnerungen an den Jugendseelsorger Franz König
Um Erinnerungen auszutauschen, trafen sich im Sommer 1984 mit dem Kardinal an die hundert Frauen und Männer, die sich vor mehr als vierzig Jahren als junge Leute in St. Pölten um den damaligen Domkuraten Dr. König sammelten, im Laufe der Jahre eine Gemeinschaft bildeten und sich meist "Junge Kirche" nannten.
Sie wollten aber auch nachprüfen, was damals jugendliche Romantik war und heute verklärte Erinnerung ist, was von all dem, was sie zwischen 1939 und 1945 gelernt und erlebt, gewagt und erlitten hatten, für ihr späteres Leben Wert und Bedeutung hatte.
'Der King' – Domkurat Dr. Franz König
Die erste Begegnung mit Dr. König liegt im Dunkel der Erinnerung. An einem Tag im Jahre 1939 betrat er als Religionsprofessor die vierte Klasse des "Staatsgymnasiums für Jungen". Es hatte sich herumgesprochen, daß dieser Priester in Rom und Frankreich studiert hatte und mehrere Sprachen beherrschte. Die wenigen Stunden, die er uns unterrichtete, waren nicht Religionsstunden im herkömmlichen Sinn, weil er nicht toten Wissensstoff lehrte, sondern auch Fragen aufwarf, die uns alle bewegten.
Es war ja eine sehr bewegte Zeit. In jenen Tagen hatte brauner Mob die Synagoge unserer Stadt geschändet und die Thorarollen verbrannt, auch die Mauern des Bistumsgebäudes mit Parolen beschmiert, die Fenster eingeschlagen, und die Hitlerjugend gröhlte auf der Straße obszöne Lieder gegen Juden und Pfaffen. In der Schule versuchten fanatische Professoren, uns ideologisch zu indoktrinieren. Uns sind noch immer ihre gehässigen Angriffe gegen Christentum, Kirche und Papsttum in Erinnerung. Anstelle einer sachlichen oder kritischen Auseinandersetzung setzten sie ihren geifernden Haß: Kirchen waren Vaterunser-Garagen und Pius XII. ein Verbündeter der internationalen jüdischen Hochfinanz; der "Pfaffenspiegel" wurde zu neuem Leben erweckt, die Klöster als Stätten der Unzucht diffamiert, junge Christen als verzopft und rückständig verspottet, und ihr Bekenntnis lächerlich gemacht; einzelne von ihnen nicht nur bei Prüfungen genüßlich schikaniert, sondern vor der ganzen Klasse persönlich beschimpft und beleidigt.
So wurde bald auch der freiwillige Religionsunterricht, der meist auf die letzte Unterrichtsstunde fiel, abgeschafft. Fortan trafen wir uns zu Glaubensstunden in der Sakristei der Domkirche. Dr. König wollte weniger nach einem systematischen Lehrplan religiöses Wissen vermitteln, er war bemüht, für uns den "Sitz im Leben" zu finden, um, von aktuellen weltanschaulichen Fragen ausgehend, Antworten aus dem Glauben anzubieten. Entscheidend und prägend für unsere weitere geistige und charakterliche Entwicklung war sein Bemühen, uns von jeweils verschiedenen Ansätzen und Ausgangspunkten her mit der Frage nach Sinn und Ziel des menschlichen Lebens zu konfrontieren. Das schärfte allmählich unseren Blick für das, was im Leben letztlich wichtig und wesentlich ist, und die Erkenntnis, daß auch Selbsterziehung, verbunden mit der Bereitschaft zu Verzicht und Opfer, notwendig ist, um Entscheidungen und Prüfungen zu bewältigen, die uns das Leben bald auferlegen sollte. Dabei lernten wir ihn und er uns näher kennen, er führte mit uns viele persönliche Gespräche, borgte uns religiöse, weltanschauliche und lebenskundliche Sachbücher und regte uns so zum Lesen an. Wir haben es auch ihm zu verdanken, daß wir Kirche und Glaube damals schon neu und anders sahen und erlebten. Zuvor noch war uns und unseren Eltern die Kirche als Verbündete des christlichen Ständestaates, als machtvolle Institution erschienen, repräsentiert durch Bischöfe, Äbte, Prälaten und Priester, nunmehr aber völlig entmachtet, ihres Besitzes beraubt und den Schikanen der neuen Machthaber ohnmächtig ausgeliefert. Die meisten von uns kamen aus traditionell katholischen Familien, im Religionsunterricht der Kinderjahre und im Elternhaus wurde uns ein Glaube der Gebote und Verbote gelehrt, so daß vielen jungen Leuten Kirche und christlicher Glaube "als ein verholztes System von Lehrsätzen und Paragraphen" erschien. Dr. König hat nie mit dem starren Blick des Selbstgerechten die Menschen in Heilige und Sünder, in Recht; Gläubige und Ungläubige eingeteilt, er wich auch der damals aktuellen Frage nach dem Menschlichen in der Kirche nie aus. Wir lernten auch begreifen, daß wir alle Glieder des "Corpus Christi mysticum" und daher selber Kirche sind und nicht nur die Pfarrer und die Bischöfe. Damals schon wurde uns klar, daß die Kirche keine Festung mit Schießscharten sein darf, um potentielle Gegner unter Beschuß zu nehmen, sondern als eine dienende Kirche Gesprächspartner sein müßte für alle, auch für die Menschen, "die den Glauben verweigern oder sogar bekämpfen".
In diesem neuen Kirchenbild, das während der NS-Zeit jungen Menschen von überzeugten und überzeugenden Seelsorgern vermittelt wurde, wurzelte jener "ekklesiologische Enthusiasmus"der Katholischen Jugend und der Katholischen Hochschuljugend der Nachkriegszeit, der schon in den zwanziger Jahren die junge katholische Intelligenz erfüllte, die aus dem "Bund Neuland" kam: Michael Pfliegler, Karl Rudolf, Otto Mauer, Karl Strobl, Ignaz Zangerle, Franz König und viele andere. Damals lernten wir auch junge Priester kennen, die Werte vermitteln konnten, weil sie selber diese Werte lebten, die offen waren für die persönlichen Nöte der Menschen und die auch eine Sprache redeten, welche die Jugend verstand. Es gab manche unter ihnen, die auch den neuen Machthabern unerschrocken die ganze Wahrheit verkündeten. Zu ihnen gehörte Pater Paulus Wörndl von den Karmelitern, erster Pfarrer von St. Josef, Pfadfinderseelsorger und Präses der Marianischen Kongregation, der auch nach dem März 1938 die Jugendseelsorge unbeirrt fortsetzte. Aber ein Jahr später hatten die Nationalsozialisten seine Entfernung aus der Stadt gefordert. "Ich muß fort auf Verlangen der Partei, weil ich zuviel mit dem Volk und vor allem mit der Jugend verbunden bin", schrieb er in die Pfarrchronik.
"Junge Kirche" sucht neue Formen
Als Soldaten an der Front und in unserem späteren Leben ist uns bewußt geworden, wie sehr Dr. König eine besondere Form der Gebetskatechese als zentrale Aufgabe seiner Jugendseelsorge gesehen hat. Wohl waren die meisten von uns von Eltern und Katecheten schon von Kindheit an zu Gebet, Andacht und Messebesuch angehalten worden, und nun schleppten wir das alles als eine notwendige religiöse Pflichtübung weiter. Er war es, der uns die Psalmen näherbrachte, Gebete der frühen Christen, der großen Heiligen, von Augustinus, Franz von Assisi, Ignatius von Loyola und Teresa von Avila über Blaise Pascal, Henry Newman bis zu Claudel und Romano Guardini. Der "trivialisierten Predigt von der Kraft und strahlenden Amoralität des Übermenschen" stellte er anhand von Gedichten und Textstellen die tragische Gottverlassenheit Nietzsches gegenüber, wie sie in einigen seiner Gedichte ergreifenden Ausdruck findet. So war der Paradephilosoph des Nationalsozialismus, der in der Schule, in Parteiversammlungen, in Radio und Pressezimmer wieder - meist mißverstanden - zitiert wurde, zum aktuellen Ansatzpunkt für manches Glaubensgespräch geworden. Durch diese besondere Form der Gebetspastoral sahen wir Wesen, Inhalt und Funktion des Gebetes als eine Höchstform des Dialogs in einem neuen Licht. Schon sehr bald war von ihm auch eines Tages die Anregung gekommen, neben den Glaubensstunden eine Jugendmesse zu feiern, die wir unter seiner Mithilfe weitgehend als deutsche Gemeinschaftsmesse gestalteten. Aus dem "Kirchenlied", das uns altes Liedgut auch der evangelischen Christen erschloß, aber auch moderne Kirchenlieder aus den letzten Jahren enthielt, wählten wir die passenden Gesänge. Königs kurze Predigten waren keine moralisierenden Belehrungen, auch nicht bloße Paraphrasen eines Bibeltextes. In seinen Homilien stellte er von einem Psalm, einem Jesuswort oder einer anderen Bibelstelle ausgehend, immer auch einen existentiellen Bezug her. Die Themen spannten sich von Fragen der Lebensgestaltung, über Gedanken zu den Hochfesten des Kirchenjahres mit Vorliebe bis zu jenen Heiligengestalten, die wie Thomas Becket oder Thomas More ihrer Glaubensüberzeugung wegen mit der weltlichen Macht in Konflikt standen. Mit den Jugendmessen, die wir zuerst in der Rosenkranzkapelle, später mit Bischof Memelauer um 7 Uhr früh im Dom feierten, war die kleine Gemeinschaft ständig gewachsen. Schülerinnen aus der Oberschule und Handelsschule und berufstätige Mädchen hatten sich uns angeschlossen. Über ehemalige St.-Georgs-Pfadfinder waren wir mit jungen Arbeitern in Kontakt gekommen. Wir luden Klassenkameraden, die nicht in St. Pölten wohnten, zu unseren Jugendgottesdiensten, Feierstunden und Ausflügen ein und nahmen die verläßlichsten in den Kreis der "Eingeweihten" auf, der alles, was die Gemeinschaft betraf, mit Dr. König besprach.
Dr. König vermittelte uns Kontakte zu Kaplänen und Pfarrern, so daß mit der Zeit auch in anderen Orten "Junge Kirche" entstand. Wie schwierig diese Organisationsarbeit war, beleuchtet die Tagebucheintragung eines Sechzehnjährigen: "In der Schule wurden in dieser Woche alle Auswärtigen verständigt und die Vertrauensleute aufgesucht. Es ist das sehr schwierig, besonders wenn ein HJ-Führer in der Nähe steht." Oft feierten wir mit Freunden in ihrer Heimatgemeinde die Jugendmesse. Die Kapläne waren von unserem Engagement begeistert, die alten Pfarrer gerührt, während uns die Bauern oft nach der Messe dankten und die Kirchenfeindlichkeit der Partei offen kritisierten. Neben den regelmäßigen Glaubensstunden und über die sonntäglichen Gottesdienste hinaus trafen wir uns bei besonderen Anlässen zu kirchlichen Jugendfeiern. So kamen schon Ende des Schuljahres 1941 250 Jugendliche und zehn Professoren in die Domkirche, um mit Bischof Memelauer den Schlußgottesdienst zu feiern. Der Bischof drückte uns nachher sichtlich beeindruckt die Hand. Einige Monate später füllten Hunderte junger Leute, die diesmal schon mit der Bahn, auf Fahrrädern und auf Schleichwegen zur Christkönigsfeier gekommen waren, den Dom. "King predigt begeisternd. Der Bischof spricht am Schluß. Er fordert uns auf, Mut zu zeigen und der Welt ins Gesicht zu sagen, daß wir Katholiken sind. Denn ein jeder Mensch, der die Überzeugung des anderen nicht achtet, ist bildungs- und herzlos. Es ist eine vernichtende Attacke gegen die anwesenden Gestapo-Spitzel in der Kirche", notierte einer überschwenglich in sein Tagebuch. Einen besonderen Höhepunkt aber bildete die Marienfeier 1942, bei der der Bischof über fünfhundert Jugendlichen aus Stadt und Umgebung sein berühmt gewordenes "Bange machen gilt nicht!" zurief. Von diesen Feierstunden ist uns neben einzelnen Gedichten von Werner Bergengruen, Reinhold Schneider oder Gertrud von Le Forts "Hymnen an die Kirche" bis heute noch jenes Gebet Kardinal Newmans in Erinnerung, das wir besonders liebten, weil es unsere Situation und unser Lebensgefühl so treffend artikulierte:
"O Gott! Die Zeit ist voller Bedrängnis Die Sache Christi liegt wie im Todeskampf Und doch: Nie schritt Christus mächtiger durch die Erdenzeit Nie war sein Kommen deutlicher Nie seine Nähe spürbarer als jetzt! ... O Gott! Du kannst das Dunkel der Zeit erleuchten! Du kannst es allein!"
Dr. König nahm sich viel Zeit für uns. Die Tür seiner Zwei-Zimmer-Wohnung am oberen Kreuzgang stand uns immer offen, er war über unsere häufigen Besuche, auch zur unpassendsten Zeit, nie ungehalten. Wenn er öffnete, hatte er meist ein Buch in der Hand, denn er arbeitete bereits an seiner Habilitationsschrift. Manchmal kamen wir auch mit einem schwierigen Text zu ihm, er übersetzte dann mühelos Sallust oder Ovid, Plato, Sophokles oder Shakespeare. An Sonntagen fuhren wir, - um nicht aufzufallen, in kleineren Gruppen - in den Dunkelsteinerwald oder in das Pielachtal und trafen uns mit Jugendgruppen aus anderen Pfarren. „King“ war immer dabei, kam, wenn er noch eine Spätmesse zu zelebrieren hatte, auf dem Fahrrad unter „Geleitschutz“ nach, manchmal in geborgten Stiefeln, mit Parteiabzeichen getarnt, und saß zuhörend und diskutierend unter uns. Als die ersten von uns zur Wehrmacht eingezogen oder zum Kriegs- oder Fabrikseinsatz verpflichtet wurden, schrieb er allen Jahre hindurch Briefe - es müssen Tausende gewesen sein.
Dennoch begegnete er uns immer als ein Lernender. In seinen Gesprächen mit Yvonne Chauffin erzählte er, wie ihn Neugier und Streben nach Wissen und Bildung schon von Kindheit an begleiteten: "Mich interessiert alles, denn ich habe ein großes Verlangen nach Wissen. Dieses Verlangen nach Wissen erschien mir als die natürlichste Sache der Welt."
Wenn Alexander Mitscherlich den Gebildeten als einen Menschen definiert, "der seine jugendliche Ansprechbarkeit auf Neues und Unbekanntes behalten hat", so ist damit seine geistige Offenheit, seine Begeisterung für fremde Sprachen, sein Interesse für fremde Menschen, seine Achtung vor dem Fremden überhaupt auf eine treffende Formel gebracht. Wir hatten den Eindruck, daß er als Lernender und Lehrender in der Jugendarbeit, in der Schule und an der Universität sehr glücklich war. "Nil in vita iucundius quam discere et docere." Wer ihn lesend an seinem Stehpult, auf der Schreibmaschine tippend, auf der Kanzel, im Hörsaal, am Vortragspult und in der kleinen Diskussionsrunde erlebt hat, der fühlt sich immer an diese Feststellung Odo von Fleurys erinnert.
König konnte sehr geduldig zuhören. Uns fiel immer wieder auf, daß er diese Fähigkeit des rechten Zuhörens in einem sehr hohen Maß besaß. In der Literatur zur Didaktik und Methodik des Gespräches wird diese Fähigkeit als unabdingbare Voraussetzung für eine partnerschaftliche und dialogische Grundhaltung verlangt. Im Gespräch waren seine Augen ganz auf den Sprechenden gerichtet, der nie unterbrochen wurde. Nur hin und wieder verriet eine knappe Frage sein Interesse, und so hatten wir immer die Gewißheit, verstanden - und was für junge Menschen so wichtig ist - ernstgenommen zu werden. Da er pädagogischen Takt besaß, hatte er unsere unausgereiften Pläne und oft recht ausgefallenen Einfälle nie belächelt. Wenn er korrigierend lenkte, dann geschah dies meist in der behutsamen Möglichkeitsform: "...vielleicht könnten wir oder sollten wir..."
Einer der wichtigsten Grundsätze der Gruppenpädagogik besagt, daß der Gruppenleiter oder Erzieher dort anfangen müsse, wo die Gruppe steht, zum Team befähigen, die Gruppe selbst entscheiden lassen und nach dem Grundsatz: "So aktiv wie nötig, so passiv wie möglich", sich selbst entbehrlich machen sollte. So stand er nach außen nie an der Spitze und stellte sich auch selbst nie in den Mittelpunkt. Alle Aktivitäten - so schien es uns damals - waren von uns ausgegangen. Er leitete uns an, das eine oder andere kurze Referat zu halten, gab uns Bücher und Ratschläge dazu und ertrug, was wir oft mit jugendlichem Pathos verkündeten, mit Geduld und Gelassenheit. Wir selbst wählten die Lieder, suchten geeignete Texte und Gedichte und versuchten uns sogar als Dichter und Komponisten. Aus der Rosenkranzkapelle, wo wir uns zur Eucharistiefeier und zur Besinnungsstunde trafen, räumten wir die schweren Eichenbänke hinaus und stellten einen Volksaltar auf, und aus einer desolaten Rumpelkammer war in wochenlanger Arbeit ein Jugendzimmer geworden.
So hat er eher die Funktion des interessierten und zurückhaltenden Beobachters ausgeübt, der zum Berater, Impulsgeber und dadurch aber zum "enabler", also zum "Befähiger" wird. König hat, wie wir im Rückblick sachlich feststellen können, schon vor 40 Jahren das praktiziert, was heute in Aufsätzen, auf internationalen pädagogischen Arbeitstagungen und in Ausbildungsprogrammen gefordert wird: junge Menschen aus der Passivität herauszuführen, ihre geistigen und charakterlichen Kräfte und Anlagen zu wecken und zu entfalten, sie für Probleme zu sensibilisieren, sie "problemsichtig" zu machen und zum Dialog zu befähigen. So half er uns, nach den hinter den äußeren Vorgängen liegenden Ideen, Motiven und Zielen zu fragen, motivierte uns, die geistige Auseinandersetzung bewußt zu suchen. Manche von uns lasen den "Kampf", Auszüge aus dem "Mythos des 20. Jahrhunderts" von Alfred Rosenberg, Schirachs "Hitlerjugend - Idee und Gestalt", Aufsätze aus dem "Reich", hörten und diskutierten Goebbels Reden und Kommentare. Das hat uns die Verirrungen und Ungeheuerlichkeiten der NS-Ideologie weit deutlicher bewußt gemacht als alle vordergründige Kritik am System und seinen Bonzen. Wir lernten allmählich, uns aus der uns aufgezwungenen Unmündigkeit und Unterdrückung, aus politischer Bevormundung und ideologischer Indoktrination innerlich zu emanzipieren. Die Verleumdungskampagne gegen "Juden, Pfaffen und Marxisten" bewirkte daher eher einen unbewußten Solidarisierungseffekt mit allen, die vom Regime verfolgt wurden. Wir wußten, daß Katholiken, vor allem auch Priester, Sozialisten und Kommunisten in Gefängnissen saßen, ihre Mütter, Frauen und Kinder oft lange Zeit ohne Nachricht waren und Not litten. Dr. König nannte uns eine Adresse, schickte uns mit einem Lebensmittelpaket los, das wir vor der Wohnungstür abstellten, mußten aber sofort verschwinden, bevor noch geöffnet wurde. Wir ahnten damals, daß er zwar umfassendere Informationen und Kontakte hatte, wußten aber nicht, daß er auch Juden mit falschen Papieren ausstatten konnte.
Schon 1941 war die Gestapo auf die Jugendgruppe um Dr. König aufmerksam geworden. Auch die Jugendgruppen in anderen Pfarren, die mit uns Kontakt hatten, mußten, wenn nicht gleich mit dem Eingreifen der Gestapo, so doch sehr oft mit Schikanen der örtlichen Parteifunktionäre rechnen. So hinderte ein Ortsgruppenleiter an einem Fronleichnamstag, der Werktag war, die Leute am Besuch des Gottesdienstes. Andere untersagten oder beschränkten Prozessionen, verboten die Jugendmesse, drohten den Pfarrern und Kaplänen mit der Gestapo oder ließen die SA-Musik vor der Kirche aufmarschieren, um den Gottesdienst zu stören. Die Gestapo hat mit Vorliebe Mädchen vorgeladen, teils freundlich, teils drohend befragt und verhört, um belastende Aussagen zu sammeln und gegen König vorgehen zu können. Später schleusten sie über den HJ-Streifendienst einen Spitzel ein, der in regelmäßigen Abständen berichten mußte. Als wir davon Wind bekamen, und Dr. König bei seiner nächsten Vorladung dem Gestapobeamten den Namen ihres Vertrauensmannes nennen konnte, brach sie die Überwachung ab. Im letzten Kriegsjahr wurde Königs Briefverkehr überwacht. Eine Briefträgerin gestand ihm nach dem Krieg, daß sie die Weisung hatte, bestimmte Briefe bei der Gestapo abzuliefern. Da auch der Verdacht bestand, daß auch seine Telefongespräche abgehört wurden, unterhielt er sich mit seinen Priesterfreunden häufig in lateinischer Sprache. Bei der Durchsicht alter Briefe entdeckten wir die verschlüsselte Mitteilung, daß "King immer öfter beim 'Bladen Willi' in der Linzer Straße zu Besuch ist". Während eines Fronturlaubes erfuhren wir, daß er zum Verhör in die Wiener Gestapozentrale auf dem Morzinplatz befohlen wurde und nur knapp dem KZ entging und daß Pater Paulus, seit Juli 1943 in Haft, im Juni 1944 zum Tode verurteilt und vom Krankenlager zur Hinrichtung geholt wurde. "In den letzten Wochen, da er menschenunwürdig behandelt, viel gequält und mißhandelt wurde und unendlich viel zu leiden hatte, wuchs er, der zeitlebens eine so innige und sympathische Frömmigkeit gelebt hatte, ganz über sich hinaus...". Eines Tages tauchte auch das Gerücht auf, daß Toni Brunner, einer unserer Freunde, zum Tode verurteilt worden sei und in einem Wehrmachtsgefängnis auf seine Hinrichtung warte.
Vor diesem Hintergrund wird das Ausmaß des persönlichen Risikos deutlich, das Dr. König eingegangen war. "Ich ermaß, wie gefährlich der Weg war, den ich sie einschlagen ließ. Doch war die Gefahr ebenso groß, wenn nicht größer, wenn sie sich mit der Lage abfanden, in die sie der Anschluß gebracht hatte... Ich sprach mit ihnen darüber, was das Leben für ein Leben wäre, in dem die geistigen Werte keine Geltung mehr besäßen. Ich erklärte ihnen, wie sehr das Naziregime diese Werte bedrohte."
Als auch St. Pölten vom Bombenkrieg nicht verschont blieb, regte er im Februar 1945 an, mehrere kleine Arbeitskommandos zu bilden, die nach einem Luftangriff bei den Aufräumungsarbeiten helfen sollten. "Am 1. März war es soweit. Von diesem Tag an arbeiteten wir mit Arbeitskommandos. Eine Zentrale mit zwei Ausweichstellen nahm die Schadensmeldung entgegen. Die Kuriere fuhren von Haus zu Haus, oft mitten zwischen zwei Wellen, und so manches Mal ist einer hinter einer Mauerecke gelegen, wenn er von den Bomben überrascht wurde. Nach der Entwarnung kamen alle zur Zentrale und erfuhren dort den Arbeitsplatz. Jeder hatte Besen und Schaufel mit, und manche Wohnung konnte so schnell wieder hergerichtet werden. Wenn es am Anfang vielleicht auch nur mehr die Begeisterung war, so hatten wir alle bald die staubige Arbeit satt, aber der Helfer wurden nicht weniger. Bei stärkeren Schäden wurden die Buben zu Möbeltransporteuren, und wo die Kraft des einzelnen versagte, spannten sich eben andere vor die Wägelchen. Nicht selten auch Mädchen. Die Leute wunderten sich über die jungen Menschen, die beim Nachbarn arbeiteten: von früh bis spät, soweit es Schule und Beruf zuließen. Vom Altar gingen wir in die stehenden Ruinen.... In den letzten Wochen des Krieges, nachdem sich die deutschen Verbände in den Dunkelsteinerwald abgesetzt hatten, die sowjetischen Truppen näherrückten, die Stadt wiederholt bombardiert wurde und Kreisleiter und Parteifunktionäre bereits nach Westen geflohen waren, flüchteten immer mehr Menschen in die weitläufigen Kellergewölbe des Bistumsgebäudes, wo auch der Kreisleiter seine Befehlsstelle gehabt hatte. Dr. König verließ seine Zimmer und schlief nun wochenlang bei den verängstigten Menschen. Er war ausgebildeter Luftschutzwart, trug einen Overall und stand mit beiden Beinen in der Realität, wie kaum jemand anderer!" In diesen Tagen wird er, da er sich mit den Russen verständigen kann, immer wieder geholt, um Vermittlung gebeten und zu Hilfe gerufen, wenn die Soldaten einzelne Frauen und Mädchen aus den Kellern holen wollen. Wochen hindurch versteckt er mehrere Mädchen in den kastenförmig engen Räumen unter den Orgelpfeifen, deren Einstiege durch ein Holzgitter von außen zu- und aufzuschließen sind. Er geht - jetzt immer im Talar - zur russischen Kommandantur und protestiert gegen Übergriffe. Augenzeugen berichten, wie er täglich die Krankenschwestern von der Rotkreuzstelle zum Krankenhaus begleitete, immer unter den Jugendlichen war, die zu Arbeiten an der Eisenbahnbrücke oder zu Schanzarbeiten am Stadtrand geholt wurden. "Solange die Wasserleitung unterbrochen war, schleppte er vom Domplatzhydranten Wasser herbei, weil sich sonst niemand hinauswagte. Er beherbergt einen versprengten deutschen Soldaten und gibt ihm Zivilkleider. Viele Menschen, auch fernstehende Intellektuelle, suchen aus der persönlichen Notsituation heraus das Gespräch mit ihm... Zwischendurch aber lernt er fleißig Russischvokabeln und arbeitet an seiner Habilitationsschrift. Im Sommer 1945 wird Dr. König als Religionsprofessor nach Krems versetzt.
Die St. Pöltner Jahre sind im Leben Kardinal Königs und in unserem Leben eine kurze Spanne Zeit. Aber in diesen Jahren - so sagte er - habe er viel gelernt. Für uns waren diese Jahre entscheidend für unser späteres Leben. Daher sind sie uns mehr als Erinnerung.
Erstveröffentlichung in: Kardinal König, hrsg. von Annemarie Fenzl. Mit Photographien von Evelyn Tambour, Wien-München 1985, S. 27-32.
Vgl. auch: Karl Dillinger, Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz, in: Sie erzählen, was sie erlebten, hrsg. von der Kath. Aktion der Diözese St. Pölten, St. Pölten-Wien 1988, S. 76-90.