Mariazeller Matinée 1999: "Worauf warten wir?"
Ihrer Einladung entsprechend, im Sinne unserer adventlichen Tradition, möchte ich Sie heute bekanntmachen mit einem Adventgedanken des Klagenfurter Bischofs Egon Kapellari, aus seinem bei Herder erschienen Büchlein "Worauf warten wir?" Kapellari erzählt hier:
"Eines der Gedichte der Schriftstellerin Nelly Sachs, die 1966 den Nobelpreis für Literatur erhielt, beginnt mit der Verheißung: 'Einer wird den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen.' Die jüdische Dichterin war durch das Leiden ihres Volkes und durch das Leiden der Geschöpfe überhaupt tief verwundet. Eine vielstimmige Klage über dieses Leiden durchzieht ihr Werk. Doch aus dieser Klage erblühen immer wieder Worte der Hoffnung, wie dieses: 'Einer wird kommen.' In der Sprache des Judentums verweist ein solches Wort wie von selbst auf die Gestalt des Messias, aus den viele in Israel immer wieder gewartet haben und dessen Bild auch heute Strahlkraft besitzt.
'Einer wird den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen' sagt die Dichterin. Der Ball, von dem hier die Rede ist, ist der Planet Erde, der Erdball, mit dem Menschen nicht erst heute ein rücksichtsloses, ja tödliches Spiel treiben, ein Spiel mit einem ungeheuren Einsatz. Aufs Spiel gesetzt wird das Leben sowohl derer, die heute diesen Planeten bewohnen, wie auch derer, die ihn morgen bewohnen werden. Es ist ein auf-das-Spiel-setzen der Erde als Lebensraum durch Gefährdung und Verwüstung unserer Umwelt. Gegen diese grauenhafte Perspektive setzt die Dichterin ein Wort der Hoffnung: 'Einer wird kommen und ihnen das Grün der Frühlingsknospe an den Gebetsmantel nähen und als Zeichen gesetzt an die Stirn des Jahrhunderts die Seidenlocke des Kindes.'
Mit dem Spiel des verheißenen Friedensbringers, der stark genug ist, die Mächtigen zu entwaffnen, verbindet sich das Bild eines hilflosen Kindes. Die Seidenlocke dieses Kindes soll ein Zeichen werden an der "Stirn" eines befriedeten Jahrhunderts. Wenn er kommt, sagt Nelly Sachs, ist Amen zu sagen, diese Krönung der Worte, die ins Verborgene zieht und Frieden, du großes Augenlid, das alle Unruhe verschließt, mit deinem himmlischen Wimpernkranz.' Die Bilder dieses aus biblischem Erbe gestalteten Gedichtes verbinden sich für den Christen mit der Gestalt Jesu Christi als Kind von Bethlehem und als Mann von Nazareth. Er kam, um die Gewalt durch seine wehrlose Liebe an der Wurzel in Frage zu stellen und zu entmächtigen. Er schlug nicht zurück, als er geschlagen wurde. Am Kreuz war er scheinbar gescheitert, aber er ist auferstanden und wird wiederkommen in Herrlichkeit, um jene Hoffnungen auf eine neue Welt einzulösen, die sich ansatzhaft schon bei seinem ersten Kommen erfüllt haben.
Nicht nur im Volke Israel leben viele Menschen im Advent, weil sie das Kommen des Messias erwarten. Auch die Kirche wartet. Aber sie kennt schon, den sie zum Ende des langen Advents der Weltgeschichte erwartet, Jesus Christus."
Und dazu, wie jedes Jahr, auch heuer wieder die Stimme des Propheten Jesaja aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert, der für mich als Stimme im Advent große Bedeutung hat: Hören wir zunächst die Geschichte seiner Berufung:
"Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine Frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung; damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe, einen Tag der Vergeltung unseres Gottes, damit ich alle Trauernden tröste, die Trauernden Zions erfreue, ihnen Schmuck bringe anstelle von Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, Jubel statt der Verzweiflung."
Die Berufung des wortgewaltigen Propheten Jesaja aber war es, seinem Volke die Ehrfurcht vor dem einen Gott zu lehren und seine Wege zu weisen. Dazu einige Sätze aus seiner Gottesvision:
"Wer misst das Meer mit der hohlen Hand? Wer kann mit der ausgespannten Hand den Himmel vermessen? Wer wiegt die Berge mit einer Waage und mit Gewichten die Hügel? Wer bestimmt den Geist des Herrn? Wer kann sein Berater sein und ihn unterrichten? Wen fragt er um Rat und wer vermittelt ihm Einsicht? ..... Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und welches Bild an seine Stelle setzen? Wisst ihr es nicht, hört ihr es nicht? War es euch nicht von Anfang bekannt? ..... Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf. Er wird nicht müde und matt, unergründlich ist seine Einsicht."
Und dieser große Gott ist als Gotteswort in Menschengestalt unser aller Bruder geworden. Und in wenigen Tagen, an der Schwelle eines neuen Millenniums, dürfen wir wieder Weihnachten feiern, als Erinnerung an jenes Ereignis von Bethlehem, das die Weltgeschichte verändert hat.