2. Adventsonntag: Die große Erwartung
Der Advent ist ein Zeichen der Sehnsucht des Menschen nach dem Unendlichen, nach dem grenzenlosen Gott, nach der totalen Erfüllung des menschlichen Lebens. Die Muttergottes stellt uns diese Sehnsucht des Menschen in besonderer Weise vor Augen. Ihr ganzes Leben war eine einzige große Erwartung Gottes.
Solche Sehnsucht kann der Mensch nur deswegen haben, weil er schon etwas von dieser Liebe erfahren hat. Sehnsucht nach dem unermesslichen, großen Gott kann der Mensch nur deswegen haben, weil er schon etwas von diesem großen, unendlichen Gott erfahren hat.
Das Tiefste und Kostbarste
Diese Sehnsucht des Menschen nach Gott, dem absoluten, grenzenlosen, totalen, ist das Tiefste und Kostbarste im Menschen, das Innerste. Sie entfaltet sich daher auch am spätesten im Menschen. So wie sich bei einer Blume erst die äußeren Kelchblätter entfalten und dann die äußeren Blütenblätter und erst allmählich das Innerste der Blüte sichtbar wird, so ist das auch bei dieser Sehnsucht des Menschen nach dem Absoluten. Zuerst sehnt sich der Mensch nach Sinn und Wert und nach Gemeinschaft, nach Wahrheit, Besitz und Anerkennung, nach Liebe, Familie und Heimat. Und erst allmählich bricht im Menschen diese innerste Sehnsucht nach Gott durch, diese Sehnsucht nach dem bleibenden und grenzenlosen, nach dem unendlichen Gott. Diese Sehnsucht nach dem Unendlichen ist das, was den Menschen zum Menschen macht, was ihn unterscheidet von allen anderen lebenden Wesen.
Das eigentliche Leben
Diese Erfahrung des unendlichen Gottes kommt über den Menschen so ähnlich wie die Liebe. Denn Gott ist die Liebe. Man kann diese Erfahrung nicht erzwingen. Sie kann plötzlich über den Menschen hereinbrechen oder langsam aufkeimen. Aber wenn der Mensch diese unfassbar große Wirklichkeit Gottes erfährt, dann weiß er, hier ist das eigentliche Leben, hier ist die eigentliche Lebenserfüllung, hier ist die eigentliche Wirklichkeit, die eigentliche Geborgenheit des Lebens. Und er soll dann wissen, dass er diese volle Wirklichkeit Gottes weiterhin suchen muss. Er empfindet es wie einen Verrat, wenn er es nicht täte. Es ist wie bei der Liebe zwischen zwei Menschen: Wer sie erfährt, weiß, dass er sie nie mehr preisgeben darf, wenn er das eigene Leben nicht verraten will. Das ist der Grund, warum alle wirklich gläubigen Menschen die Stunden der Stille und des Gebetes suchen. So wie der Mensch, der von einer großen Liebe zu einem anderen erfasst wurde, die Gemeinschaft mit diesem Menschen sucht, so sucht jetzt der Mensch nach Gott. Das Gebet ist für jeden Menschen die große Suche nach dem unendlichen Gott, und deswegen nimmt sich dieser Mensch Zeit für die Stille. Denn in dieser stillen Zeit der Suche nach Gott erfährt dieser Mensch immer wieder jene Berührung mit dem Unendlichen, die er einst schon erfahren hat. Er erfährt sie nicht immer. Auch hier ist es ähnlich wie bei der menschlichen Liebe. Man sucht zwar die totale Gemeinschaft mit dem anderen, aber wenn sie sich ereignet, dann ist es Geschenk, Gnade, Ereignis. Man kann diese letzte Gemeinschaft mit dem anderen nicht erzwingen, nicht herbeiführen, nicht organisieren, planen und machen. Der gläubig gewordene Mensch sucht Gott auch dann, wenn diese Stunden des Gebetes oft scheinbar dürr bleiben, ergebnislos bleiben, nicht zur Begegnung führen. Denn die Liebe sucht immer den anderen, auch wenn sie ihn nicht immer findet. Und gerade deswegen ist es ein absoluter Glaube. Und dieser Glaube ist tiefer verwurzelt als das rein menschliche Wissen um alle irdischen Dinge. Denn dieser Glaube stammt aus einer abgründigen Erfahrung, die tiefer reicht als alle anderen Erfahrungen des Menschen.
Berührung mit Gott
Diese Suche nach dem unermesslichen Gott ist genau das, was Jesus mit den Worten ausdrückt: "Du sollst Gott, deinen Herren, lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit deinem ganzen Gemüte." Jesus meint damit das Ergriffensein des ganzen Menschen vom unendlichen Gott. So wie die wirkliche und große Liebe den gesamten Menschen ändert und ergreift, so und noch radikaler ist es bei der Begegnung mit Gott. In dieser lebendigen Berührung mit dem unendlichen Gott erlebt der Mensch die absolute Wirklichkeit Gottes. Aus dieser Begegnung im Gebet erwächst daher der tiefste Glaube des Menschen. Jede wirklich tiefe Liebe weckt im Menschen eine bisher ungeahnte Kraft, Hoffnung, Lebendigkeit. Diese Begegnung mit dem lebendigen Gott ist daher wie eine innere Stärkung und Erneuerung des ganzen Menschen, wie ein Jungbrunnen, wie ein reinigendes Bad, das uns erfrischt. Alle wirklich Gläubigen wissen um diese starke, religiöse Kraft.
Die Läuterung
In dieser stillen Begegnung mit Gott wird der Mensch tief innerlich gewandelt, geändert. Denn je mehr sich im Menschen die tiefste Sehnsucht entfalten kann, umso mehr wird dem Menschen sein eigenes Innerstes bewusst. Je mehr der Mensch in dieser abgründigen Sehnsucht Gott begegnet, umso abgründiger wird sich der Mensch seiner innersten Strebekräfte bewusst. Und so läutert sich der Mensch in dieser Begegnung mit Gott tiefer und tiefer. Alle menschlichen Sehnsüchte und Triebkräfte sind wie ein Bündel, bei dem es mehr Äußerliches gibt und ein Innerstes gibt. Zuerst entfaltet sich das Äußerlichste und dann mehr und mehr das Innere und erst zuletzt das Innerste, nämlich die Sehnsucht nach dem Absoluten, nach dem Unendlichen, nach dem Totalen und Ganzen, die Sehnsucht nach Gott. Je innerlicher die Sehnsucht des Menschen ist, umso tiefer reicht sie hinunter. Je tiefer der Glaube im Menschen verwurzelt ist, je tiefer der Mensch religiös wird, je inniger er Gott begegnet, umso mehr wird sich der Mensch all seiner Sehnsüchte bewusst und umso mehr ordnet und läutert sich all dieses innere Drängen und Streben des Menschen. Das ist der Grund, warum alle großen Heiligen ein viel stärker bewusstes Leben gelebt haben, als es sonst üblich ist. Im Allgemeinen leben wir wenig bewusst, mehr oder minder oberflächlich. Je tiefer unsere Begegnung mit Gott wird, je beständiger sie wird, umso bewusster wird unser Leben, umso mehr können wir es verantworten, umso mehr können wir es ordnen, umso mehr wird es unser eigenes Leben. Und umso mehr wird es Ausdruck der tiefsten Sehnsucht, der Liebe. Diese Zeit der Suche nach Gott, diese Zeit der Stille und des Gebetes ist daher nie verlorene Zeit. Sie ist ebenso wenig verlorene Zeit, wie die Zeit der Liebe zwischen zwei Menschen verlorene Zeit ist. In solchen Zeiten wachsen die Pläne, die Hoffnungen, die neuen Kräfte. In dieser Zeit der Stille und des Gebetes wächst die Einsicht, die Ordnung im Menschen. Jesus hat uns verheißen, dass diese Mühe um die Begegnung mit Gott in unserem Leben Frucht bringen wird, dreißigfältig, sechzigfältig, hundertfältig Frucht bringen wird. Wie viele Irrwege müssen wir im Leben doch gehen, einfach weil wir das Leben nicht richtig gesehen haben. Wir können uns viel ersparen, wenn wir diesen Weg der Gemeinschaft mit Gott suchen. Diese Zeit der Stille, des Gebetes und der Gottessehnsucht ist wahrhaft nie verlorene Zeit: Für uns nicht und für andere nicht. Denn auch die anderen werden durch uns das Hundertfältige, Sechzigfältige, Dreißigfältige empfangen.
Sehnsüchtige Liebe
Bei diesem Hungern und Dürsten nach dem unendlichen Gott ist es ganz ähnlich wie bei der Liebessehnsucht des Menschen. Oft haben wir Sehnsucht, doch die Liebe ereignet sich nicht, oft müssen wir suchen, doch wir finden nicht, oft ersehnen wir das Licht wie ein Blinder, aber nichts macht unsere Dunkelheit hell. Oft beenden wir diese Stunde des Gebetes ebenso müde, wie wir sie begonnen haben. Und doch weiß es jeder, der wirklich Gott liebt, dass er diese Suche nach Gott nie aufgeben darf, auch wenn sie nicht immer Erfüllung findet - zumindest scheinbar nicht. Wer sich Tag für Tag Zeit nimmt für diese Stunde der Stille, der weiß, dass diese Suche nach Gott immer Segen bringt, immer Frucht bringt, immer zu einer inneren Erneuerung führt, immer an uns etwas verändert. Auch dann, wenn wir scheinbar mit leeren Händen ausgehen, vergeblich gesucht haben und scheinbar an verschlossene Tore geklopft haben. Wer wirklich liebt, wird die Suche nach Gott nie aufgeben. Und er wird immer und gewiss finden, was er sucht. Gott selber hat sich dafür verbürgt, und alle, die wirklich gläubig waren, haben dies bestätigt.
Es ist meine Überzeugung, dass die Krise des religiösen Lebens, die wir heute trauernd zur Kenntnis nehmen müssen, im Wesentlichen daher stammt, dass wir Christen auf dieser Suche nach dem unendlichen Gott lahm und lässig geworden sind. Diese sehnsüchtige Suche nach dem unendlichen Gott geschieht nicht mehr allgemein. Die wenigsten nehmen sich dafür Zeit. Wir haben uns hineinhetzen lassen in eine technisierte Leistungsgesellschaft, wir gönnen uns nicht mehr diese stille Stunde des Gebetes Tag für Tag. Den Christen von heute fehlen diese stillen sehnsüchtigen Stunden des Gebetes und der Gemeinschaft mit dem Unendlichen, der uns ergreift und erfasst und verändert bis in unser Innerstes hinab. Wo sind die Menschen, die sich Tag für Tag für diese sehnsüchtige Suche nach Gott noch Zeit nehmen? Und wir Christen belehren die Menschen darüber nicht genügend. Wir zeigen und ermöglichen ihnen nicht mehr diesen Weg der Stille. Vielleicht deswegen, weil es heute schon zu wenige gibt, die selber Tag für Tag stille werden, Gott suchen und betrachten und beten. Wo sind die Beter, die Tag für Tag diese lange Zeit der Suche nach Gott noch wagen? Wo sind die Lehrmeister, die den anderen diesen Weg heute noch zeigen? Wo sind sie, die davon Zeugnis geben, dass aus dieser Stunde des Hungerns und Dürstens nach Gott wirklich neues Leben erwächst? Es gibt solche Christen, Gott sei Dank, Priester und Laien, Männer und Frauen. Aber sie sind viel zu wenige. Wir brauchen mehr solche Menschen.
Der Weg zu Gott
Das ist meine Überzeugung: Der Weg zur Erneuerung der Kirche ist ein Weg zurück zu dieser Stille und zu diesem Gebet, zu dieser täglichen Suche nach der lebendigen Gemeinschaft mit Gott. Sonst werden wir schuldig an dem Gebot, das uns Jesus Christus aufgetragen hat: "Du sollst Gott, deinen Herrn, suchen mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Gemüte und mit allen deinen Kräften."
Es fehlt der Kirche unserer Tage nicht an gutem Willen. Im Gegenteil. Aber es ist oft ein hilfloses Suchen. Das Herz sucht nicht mehr, der Mensch nimmt sich nicht mehr die Zeit der liebenden Vereinigung mit Gott. Wir haben das Geheimnis dieser Begegnung mit Gott unter Stößen von Papier verloren, verstauben lassen, vergessen, vergraben. Das ist meine Überzeugung, dass wir solche Menschen finden werden. Je härter die Not in der Kirche wird, umso mehr wird dieses sehnsüchtige Hungern und Dürsten nach Gott in den Menschen aufbrechen. Schon heute weiß ich um tausende Menschen in den verschiedensten Gruppierungen unserer Kirche, die um dieses Geheimnis der täglichen Gottbegegnung wissen. Sie wissen, dass hier der eigentliche Kraftquell und die eigentliche Erneuerung des Lebens liegt. Gerade solche Menschen spüren, dass ihr Gebet noch zu wenig ist, dass ihre Zeit der Stille noch zu spärlich ist und dass sie diesen eigentlichen Weg der Gottesbegegnung noch zu treulos gehen. Alle diese Menschen möchte ich ermuntern: Geht euren Weg, kargt nicht mit der Zeit der Stille und des Gebetes. Ihr müsst zu Zeugen werden, dass Gott ein großzügiger Gott ist, der euch in dieser Zeit des Gebetes reich beschenkt, Kraft gibt, Mut und Hoffnung gibt. Nur wenn ihr eurer Berufung treu bleibt, werdet ihr lautes Zeugnis geben für die anderen, die zwar Sehnsucht in sich verspüren, aber um den Weg zur Gemeinschaft mit Gott noch nichts wissen, weil ihnen niemand den Weg zeigt.
Gott ist die Liebe
Gott ist die Liebe. Wo ein Mensch sich von dieser Liebe Gottes ergreifen lässt, dort wird die Allmacht der Liebe Gottes in diesem Menschen gegenwärtig. Und deswegen vermag Gott aus diesen Menschen, die sich Zeit zur Stille und zum Gebet nehmen, die Wunder der Erneuerung zu wirken. So hat Er es immer in der Geschichte der Kirche gemacht, und so wird Er es auch jetzt tun. Immer wenn die Not groß wurde, hat Gott Menschen erweckt, in denen das Geheimnis dieser Begegnung mit Gott wundermächtig und stark wurde. Auf diese Menschen warten wir, auf diese Wunder Gottes warten wir, und diese Wunder Gottes sehen wir heute da und dort schon vor Augen.
Brüder und Schwestern, glaubt daran, dass die Liebe Gottes auch in euch wachsen soll. Vielleicht müsst ihr mit zwei Minuten täglich anfangen, mit fünf Minuten, mit zehn Minuten der Stille und des Gebetes. Wenn Gott euch in diesen wenigen Minuten beschenkt und oft beschenkt, dann werdet ihr wissen, dass hier der Weg zum Leben führt und dass ihr diesen Weg nicht mehr verlassen dürft. Dann werdet ihr auch wissen, dass ihr diesen Weg tapfer und rascher voranschreiten müsst. So wird eure Zeit der täglichen Stille länger werden. Eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, und ihr werdet erkennen, dass ihr diese Zeit in eurem Tag spielend wieder hereinbringt. Wenn ihr zur täglichen Stunde der Stille und des Gebetes gelangt, werdet ihr voll Kraft und Überzeugung den anderen verkünden: Ohne diese Stunde des Gebetes und der Stille würden wir das Doppelte an Zeit vertrödeln oder Irrwege gehen, das Doppelte an Zeit würden wir für Tätigkeiten aufwenden, die nicht zum eigentlichen Leben führen. So möchte ich euch in dieser Stunde des Advents ermuntern: Glaubt an die große Weihnacht des Lebens, glaubt an das große unendliche Licht, das schon Millionen Christen ergriffen hat in aller Welt. Glaubt daran und sucht; ihr werdet finden, denn Gott hat es euch verheißen, Er wird auch euch diese Weihnacht schenken!