Erneuerung der Welt: Gedanken zu Silvester
Heute ist Silvester, der letzte Tag dieses Jahres. In aller Welt fragen sich heute die Menschen, was die Zukunft bringen wird, was das nächste Jahr bringen wird. Es ist das Erlebnis einer Schwelle, die wir überschreiten, aus einer Zeit, die hinter uns liegt, in eine ungewisse Zukunft, die niemand von uns kennt. Dieses Bewusstsein einer ungewissen Zukunft ist immer ein Gemisch aus großer Hoffnung und einem gewissen Bangen. Denn wir kennen die Welt, wir wissen um den Lärm der Waffen, um Ströme von Blut, um Zerklüftung und Spaltung in der Welt, um Feindschaft und Machtblöcke.
Empörte Nationen, hungernde, machtlose Völker, die mit hungrigen Augen auf die anderen schauen, die das Zehnfache zum Leben haben. Wie kann da Friede werden? Wird der Friede und die Zukunft durch Konferenzen gesichert werden, durch Besprechungen, Geheimabkommen, Volksabstimmungen, intelligente Politiker? Aber kann da Friede werden, wo die einen noch herrschen und haben wollen und ihren reichen Platz mit den anderen nicht teilen wollen? Kann da Friede werden, wo ganze Völker ihren Platz nicht teilen wollen mit anderen, die nur ein Zehntel davon haben an Wissen, Nahrung, Komfort, Bildung, Vergnügen und Reichtum?
Dunkle Mächte und Gewalten
Die Völker ahnen, was in der Heiligen Schrift steht: Diese ganze Welt ist in der Macht des Bösen, wird beherrscht von oft dunklen Mächten und Gewalten, die diese Welt in Bann geschlagen haben. Die Götzen dieser Welt heißen Habsucht, Herrschsucht, Sinnenrausch. Wie wird die Welt zum Frieden finden, solange sie von diesen Netzen umhüllt ist, die in jedem einzelnen von uns gewoben werden?
Ist nicht jeder einzelne von uns beteiligt an diesen dunklen Mächten und Gewalten, in die diese Welt und der einzelne sich immer mehr und mehr verstricken? Hat man nicht vor wenigen Wochen zum ersten Mal in der Geschichte der Welt von Verbrechern sich anhören müssen, dass sie ein ganzes Atomkraftwerk vernichten wollten und damit ungeahntes Unheil über die Menschheit zu bringen beabsichtigten? Wird sich der Terror nicht fortsetzen, die selbstmörderische Drohung mit dem Tod für Millionen, die Machthaberei um jeden Preis?
Wie wird es weitergehen?
So blickt der Mensch mit Bangen in ein kommendes Jahr. Die Welt fragt sich: Wie finden wir den Weg zum großen Frieden, zur großen Völkergemeinschaft, zu einer wirklichen Menschlichkeit für alle, zur Sicherheit für den einzelnen, zur wirklichen Hoffnung für unsere Kinder und zur Gerechtigkeit für alle Welt? Dieses Bangen umgreift die ganze Welt, auch die vielen Millionen Christen dieser Welt, denn auch sie sind ein Teil dieser Welt.
Auch die Kirche ist in dieses Bangen hineingezogen, in diese Zerklüftung, in diesen Terror, in diese Verblendung, ins Abgleiten, in den Sinnenrausch, in die Machthaberei, in feindlich gegensätzliche Lager, in Herrschsucht, Habsucht und Rechthaberei. Wir fragen uns als gläubige Christen - und gerade weil wir mitfühlen mit dieser Kirche - wie wird das weitergehen?
Gibt es Hoffnung, wenn wir als Realisten denken und die Mächte des Bösen in dieser Zeit am Werke sehen? Sind nicht viele schon mutlos geworden? Haben die Hände in den Schoß gelegt und warten auf das Gericht Gottes? Haben nicht andere ganz unangemessene Hoffnungen, utopische Zukunftsgedanken, unrealistische Programme für die Zukunft der Kirche und der Welt? Mein Gott, was denkst Du darüber? Was wird das nächste Jahr bringen, was wird die nächste Zukunft bringen?
Erlösung der Welt
Jesus hat die Verstrickung dieser Welt in das Böse deutlich genug ausgesprochen, und er hat uns nicht verheißen, dass wir uns mit unserer Kraft und Anstrengung aus dieser Verstrickung würden lösen können. Wir können sie nicht besiegen. Die endgültige Lösung und Erlösung hat er sich vorbehalten für das große Ereignis für die ganze Welt, als letztes Ereignis dieser Welt. Aber uns Christen hat er gesagt und aufgetragen: Wir sollen nicht fragen, wann die Stunde Gottes kommt, denn die weiß der Vater allein.
Wir wollen vielmehr tapfer das Reich Gottes dort begründen, wo wir leben. Wo wir leben, dort soll das Reich Gottes sein, dort soll Christus gegenwärtig werden. Dort soll die Erlösung der Welt beginnen und sich ausbreiten wie ein Sauerteig, der in ein paar Stunden die ganze Masse des Teiges verdoppelt. Wir Christen sollten wie ein Licht sein, das inmitten einer dunklen Nacht auf hunderte und tausende Meter sichtbar wird. Wir Christen sollten wie Salz werden, das das schale Leben dieser Welt genießbar macht, würzt, reinigt, schmackhaft macht.
Uns Christen, die wir oft auf scheinbar verlorenem Posten stehen, hat Jesus einen geradezu ungeheuerlichen Auftrag gegeben: "Gehet hin und macht euch alle Völker zu Jüngern, tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe" (Mt 28,19).
Wie sollen diese wenigen überzeugten Jünger Jesu diese so ungeheuerliche Aufgabe bewältigen? Wo sollen sie die Menschen hernehmen, wo finden sie Mitarbeiter? Das ist gerade heute eine der aktuellsten Fragen der Kirche. Wo finden wir hunderte, tausende und zehntausende Mitarbeiter Christi, die die Kirche überall benötigt, um ihren Auftrag zu erfüllen an den Alten und Kranken, an den Familien, an der Jugend, an den Kindern, an den Alleinstehenden, den Vereinzelten, den Hilflosen, an den Entlassenen, Verwahrlosten, Verkommenen? Wo nehmen wir diese Zehntausende Mitarbeiter her? Wie kommen wir zu diesen Mitarbeitern, da wir schon nicht jeden Pfarrhof unserer Diözese mit einem Pfarrer besetzen können, weil wir keine mehr haben? Wo nehmen wir diese Mitarbeiter her, die dieses Reich Gottes machtvoll in die Häuser und Dörfer und Großstädte tragen?
Die das Leben Christi in die ganze Welt tragen, das Leben Seiner Liebe, Seiner Wahrheit, die volle Gemeinschaft, Seinen Frieden, Seinen Geist? Wie findet die Gesellschaft jene Mitarbeiter Gottes, die die ganze Welt noch einmal umwandeln zu einem Orte des Friedens? Wie findet die Kirche jene Mitarbeiter Christi, die diese Kirche von innen her erneuern? Willst du nicht mithelfen, wo immer Mitarbeiter Christi gesucht werden? Denke an die Jugend, die Kinder, die Alten, die Familien, denke an die Hilflosen, Verwahrlosten und Verkommenen. Denke an die vielen einsam und alt Gewordenen.
Von Gott ergriffen
Das Geheimnis der Berufung zum Mitarbeiter Gottes ist das Geheimnis der Begegnung mit Gott, der Berührung mit diesem unermesslichen Gott. Wenn ein Mensch in seiner Sehnsucht nach dem unbedingt sinnvollen Leben, nach dem absolut gültigen Leben, in seiner Sehnsucht nach dem Unermesslichen, Gott begegnet und von Gott ergriffen wird, dann weiß sich dieser Mensch zugleich für diese absolute Wirklichkeit Gottes verantwortlich.
Er weiß sich für die absolute Wahrheit und Wirklichkeit Gottes in dem Maße verantwortlich, als er ihr begegnet, von ihr ergriffen wird und in diese Wirklichkeit Gottes aufgenommen wird. Dann ist Gott sein eigenes Leben geworden, sein eigenes Interesse geworden. Es geht in diesem Menschen von nun an nur noch um eine einzige Wirklichkeit und die ist Gott und sein eigenes Leben zugleich. Dieser Mensch hat dasselbe erfahren, was jeder Mensch der Liebe erfährt. Wer wirklich liebt, wird mit dem anderen ein einziges Ganzes, er unterscheidet dann nicht mehr zwischen den Interessen des anderen und den eigenen Interessen; wird der andere gekränkt, ist man selber beleidigt, erfährt der andere Leid, dann erfährt man das eigene Mitleid, erlebt der andere Frohes, Großes, Alltägliches, so fühlt man mit, lebt man mit, freut sich mit und leidet mit.
Es ist ein einziges Leben geworden, denn Jesus sagt: Die zwei werden "ein Leib", ein Leben, ein Ganzes; für das Leben des anderen setzt man sich ein wie für sein eigenes Leben, und geht das Leben des anderen zugrunde, dann geht zugleich das eigene zugrunde, weil man ohne den anderen nicht leben kann, mit ihm verwachsen ist zu einem Ganzen. So ist es auch, wenn der Mensch in dieser unermesslichen Begegnung mit dem grenzenlosen Gott ergriffen wird, von dieser totalen Wirklichkeit Gottes. Mein und sein Leben wird ein einziges werden. Wenn ich mich um ihn nicht kümmere, verkümmert in mir selber das Leben. Wenn ich mich nicht sorge, dass sein Leben diese Welt erfasst, dann wird sein Leben auch mich nicht mehr erfassen.
Die Wirklichkeit Gottes
In dem Maße, als ein Mensch diese absolute Wirklichkeit Gottes erfährt, kann er nicht anders, als sich für diese totale und umfassende Wirklichkeit Gottes einzusetzen, dass sie die ganze Welt ergreife und umgestalte. Denn diese Wirklichkeit Gottes ist ja die eigentliche Wirklichkeit, die letzte und totale Wirklichkeit, das eigentliche und totale Leben, die umfassende und radikale Liebe, die Wurzel aller Gemeinschaft, aller Sinnerfüllung, aller Ganzheit und aller Freude. Und deswegen weiß sich der Mensch für diese Wirklichkeit Gottes in der Welt verantwortlich, auch wenn es ihm niemand aufträgt, und sogar dann, wenn man ihm Schwierigkeiten in den Weg legt.
Er weiß sich hinausgesendet, so wie ein Mann, der seine Familie liebt, sich in die Welt gesendet weiß, um für sie und für sich reiche Ernte heimzubringen. Und so wie sich die Liebe im Leben des Menschen manchmal ganz außerordentlich ereignet, über den Menschen kommt, so wird auch diesen gläubigen Menschen der Ruf Gottes manchmal besonders eindringlich bewusst als Berufung, als Sendung, als Auftrag zum Apostolat, als Mission. Und diese Worte Apostolat, Mission, Sendung bedeuten dasselbe. Ich weiß mich dafür verantwortlich, dass das Reich Gottes in dieser Welt überall wächst, weil es sonst auch in mir nicht wächst. Ich bin verantwortlich dafür, wenn dieses Reich Gottes irgendwo zugrunde geht, weil es auch dann in mir gefährdet ist.
Reich Gottes bedeutet, dass dieses Stück der Welt sich von Gott ergreifen lässt, sich von der unfassbaren Liebe Gottes erfüllen lässt, in die totale Ganzheit Gottes aufnehmen lässt, bis Jesus auch dort sagen kann: "Vater, lass sie mit uns eins sein, so wie du mit mir eins bist und ich mit dir eins bin" (Joh 17,21).
Ich und das Reich Gottes
Wer sich verantwortlich weiß für das Reich Gottes in der Welt, der wird erfinderisch sein, weil jede Liebe erfinderisch ist. Er wird einen Weg finden, um den Menschen die Liebe Gottes und die unfassbare absolute Wirklichkeit Gottes nahezubringen, begreifbar zu machen. Er wird diese unermessliche Wirklichkeit Gottes vor allem dadurch verkünden, dass er Christus gegenwärtig macht durch sein eigenes Leben, nicht nur durch leere Worte. - So sollen die Menschen uns Christen als Gegenwart Christi erkennen und in unsere Fußstapfen treten und mit uns gemeinsam gehen, damit "Kirche" werde. Indem sie uns als Christen erkennen, sollen sie Christus erkennen, und so soll Kirche entstehen, d.h. Gemeinschaft der Jünger Christi werden.
Apostolat kann man nicht nur einfach organisieren, planen, konstruieren und kommandieren. Apostolat ist eine Frage der inneren Berufung des Menschen, der der unermesslichen Fülle Gottes begegnet ist. Bei diesen Menschen wächst das Apostolat, die Sendung, die Berufung - sonst nicht. Solche Menschen werden dieses Apostolat ausüben, wo sie stehen und gehen, wo immer sie leben: In der eigenen Familie, in ihrer Fabrik, in ihrem Büro, unter ihren Freunden, im Staat, an den verantwortlichen Stellen der Welt, als Arbeiter, als Mann, als Frau oder Kind. Sie werden dieses Apostolat nicht in aufdringlicher, gewaltsamer Weise ausüben, sondern so, wie man eine große Liebe weitergibt, die man empfangen hat. Denn was sich im Inneren ereignet hat, ist die Liebe Christi, die unfassbare Liebe Gottes.
Freunde und Mitarbeiter Gottes
So werden diese berufenen Mitarbeiter Gottes, wo immer sie stehen, etwas von ihrer eigenen Erkenntnis, eigenen Liebe, eigenen Überzeugung, Geduld und Kraft in ihre Umgebung hineintragen. So wird das Reich Gottes wachsen. Sie werden dessen Künder sein, und sie werden die Menschen zu ihrer Nachfolge bewegen. Diesen ungeheuren Auftrag hat Jesus Christus uns, seinen Jüngern, gegeben. Und wir werden uns einmal fragen müssen, wieweit wir in unserem eigenen persönlichen Leben diesem Auftrag Christi gerecht geworden sind.
Wie kann es geschehen, dass diese vielen Tausende von Mitarbeitern Gottes zur Mitarbeit in der Kirche berufen werden? Wieder werden wir mit dieser Stunde der Stille und des Gebetes beginnen müssen. Wir werden klein anfangen müssen, weil es oft ein langer Weg ist zu dieser lebendigen, ergreifenden Begegnung mit Gott. Wir werden mit ein paar Minuten anfangen müssen, aber damit werden wir wirklich anfangen müssen.
Wir werden beginnen müssen, Tag für Tag eine Zeit der Stille zu finden. Zunächst ein paar Minuten der Besinnung, dass wir zu uns kommen, wieder bewusst erleben, unser Leben wieder ordnen. Allmählich wird diese Zeit der Stille und der Besinnung wie von selber mehr und mehr Raum greifen in unserem Leben, und wir werden erkennen, dass es die fruchtbarste Zeit unseres Lebens ist, die uns viel Verdruss und Ärger, viele Schwächen und Irrwege erspart und unser Leben stärkt, zur Tatkraft bringt, zur Liebe befähigt, zur wundersamen Macht der wirklichen und wirksamen Liebe führt. Wir werden dann diese Stunde der Stille und des Gebetes in unserem Leben nie mehr missen wollen.
Und wenn sie einmal unter den Tisch fällt, vielleicht lange Zeit unter den Tisch fällt, werden wir die sauren Früchte dieser Versäumnisse spüren, und unser Leben wird selber wieder sauer werden, bis wir wieder mit dieser stillen Zeit der Besinnung beginnen, mit dieser Zeit der Sehnsucht, des Gebetes und der Begegnung mit Jesus Christus. Dann wird uns der Herr als Seine Freunde auch zur Mitsorge und Mitarbeit in Seinem Reich berufen.
Ich wünsche es Ihnen am Ausgang dieses Jahres und am Beginn dieses ungewissen kommenden Jahres, dass Sie zu diesen Zeiten der Stille und der inneren Kräftigung und zum Gebet gelangen. Das wird unser sehr realistischer Beitrag zur Veränderung der Welt sein. Das wird zugleich ein merklicher Beitrag zur inneren Erneuerung der Kirche sein. In diesen Zeiten der Stille und des Gebetes wird uns viel klar werden, was wir heute noch gar nicht ahnen, aber im kommenden Jahr vielleicht schon verwirklichen können. Ich wünsche es Ihnen von ganzem Herzen. Sie selber werden darüber glücklich sein, und die Welt wird es Ihnen danken.
Im Vertrauen auf unseren Herrn grüße ich Sie am letzten Tag dieses Jahres mit allen Segenswünschen des Herrn.
Ihr Franz Kardinal König
Gedruckt in: Kardinal Franz König, Advent- und Weihnachtszeit. Wien [u. a.], Veritas, 1975.