4. Adventsonntag: Umgestaltung und Wandel
Der Advent ist ein Zeichen der Sehnsucht nach Gott. Wir alle, die wir gläubige Menschen sind, haben mehr oder minder diesen lebendigen Gott erfahren. Und doch sind wir unzufrieden mit unserem Glauben, mit unserer Sehnsucht nach Gott, mit unserer Liebe zu Gott. Es ist so vieles brüchig an unserem Glauben, es ist so vieles dürr an unserer Liebe, es ist uns so vieles entschwunden, was einst in uns war an Glaube, Hoffnung und Liebe. Woher kommt das? Gewiss, der Glaube ist Gnade, die Liebe ist Gnade. Aber wir sind an dieser Liebe und am Wachsen dieser Liebe wesentlich beteiligt. Wir wissen uns dafür verantwortlich, ob unsere Liebe wächst oder ob wir untreu werden. Das ist bei jeder Liebe so, vor allem bei jener Liebe, die Gott gibt.
Mein Beitrag
Was haben wir dazu beigetragen, dass die erste Liebe zu Gott, die wir erfahren haben, in uns wach bleibt? Gilt nicht auch für uns jenes große Wort aus der Geheimen Offenbarung, in der Jesus zu uns sagt: "Aber ich werfe dir vor, dass du deine erste Liebe nicht mehr hast. Bedenke, von welcher Höhe du herabgesunken bist! Geh in dich und vollbringe wieder Taten wie früher. Sonst komme ich über dich und stoße deinen Leuchter von seiner Stelle" (Offb 2,4). Macht nicht auch uns Gott diesen Vorwurf, dass wir unsere erste Liebe nicht mehr haben? Wo sind die Zeiten geblieben, da wir Gott mit der ganzen Sehnsucht unseres Herzens gesucht haben, da wir wirklich mit brennendem Herzen nach der Wahrheit gesucht haben, nach einem Leben ohne falsche Kompromisse? Wo sind die Zeiten geblieben, da wir Gott in der Stille und im Gebet gesucht und gefunden haben? Wo blieben die Zeiten, da das Gewissen in uns erwachte und wir wussten, welchen Weg wir gehen müssen? Wie lange haben wir es ausgehalten ohne Verrat und wie hat sich dieser Verrat dann gehäuft, bis wir eines Tages vergessen hatten, wie wir früher gelebt haben, früher uns gesehnt haben. Es lag hinter uns wie eine ferne, verblasste Wirklichkeit, wie ein Traum aus Kinderzeiten. Ist es überhaupt noch möglich, dass wir zurückkehren zum Glanz und zum Glauben jener Zeit? Kann die große Liebe in uns überhaupt noch erwachen? Sind wir nicht zu bloßen Routiniers des religiösen Lebens geworden? Ist nicht das meiste verkümmert? Haben wir nicht das große und eigentlichste Anliegen unseres Lebens zur Seite gelegt, als unmöglich abgetan?
Umkehr und neuer Beginn
Noch ist etwas von dieser großen Sehnsucht in uns wach. Noch ist nicht alles erloschen. Unter einem Berg von Asche oder Schutt spüren wir noch etwas von jener geheimen Glut, die unser Leben wärmt und lebendig macht. Noch haben wir nicht alles preisgegeben. Noch hat uns Gott einen Lebenskeim gelassen. Wir danken Dir, Gott, dafür, aber wir wissen: Viele dürre Äste hat der Baum unseres Lebens, vieles ist weggebrochen, vieles ist im Sturm des Lebens zugrunde gegangen.
Gibt es eine Rückkehr, eine Umkehr, einen Neubeginn? Wir wissen es, dass das möglich ist und unsere geheime Sehnsucht sagt uns im Innersten, diese Umkehr soll sein, muss sein. Gott kann sie uns ermöglichen, aber es wird auf uns ankommen. Auch wenn wir jetzt keinen Weg wissen, wie diese innere Erneuerung möglich ist, auch wenn wir niemand in unserer Umgebung kennen, der dieses Kunststück und Wunder zuwege gebracht hat. Wir wissen, dass diese geheime Sehnsucht nach dem unermesslichen Gott, nach dem totalen Leben, nach der grenzenlosen Liebe, nach der Befreiung von der Schuld in unserem Leben Wirklichkeit werden kann und allmählich Wirklichkeit werden soll. Und deswegen, Herr, bitten wir Dich für uns und für alle, die wir kennen, hilf uns zu dieser inneren Erneuerung.
Die kleinen Rebläuse
Wie kann es geschehen, dass in uns die Liebe und Sehnsucht nach dem absolut gültigen Leben aufwacht? Wir wissen den Weg dazu, denn etwas von dieser Erfahrung der absoluten Wirklichkeit Gottes steht uns auch heute noch vor Augen. Und deswegen wissen wir: Diese unermessliche Wirklichkeit Gottes, die wir erfahren haben, hat Vorrang vor allem anderen, steht an erster Stelle und fordert den ersten Platz in unserem Leben. Das wissen wir ebenso wie es ein liebender Mensch weiß, diese Liebe hat Vorrang vor allen kleinlichen Wünschen seines sonstigen Lebens, und daran wird sich seine Liebe entscheiden, ob ich dieser großen Liebe den Vorrang gewähre vor allen kleinlichen Zänkereien und Süchten meines Lebens oder ob ich sie untergehen lasse in den zahllosen kleinlichen Augenblicken des kleinen Verrates an dieser Liebe. Hier ein bisschen Gift, dort ein bisschen Gift, so wird diese Liebe nach und nach vergiftet. Hier ein kleiner Verrat und dort ein kleiner Verrat, bis er sich häuft und ein Gebirge wird, das ich nicht mehr überschreiten kann. Ich komme nicht mehr hinüber und der andere kommt nicht mehr zu mir herüber. Im Hohen Lied der Liebe im Alten Testament ist von den vielen Füchsen die Rede, die den Weinberg der Liebe verwüsten. Haben wir dieses kleine Untier auch nicht im Weinberg unserer eigenen Liebe frei schalten und walten lassen? Hat nicht viel kleines Ungeziefer unsere Liebe verwüstet? Sind es nicht die kleinen Rebläuse, die in millionenfacher Anzahl den Weingarten verwüsten und fruchtlos machen? Müssen wir nicht anfangen, mit dem kleinen Ungeziefer in unserem Leben aufzuräumen, uns wieder selber zu säubern und reinen Tisch zu machen?
Das totale Ziel
Wir wissen insgeheim um den eigentlichen Weg zur großen Liebe. Diese große Liebe braucht Vorrang vor allem kleinlichen Verrat unseres Alltags. Bei unserer Liebe und Sehnsucht nach Gott ist es dasselbe. Diese absolute Wirklichkeit Gottes steht als das eigentliche Große vor uns, als das totale Ziel unseres Lebens, als die unermessliche Fülle unseres Lebens. Dieser unermessliche Gott braucht Vorrang vor allen kleinlichen Wünschen und Wollen unseres egoistischen Lebens. Seine Wahrheit und Liebe hat Vorrang vor allem anderen und muss in unserem Leben an erster Stelle stehen. Hat nicht Jesus genau so gesprochen? Er sagte doch dieses eindringliche Wort: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles andere wird euch hinzugegeben werden" (Mt 6,33). Gott muss an erster Stelle stehen, so sagt damit Jesus. Das ist der erste Weg zur großen Liebe und zur großen Sehnsucht, zum Reifen der Sehnsucht, zur Erfüllung der Liebe und zum Wachstum des Glaubens. Im Alten Testament hat Gott ebenso eindringlich gesprochen: "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben." Das ist der Weg zum religiösen Ergriffenwerden, zur vollen Gemeinschaft mit Gott, dass Gott an erster Stelle in unserem Leben steht und wir diesen ersten Platz nicht unseren Götzen überlassen.
Götzen in meinem Leben?
Ein Götze ist das, was nicht Gott ist und dennoch in unserem eigenen Leben den ersten Platz beansprucht und gleichsam am Altar unseres Lebens thront. Bei einem ist das die Karriere, beim anderen das Vergnügen, beim dritten das gedankenlose Darauflosleben, beim vierten ist es das Haben und Raffen, beim fünften ist es der Alkohol und das betäubende Leben, beim sechsten ist es das Rennen nach den ersten Plätzen dieser Welt, nach Macht und Einfluss, beim siebenten ist es die eigene Leistung, an der er sich berauschen will. So ist es bei jedem etwas anderes, was ihn beherrscht und dessen Knecht er wird. Der Knecht von Wein und Alkohol, der Knecht des eigenen Karrierestrebens, der Knecht der selbstgeforderten Leistung, der Knecht seines eigenen Habenwollens und immer mehr Habenwollens, der Knecht der Konsumangebote, der Knecht dessen, was die Leute über ihn denken, der Knecht der Massenmeinung, der Knecht seiner Gewohnheiten, seiner eigenen Feigheit, seiner eigenen Trägheit. Und all das nennt er schließlich noch Freiheit. Aber in Wirklichkeit ist er ein Sklave. Seine Freiheit ist eine Freiheit zum Tode, er trinkt sich zu Tode, er strebert sich zu Tode, er rennt sich zu Tode, er isst sich zu Tode, er ärgert sich zu Tode. Götzen üben eine tödliche Herrschaft aus. Insgeheim weiß der Mensch das. Er stöhnt unter den Götzen, die sein Leben beherrschen, dennoch dient er ihnen. Es ist eine Hassliebe. Er hasst zum Beispiel dieses gehetzte Leben und kann dennoch nicht mehr heraus. Es ist wie eine Betäubung: In diesem gehetzten Leben spürt er seine eigene Macht und dient er dem Götzen Macht. Er dient ihm, obwohl er weiß, dass dieses gehetzte Leben unter Druck ihn zu Tode peitscht, dass dieser Götze ihm das Lebenslicht ausbläst. Er dient ihm dennoch weiter, fluchend und dennoch anhänglich. Ein gespaltetes Leben, ein verblendetes Leben, das die Wirklichkeit nicht mehr sieht wie sie ist. Solche Menschen wagen der eigentlichen Wirklichkeit nicht mehr ins Auge zu schauen. So stirbt in ihnen dieses Wissen um die absolute Liebe Gottes, um das unbedingt gültige Leben, um den grenzenlosen Lebensweg, um die absolute Wirklichkeit, um den unendlichen Gott. Das ist der eigentliche Grund, warum die Kirche unserer Tage in eine so tiefe Krise geraten ist: Das selbsterfahrene Wissen um den lebendigen Gott liegt unter Bergen von Schutt und Asche begraben, weil der Mensch diesen selbstgewählten Götzen dient und sich von ihrer Herrschaft nicht frei machen will.
Gottes Zusage
Wie wächst unsere Sehnsucht nach Gott, wenn wir lieben? Indem wir uns mehr und mehr frei machen von diesen Götzen, die unser Leben beherrschen und indem wir mehr und mehr diese absolute Wirklichkeit Gottes wieder an die erste Stelle unseres Lebens stellen, ihr Raum schaffen, Platz gönnen in unserem Leben. Wir müssen zurückkehren zu diesen Minuten der Stille und des Gebetes, so dass uns die totale Wirklichkeit Gottes wieder wie eine Morgenröte vor Augen steht, verlockend, ermutigend, fordernd, kräftigend. Wenn wir den Schatz der unermesslichen Größe Gottes wieder mehr und mehr leuchten sehen im Zentrum unseres Lebens, werden wir uns aufmachen, um Ihn zu gewinnen, wir werden dann viel Banales verlassen können, leichten Herzens, um diesen Schatz zu gewinnen. Es wird uns dann nicht schwerfallen, auf manches zu verzichten, denn der großen Liebe fällt es nicht schwer, auf manche Bagatelle zu verzichten, weil ja die Liebe ein überreicher Dank und Lohn für diesen kleinen, mutigen Augenblick darstellt. Und je mehr wir uns innerlich befreien und dem Locken der absoluten Liebe folgen, umso mehr wird Gott Raum gewinnen in unserem Leben und an die erste Stelle in unserem Leben rücken. Diese absolute Liebe wird mehr und mehr unser Leben erfüllen. Nicht wie ein Kuckuck, der alles andere aus dem Nest wirft, sondern wie eine große Glut, die alles mit ihrem Licht und ihrer Wärme erfasst und erfüllt, bis alles in uns zur einen, großen Liebe wird. Wenn wir dieser Wirklichkeit und Wertfülle Gottes in uns Raum geben, werden wir nicht beraubt, werden wir nicht geplündert, nicht geängstigt, nicht ärmer, sondern vom Leben Gottes erfüllt. Wir werden dann wissen, dass dieses große Leben Gottes unser Schatz ist, unser Besitz, unsere Gemeinschaft, unser Sinn, unser Du, unsere Wahrheit, unser Alles, unser Leben. Haben wir etwas verloren, wenn wir Gott an die erste Stelle unseres Lebens stellen? Man kann nur sagen: gewonnen, gewonnen! Wir sind dann wie der Mann aus dem Evangelium (Mt 13,44), der den Schatz im Acker seines Lebens entdeckt hat. Er ging hin, und verkaufte alles andere, um diesen großen Schatz zu gewinnen. Meine lieben Freunde, haben wir doch den Mut, diesen Schatz zu suchen in der täglichen Zeit der Stille und des Gebetes. Wer sucht, der findet. Das ist die absolute Zusage Gottes.
Eine unsagbare Einheit
So werden wir Menschen des Gehorsams gegen Gott. Es ist ein Gehorsam gegenüber jener absoluten Liebe, die uns in der Zeit der Stille und des Gebetes so lockend vor Augen steht. Es ist kein harter Gehorsam, weil Gott nie hart ist. Es ist kein blinder Gehorsam, weil wir ja selber diese lockende Liebe vor Augen haben, als Sehnsucht, als innerstes Wissen, als Gewissen. Es ist kein erniedrigender Gehorsam, denn durch diesen Gehorsam erfahren wir die ergreifende Wirklichkeit Gottes, die uns erfasst und zu jenem totalen Leben führt, das Gott selber ist. In dem Maße, als wir dieser inneren Erkenntnis gehorchen, wissen wir uns ergriffen und aufgenommen in das Leben Gottes, eins mit Ihm, mehr als ein Freund, mehr als ein Partner. Es ist eine unsagbare Einheit, die Gott allein zu geben vermag. Nur wer wahrhaft Liebe erfahren hat, das Hungern und Dürsten nach Gott wirklich lebt, der weiß um diese unermessliche und einmalige Einheit: "So wie Du, Vater, in mir bist und ich in Dir, so lass sie in uns eins sein" (Joh 17,21), so sagt Jesus.
Was soll ich tun, Herr?
Wir müssen den Mut haben, all das Sinnlose zu verweigern, das uns die Welt zumutet. Ist nicht wirklich so vieles gemein in dieser Welt und trotzdem tun so viele mit? Es ist so vieles verlogen und wirkliches Unrecht und dennoch schwimmen wir mit und tun wir mit. Wir müssen uns weigern, da mitzutun. Wir werden nicht alles auf einmal bewältigen. Und wir werden Tag um Tag in diesen Stunden der Stille und des Gebetes Gott unser Problem vorlegen müssen: "Herr, wie soll ich das tun? Alle Welt geht einen verkehrten Weg, und dennoch duldest Du es nicht, dass ich ebenso tue? Wie soll ich da tun?" Und wir werden vielleicht lange fragen müssen, Monate und Jahre, ehe uns mehr und mehr der rechte Weg aufgeht. Nur wenn diese Zeit der Stille und des täglichen Gebetes ein wirkliches "Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit" ist, werden wir mehr und mehr diesen rechten Weg erfahren.
Der Herr sagt uns: "Seht, ich sende euch wie Lämmer unter Wölfe", und dieses Wort besagt: Es wird nicht einfach sein, in dieser Welt den rechten Weg zu gehen. In dem Maße, als wir es erkennen, werden wir uns weigern müssen, das Unrecht zu tun und beim Unrecht weiter mitzutun. Und je mehr wir uns weigern, je mehr wir den rechten Weg suchen, umso mehr wird Gott an die erste Stelle unseres Lebens treten und umso mehr wird jene bedingungslose Liebe in uns Raum finden und unser Leben umgestalten und wandeln. Das wird nach und nach jene große Bekehrung werden, zu der uns Jesus aufruft. Dann wird der Advent unseres Lebens Wirklichkeit werden, bis wir es deutlicher und deutlicher spüren im eigenen Leben, dass Gott gegenwärtig ist, in uns Platz findet, geboren wird. Dann wird auch in uns Weihnacht sein.
aus: Kardinal Franz König, Advent- und Weihnachtszeit. – Wien [u. a.], Veritas, 1975.