Mariazeller Matinée 1997: "In seiner Hand sind die Tiefen der Erde"
In der Liturgie der Adventzeit kommen jedes Jahr die großen Propheten des Alten Testamentes wiederholt zu Wort. Der größte unter ihnen ist, wie Sie wissen, Jesaias aus dem Lande Israel im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Um 740 vor unserer christlichen Zeitrechnung erfuhr er seine Berufung als Prophet seines Volkes. Die Leuchtkraft seiner Bilder, die Wucht seiner Sprache, hat niemand anderer später wieder erreicht. Er gehört daher heute zur Weltliteratur.
Seine Lebensgeschichte, wie die Geschichte seines Volkes, war belastet durch die Babylonische Gefangenschaft, in die nicht nur die Elite seines Volkes, sondern sehr viele Landsleute verschleppt worden waren.
Als Deutero-Jesaias erlebte er die ersten Zeichen einer Wende. Aus diesem Grund heißt es bei ihm (Kap. 9):
"Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht. Über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Man freut sich in deiner Nähe, wie man sich freut bei der Ernte, Wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird."
Und der Prophet Micha, ein späterer Zeitgenosse des Jesaias, ergänzt diese Freude: "Du Bethlehem-Effata, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll. Sein Ursprung liegt in ferner Vorzeit, in längst vergangene Tagen" (5,1).
Er wird auftreten und ihr Hirte sein in der Kraft des Herrn, im hohen Namen Jahwes, seines Gottes. Sie werden in Sicherheit leben, denn nun reicht seine Macht bis an die Grenzen der Erde.
Beide Stimmen der Freude und des Dankes aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert sind eingewurzelt im Glauben an den einen Gott, den Vater des Himmels und Schöpfer des Weltalls. In beiden Stimmen begegnet uns zum ersten Mal die klare Vorstellung eines einzigen Gottes. Es ist, wie wir heute sagen, das Weltbild des Monotheismus. Um dieses Glaubens willen befand sich das Volk Israel im Kampf, immer im Gegensatz zu seinen polytheistischen Nachbarn, mit ihrem Glauben an gute und böse Schicksalsgötter.
Die Größe und Schönheit der Welt, wie sie Jesaias erfährt, veranlasst ihn, auf die erhabene Größe Gottes hinzuweisen, in der Sprache und im Weltbild des 8. vorchristlichen Jahrhunderts: (40,12) Wir hören auch heuer wieder seine gewaltige Stimme:
"Wer misst das Meer mit der hohlen Hand?
Wer kann mit der ausgespannten Hand den Himmel vermessen?
Wer wiegt die Berge mit einer Waage und mit Gewichten die Hügel?
Wer lehrt ihn das Wissen und zeigt ihm den Weg der Erkenntnis?
Seht, die Völker sind wie ein Tropfen am Eimer, Sie gelten so viel wie ein Stäubchen auf der Waage. Ganze Inseln wiegen nicht mehr als ein Sandkorn. Alle Völker sind vor Gott wie ein Nichts, vor ihm sind sie wertlos und nichtig. Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und welches Bild an seine Stelle setzen? Weißt du es nicht, hörst du es nicht? Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf." (40,12)
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen Vertreter der modernen Naturwissenschaft und seine Vorstellung von Gott hinweisen. Es ist Albert Einstein, der als der größte Physiker des 20. Jahrhunderts gilt, mit seiner speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Er gehörte keiner kirchlichen Gemeinschaft an. In seinem letzten Aufsatz "Science and Religion" findet sich ein Satz, den ich hier in deutscher Sprache wiederholen möchte - ich zitiere: "Meine Religion besteht in meiner demütigen Bewunderung einer unbegrenzten geistigen Macht, die sich selbst in den kleinsten Dingen zeigt, die wir mit unserem gebrechlichen und schwachen Verstand erfassen können. Diese tiefe, emotionelle Überzeugung von der Anwesenheit einer geistigen Intelligenz, die sich im unbegreiflichen Universum eröffnet, bildet meine Vorstellung von Gott."
Ich meine: eine solche Vorstellung von einem Schöpfer des Weltalls ist nicht weit entfernt von jener des Propheten Jesaias. Und wie ein Echo zu einer solchen Feststellung sagte uns der Psalm 95:
"Lasst uns mit Lob seinem Angesicht nahen, vor ihm jauchzen mit Liedern. Denn der Herr ist ein großer Gott, ein großer König über allen Göttern. In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, sein sind die Gipfel der Berge. Sein ist das Meer, das er gemacht hat, das trockene Land, das seine Hände gebildet. Kommt, lasst uns niederfallen und uns vor ihm verneigen, lasst uns niederknien vor dem Herrn, unserem Schöpfer. Denn er ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde, von seiner Hand geführt."
Solche adventliche Stimmen korrigieren unsere manchmal kindliche Vorstellung von einem Gott, der wie ein Polizist über seiner Schöpfung wacht. Das Gottesbild der Propheten wie auch der modernen Naturwissenschaft atmet Größe, vermittelt tiefe Freude und Geborgenheit.